Commentaires Résumé
2023/2 Droit à l'accès

Aktensicherung für Betroffene: Die Bedeutung von Unterlagen privater Provenienz

Commentaires Résumé

Im Staatsarchiv St. Gallen meldeten sich in den letzten Jahren vermehrt Betroffene mit besonderen Lebensgeschichten. Häufig können ihre Fragen anhand staatlicher Unterlagen nur teilweise beantwortet werden. Akten privater Herkunft bilden deshalb wichtige Ergänzungen.

In einem Staatsarchiv liegt der Fokus der Überlieferungsbildung primär auf der Sicherung von Unterlagen kantonaler Behörden und Dienststellen. Die gezielte Akquise von Archivbeständen privater Provenienz erfolgt in der Regel nur ergänzend und punktuell. Zwei gesellschaftliche Debatten und deren erhebliche Auswirkungen auf den Benutzungsdienst lösten im Staatsarchiv St. Gallen in den letzten Jahren entsprechende Aktensicherungsprojekte im privaten Umfeld aus. Vor dem Hintergrund der breit angelegten Diskussion um fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen (FSZM) suchten Betroffene – leider oft vergeblich – nach Belegen zu ihrer Lebensgeschichte. Ausgelöst durch ausländische Medienberichte, die für die 1980er Jahre auf einen umfangreichen Kinderhandel zwischen Sri Lanka und mehreren europäischen Ländern, darunter auch der Schweiz, hinwiesen, meldeten sich fast zeitgleich zahlreiche Personen aus Sri Lanka, die als Kind von Schweizer Eltern adoptiert worden waren, auf ihrer Herkunftssuche beim Staatsarchiv. In beiden Fällen entwickelte sich parallel zu den Bedürfnissen der Betroffenen ein wachsendes Interesse von Öffentlichkeit und Geschichtsforschung an der historischen Aufarbeitung des Themas.

Um Betroffene von Fremdplatzierungen und Forschende zu diesem Thema in ihrer Aktensuche effizienter und effektiver unterstützen zu können, sicherte das Staatsarchiv St. Gallen im Zeitraum von 2015 bis 2022 insgesamt 21 historische Archive von Kinder- und Jugendheimen sowie Sonderschulen aus dem Gebiet des Kantons. Diese Bestände werden seither im Rahmen eines Lotteriefonds-Projekts erschlossen. Dabei handelt es sich um fast 90 Laufmeter Unterlagen, darunter rund 8000 Einzelfallakten.

Dossiers von privaten Organisationen zu Adoptionen aus dem Ausland (v.a. Sri Lanka) im Staatsarchiv St. Gallen

Ausgehend von einem ersten Forschungsbericht1, den der Kanton St. Gallen in Auftrag gegeben hatte, und als Reaktion auf den politischen Druck, der daraus entstanden war, konnten Anfang 2020 überdies 253 Adoptionsdossiers der Stiftung Adoptio übernommen werden, die fast ausschliesslich Kinder aus Sri Lanka und ihre Schweizer Adoptiveltern betreffen.

Die Stiftung Adoptio war 1982 aus dem von der Sozialarbeiterin Alice Honegger (1915-1997) gegründeten «Verein Kinder-Fürsorge Haus Seewarte» erwachsen. Honegger hatte seit den 1960er Jahren Adoptivkinder vermittelt und in ihrem Wohnhaus in Bollingen SG ein Heim für ledige Mütter und ihre Kinder geführt. Der Verein und später die Stiftung Adoptio widmeten sich schwerpunktmässig der Vermittlung von Auslandadoptionen. Sie zählten in der Schweiz zu den wichtigsten Vermittlungsstellen für Adoptivkinder aus Sri Lanka: Allein im Kanton St. Gallen wurden im Zeitraum von 1973 bis 2002 insgesamt 86 Kinder aus Sri Lanka adoptiert, viele vermittelt durch die genannte Stiftung.

Adoptionsdossiers (Bestand W 354) im Staatsarchiv St. Gallen
Staatsarchiv St. Gallen

Die 253 Dossiers der Stiftung Adoptio sind im Staatsarchiv St. Gallen, alphabetisch nach Familienname der einzelnen Adoptivfamilien geordnet, unter der Bestandessignatur W 354 zu finden. Zu einzelnen Familien, die mehrere Kinder aus Sri Lanka adoptierten, sind zwei Dossiers vorhanden. Die Akten weisen im Allgemeinen vor allem Angaben zu den zukünftigen Adoptiveltern auf. Unterlagen, welche die Kinder selbst betreffen, enthalten oft falsche oder unvollständige Informationen. Meist handelt es sich zudem um Kopien und nicht um Originalakten. Sie sind deshalb nur bedingt geeignet, Herkunftssuchenden Antworten auf ihre Fragen zu geben, widerspiegeln aber die Vorgehensweise der Adoptionsvermittlerin und sind deshalb für die Forschung wichtig.

