Kunden und Kommunikation in der ABD-Welt
Interview mit Prof. Dr. Robert Barth, Studienleiter des Bachelor-Studiums sowie Leiter der Vertiefung Bibliothekswissenschaft an der HTW Chur
1. Wie nehmen Sie geschäftlich das Telefon ab?
«Barth, HTW Chur» – wobei ich die Schwierigkeit habe, dass sowohl private wie geschäftliche Anrufe auf meinem iPhone zusammenlaufen. Nach diesem Interview werde ich auch den Vornamen nennen, wie es zunehmend üblich ist ...
2. Welche Veränderungen konnten Sie in den letzten Jahren in der Art und Weise, wie kommuniziert wird, feststellen? Und konkreter: Welche Veränderungen haben Sie in den Dienstleistungen festgestellt, welche einer/einem Kund/in angeboten werden? Welche Veränderungen stellen Sie in der Kommunikation der Archiv-, Bibliotheks- und Dokumentationsstellen (ABD-Stellen) mit ihren Kunden fest?
Ich kann primär für die Bibliotheken sprechen, mit denen ich am meisten Erfahrungen habe, und da stelle ich zwei Haupttrends fest:
Zum einen gehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aktiver auf die Kunden zu und sprechen sie auch an. Vereinzelt geschieht dies in der Form von «Floorwalking», wie es wohl am ausgeprägtesten in den Idea Stores, dem neuen Bibliothekstyp in London, betrieben wird. Dort sind die Mitarbeiter verpflichtet, die Benutzer anzusprechen und Hilfe anzubieten. Zudem wurden auch in der Schweiz die Informationsschalter ausgebaut und dort, wo es möglich ist, von der Ausleihe getrennt.
Zum anderen haben ABD-Stellen die Online-Kommunikation ausgebaut. In der Schweiz erfolgt dies freilich noch meist über eine einfache E-Mail-Adresse. «Ask a Librarian», wie dies z.B. englische öffentliche Bibliotheken auf ihren Websites prominent anbieten, fehlt bei uns fast ganz. Das Gleiche gilt für Chat-Möglichkeiten mit ABD-Personal, wie wir das von den USA kennen oder Chatbots, die das Personal auch von Routinefragen entlasten. Auch die Möglichkeit von Online-Tutorials, z.B. LOTSE, werden zu wenig eingesetzt.
Einen gewissen Gegentrend nehme ich bei den Telefonnummern der einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wahr: Sie werden auf Websites von Bibliotheken zunehmend «versteckt» oder ganz weggelassen. Ärgerlich empfinde ich auch Mails ohne Signatur, d.h. ohne Adressangaben des Absenders. Insgesamt ist der Ton in der Schweiz freundlicher geworden. Die ABD-Stellen haben nun mal ihr Informationsmonopol verloren und müssen sich mehr um ihre Kundschaft bemühen. Dies gilt natürlich vor allem für die Bibliotheken.
3. Stellen Sie kurz die Resultate des Seminars «kundenorientierte Bibliotheken» vor. D
ie Resultate sind im Internet abrufbar unter http://www.kundenorientiertebibliothek.ch/.
Es handelte sich um ein gemeinsames Projekt der Hochschule der Medien in Stuttgart und der HTW Chur. Wir konzentrierten uns auf die folgenden Themen:
Leistungsstandards und Servicegarantien. Dazu wurde zuerst das Dienstleistungsangebot am Beispiel von neun öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken in Deutschland und der Schweiz analysiert und anschliessend mit Experteninterviews abgeklärt, wie weit diese Angebote durch interne und externe Leistungsstandards definiert sind. Vereinfacht gesagt: Wie sind Umfang, Zeitaufwand oder Lieferbedingungen einer Dienstleistung intern und nach aussen definiert? Die Studierenden kamen zu folgendem Ergebnis: «Interne Leistungsstandards sind im Bibliothekswesen in Deutschland und in der Schweiz ein anerkanntes und auch genutztes Instrument, um Arbeitsprozesse transparent und messbar zu machen. Insbesondere in kleineren Bibliotheken sind diese häufig nicht schriftlich festgehalten. Bei externen Leistungsstandards zeigt sich jedoch bereits eine gewisse Zurückhaltung, da diese den Handlungsspielraum einschränken. (...) Externe Leistungsstandards eignen sich beispielsweise für Magazinlieferungen oder bei Beantwortungsfristen von E-Mail-Anfragen. Servicegarantien stossen bei den Fachleuten auf beinahe vollständige Ablehnung ...» Dies gilt namentlich auch für Kompensationen (Wiedergutmachungen) bei nicht erfüllten Standards, wie das die Privatwirtschaft kennt.
Kundenbindung und Kundenrückgewinnung: 14 wissenschaftliche und öffentliche Bibliotheken aus Deutschland und der Schweiz gaben uns Auskunft über ihre entsprechenden Instrumente. Dazu gehörte auch das Beschwerdemanagement. ABD-Institutionen – und besonders die Bibliotheken – haben den Vorteil, dass eine Benutzerkarte für fast alle Dienstleistungen notwendig ist. Sie verfügen also über die Kundendaten! Das Dialogmarketing (z.B. Newsletter, Neuerscheinungslisten, RSS-Feeds, Social Web) würde ihnen damit leicht fallen, wird aber nur teilweise genutzt. Die meisten Bibliotheken pflegen immerhin ein Beschwerdemanagement. Eindeutig zu wenig gepflegt wird die Kundenrückgewinnung!
Mystery Shopping (auch Silent Shopping) dient zur Überprüfung der Qualität der Dienstleistungen eines Betriebs. Testbesucher bewerten die Institution im Rahmen von Anfragen via Telefon, E-Mail und persönliche Besuche. Dazu gehören dank einem vorher festgelegten Drehbuch und Standardisierung der Fragen gerade auch «weiche» Faktoren, wie Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft in der Kommunikation. Erwartet wird eine hohe und gleichbleibende Servicequalität, unabhängig von den jeweiligen Mitarbeitern, die sie ausführen. In je zwei deutschen und schweizerischen öffentlichen Bibliotheken wurden entsprechende Tests durchgeführt. Die Ergebnisse sind allerdings anonymisiert.
Count the Traffic schliesslich dient nicht der Kundenkommunikation. Es handelt sich um ein neueres Instrument zur Beobachtung der Bibliotheksnutzung. Also z.B.: Wo halten sich die Benutzerinnen und Benutzer auf ? Was tun sie in den jeweiligen Räumen? Welche Hilfsmittel werden verwendet? Findet Interaktion statt?
4. Welche Möglichkeiten hat eine ABD-Stelle, um ihr Verbesserungspotenzial in der Kundenkommunikation zu eruieren?
Vorab gilt es, sich ein möglichst objektives Bild von den eigenen Qualitäten zu beschaffen. Das kann über Nutzer- und Nichtmehr-Nutzerbefragungen geschehen. Es gibt darüber hinaus Instrumente, mit denen man die Qualität auch der Kundenkommunikation messen kann; Silent Shopping wurde schon erwähnt. Dann sind es v. a. angelsächsische Instrumente, wie Servqual und davon spezifisch für Bibliotheken abgeleitet: Libqual. Damit werden gerade auch Qualitäten wie Verlässlichkeit, Kompetenz, Empathie, Freundlichkeit gemessen. Selbstverständlich gehört ein kontinuierliches Beschwerdemanagement dazu. Beschwerden und Anregungen sollen stimuliert und als Chance wahrgenommen werden.
5. Was können die Schweizer und die Deutschen ABD-Stellen voneinander lernen?
Ich schätze das Niveau der ABD-Stellen in beiden Ländern etwa gleich ein. Lernen können wir in beiden Ländern vor allem aus der angelsächsischen Welt und von der Privatwirtschaft.
6. Welches Potenzial sehen Sie in der Schweiz bei den Bibliotheken, Dokumentationsstellen und Archiven hinsichtlich Kundenkommunikation?
Es handelt sich um einen Prozess, ein dauerndes Ringen um Verbesserungen. Die Kunden sind anspruchsvoller geworden – und sicher auch ungeduldiger! Sie vergleichen uns mit der Privatwirtschaft. Leiter von öffentlichen Bibliotheken sagen mir hier und da, dass sie gute Erfahrungen mit Buchhändlerinnen machen, da diese durch ihre Ausbildung und Praxis grundsätzlich kundenorientierter seien als das traditionelle Bibliothekspersonal. Wir können auf jeden Fall vom Buchhandel lernen – freilich mit dem Unterschied, dass wir nicht verkaufen müssen, sondern Hilfe zur Selbsthilfe bieten wollen. Ich finde aber, dass wir von professioneller Verkaufsberatung aus dem Detailhandel lernen können und z.B. einem Benutzungsteam einer ABD- Stelle auch eine entsprechende Schulung anbieten sollten.
7. Was geben Sie Studenten als zukünftige Fachpersonen mit auf den beruflichen Weg bezüglich Kundenkommunikation?
Mit der Studienreform von 2010 haben wir genau diesen Bereich ausgebaut. Bewusst haben wir in unserem Team mit Prof. Urs Dahinden auch einen Soziologen. Innerhalb des neuen Fachs «Sozialpsychologie und Benutzerberatung» sind vermehrt auch praktische Aspekte enthalten, namentlich:
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Kenntnisse von Leitfäden und praktischen Anforderungen an die Benutzerberatung
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Kompetenz in der Gesprächsführung: Ablauf und Gestaltung einer Benutzerberatung (Übungen, Rollenspiele)
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Umgang mit Konfliktsituationen
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Qualitätsmanagement in der Benutzerberatung
8. Fallen Ihnen spontan gute Beispiele von Kundenkommunikation ein, sei es in ABD-Stellen oder auch in der Privatwirtschaft, welche sich auf unser Berufsumfeld übertragen liessen?