Dokumentationsdossiers zu Auslandadoptionen im Staatsarchiv St. Gallen

Nicht zuletzt die Erfahrung mit den nur in Teilen aussagekräftigen Unterlagen der Stiftung Adoptio veranlasste das Departement des Innern des Kantons St. Gallen im Jahr 2020, unter Federführung des Amtes für Soziales, einen zweiten Forschungsbericht in Auftrag zu geben2. Dabei sollte die Adoptionspraxis von Kanton, Gemeinden und involvierten privaten Akteuren und Akteurinnen gegenüber Kindern aus Sri Lanka im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts vertieft untersucht werden. Als Forschungsgrundlagen wurden deshalb die Falldossiers sämtlicher Stellen, die auf dem Gebiet des Kantons St. Gallen mit der Prüfung und Kontrolle der Auslandadoptionen aus Sri Lanka befasst waren, digitalisiert und zu virtuellen Personendossiers zusammengeführt. Diese elektronischen Fallakten wurden dem Staatsarchiv nach Abschluss des Forschungsprojekts zur dauernden Aufbewahrung übergeben. Zusammen mit den Projektakten sind sie unter der Bestandessignatur A 644 verzeichnet und stehen nun den Betroffenen als Dokumentation der eigenen Lebensgeschichte sowie nach spezieller Einsichtsgenehmigung auch Forschenden für historische und sozialwissenschaftliche Fragestellungen zur Verfügung.

Erschliessung und Zugang zu den Adoptionsdossiers

Über diesen speziellen Fokus auf Adoptionen von Kindern aus Sri Lanka hinaus wird das Staatsarchiv St. Gallen in einem Nachfolgeprojekt ab Sommer 2023 die Einzelerschliessung sämtlicher Dossiers zu In- und Auslandadoptionen im Zeitraum zwischen 1973 und 2002 in Angriff nehmen, unabhängig vom Herkunftsland der Betroffenen. Es leistet so eine weitere wichtige Vorarbeit für allfällige künftige Forschungsvorhaben. Das Projekt dient aber selbstverständlich auch weiterhin dazu, Betroffenen rasch und kompetent Zugang zu biografischen Akten zu gewähren. Das Staatsarchiv St. Gallen erfüllt damit seinen Auftrag als Garant elementarer Rechte von Bürgerinnen und Bürgern und dient als verlässlicher Hort zur Sicherung von relevanten Quellen für die historische Forschung.

Avatar

Regula Zürcher

Dr. phil. Regula Zürcher ist Leiterin Privatarchive / Sammlungen im Staatsarchiv des Kantons St. Gallen. Sie ist zudem die, Stellvertreterin des Staatsarchivars

Avatar

Martin Jäger

lic. phil. Martin Jäger ist Leiter Überlieferungsbildung für das Behörden- und Verwaltungsarchiv im Staatsarchiv St. Gallen.

Résumé

Akten privater Provenienz bilden eine wichtige Ergänzung zur staatlichen Überlieferung. Um Betroffene mit besonderen Lebensgeschichten besser unterstützen zu können, sicherte das Staatsarchiv St. Gallen deshalb seit 2015 insgesamt 21 historische Archive von Kinder- und Jugendheimen sowie Sonderschulen. Ausserdem übernahm es 253 Dossiers zu Auslandadoptionen der Stiftung Adoptio und archiviert die im Rahmen eines Forschungsprojekts entstandenen virtuellen Adoptionsdossiers von Personen sri-lankischer Herkunft.

Les dossiers de provenance privée constituent un complément important aux archives de l'Etat. Afin de mieux soutenir les personnes concernées par des histoires de vie particulières, les Archives d'État de Saint-Gall ont donc sauvegardé depuis 2015 un total de 21 archives historiques de foyers pour enfants et adolescents ainsi que d'écoles spéciales. En outre, elles ont repris 253 dossiers d'adoption à l'étranger de la fondation Adoptio et archivé les dossiers d'adoption virtuels de personnes d'origine sri-lankaise créés dans le cadre d'un projet de recherche.