Lassen Sie mich anders antworten: Zuerst einmal dürfen wir uns selber der Vorgaben erinnern, die wir uns in der Berufsethik gestellt haben. «Bibliothek Information Schweiz (BIS) fordert von seinen Mitgliedern: Die Bibliothekarin und der Bibliothekar stehen im Dienste der Benutzerinnen und Benutzer ihrer Institution und gehen auf ihre Bedürfnisse ein. (...) Die Bibliothekarin und der Bibliothekar nehmen ihre persönliche Verantwortung gegenüber allen Benutzerinnen und Benutzern wahr und zeigen dies durch Einsatzfreudigkeit, Flexibilität und Effizienz.» (http://www.bis.info/fachthemen/berufsethik/menu-id-83.html)
Und dann gilt immer noch die folgende goldene Regel von Harry Forsha für alle Dienstleister:
People want what they want when they want it. They don’t want something else, they don’t want less than they want, and they certainly don’t want it at some other time.
9. Und zum Schluss ein (gerne auch gewagter) Ausblick in die nähere Zukunft: Welche Trends sowie Herausforderungen können Sie ausmachen, welche in den kommenden 10 bis 20 Jahren auf die ABD-Stellen in der Schweiz zukommen werden?
Ein sehr weites Feld! Am einfachsten haben es vielleicht noch die Archive. Sie müssen ihre raison d’être nicht allein von der Benutzung ableiten, sondern haben normalerweise eine zentrale Funktion auch im Dienste ihres Trägers.
Natürlich steht im Zentrum die digitale Form jeglicher Art von Information. (Und damit auch die Frage, was wir retrospektiv digitalisieren können und was vom nicht digitalen Bestand von kommenden Generationen überhaupt noch wahrgenommen wird.) Die Digitalisierung hat zur Ubiquität geführt. In Kürze werden mehr Informationen auf mobile Geräte als auf fest installierte verteilt werden. Die ABD-Institutionen und besonders die Bibliotheken haben ihr «Informationsmonopol» schon längst verloren.
Vor allem Bibliotheken müssen sich neu erfinden. Zentral dabei ist für mich für die Zukunft sowohl von wissenschaftlichen wie auch öffentlichen Bibliotheken der Begriff des «Dritten Orts»: Die Bibliothek als öffentlicher Raum als Ort des Verweilens zwischen Arbeit/Ausbildung einerseits und dem Zuhause andererseits: zum Lernen, Entspannen, Spielen, zur Unterhaltung und Kommunikation. Dass dies funktioniert, zeigen z.B. die innovativen holländischen Bibliotheken. Ein gutes Beispiel dafür ist auch die neue Bibliothek der EPF Lausanne. Ich bin aber für die Bibliotheken absolut optimistisch: In den 30 Jahren meiner Berufskarriere wurden die Bibliotheken immer wieder totgeredet. Doch noch nie wurden so viele Bibliotheksgebäude errichtet oder erneuert wie in den letzten zehn Jahren. Und das gilt für alle Typen! Allerdings sind die Herausforderungen in der Zukunft sicher grösser und grundlegender, als dies in der Vergangenheit der Fall war.
Interview geführt von Dunja Böcher, arbido-Redaktion
Résumé
- Français
Dans cette interview, Robert Barth, professeur à la HTW Coire, décrit les changements constatés ces dernières années dans la manière de communiquer avec la clientèle dans le monde ABD. Les bibliothèques qui se veulent «orientées vers la clientèle» doivent se pencher sur les thèmes incontournables que sont les standards des prestations et la garantie des services, le lien avec le client et la fidélisation de ce dernier, sans oublier l’indispensable observation de l’utilisation de leur établissement.
Quelles possibilités a un centre ABD d’identifier son potentiel d’amélioration en matière de communication avec sa clientèle? Qu’est-ce que les centres ABD suisses et allemands peuvent-ils apprendre les uns des autres? Quel est, en Suisse, le potentiel des bibliothèques, des centres de documentation et des archives en matière de communication avec leur clientèle? Et, enfin, quelles sont les tendances qui se dessinent et comment relever les futurs défis qui attendent les centres ABD ces 10 à 20 prochaines années, en Suisse?
Selon Robert Barth, ce sont peut-être les archives qui s’en tireront le mieux, car elles ne tirent pas leur raison d’être exclusivement de leur utilisation en soi, puisqu’elles sont également au service des instances qui en sont responsables. La numérisation se trouve évidemment au cœur de tous les types d’information. Elle a introduit l’ubiquité. Autrement dit, les informations sont de plus en plus demandées et communiquées via des appareils mobiles. Les institutions ABD, en particulier les bibliothèques, ont perdu depuis longtemps leur «monopole de l’information». Ces dernières doivent donc se réinventer. Il est dès lors primordial que les bibliothèques, qu’elles soient scientifiques ou publiques, deviennent des lieux accueillants et conviviaux, où les usagers aiment s’y rendre et y rester: pour apprendre, se détendre, jouer, s’entretenir et communiquer.