Im «Stiftehimmel» lernt’s sich gut
In der Winterthurer Fachhochschulbibliothek ist die Industriegeschichte der Stadt greifbar. Mit ihrer rund um die Uhr geöffneten Lernlandschaft ist sie aber ganz den Prinzipien der modernen Bibliothek verpflichtet – und nicht zuletzt ist sie Treiber und Sinnbild für den Wandel Winterthurs von der Industrie- zur Bildungsstadt.
Ein Oktobersamstag wie aus der Klischeesammlung: Grau, die Wolken hängen zum Greifen tief, der Regen schafft es mithilfe des unvorhersehbaren Windes unter jeden Schirm. Ins Haus Tista Murk aber hat das Herbstgrau keinen Zutritt. Luftig und hell präsentiert sich die Bibliothek der ZHAW in Winterthur, die riesige Fensterfront der ehemaligen Industriehalle scheint das Licht zu potenzieren, der Raum zum Denken ist weit. Das Bibliotheksinnere verströmt diese Air de Grandeur, die Industriebauten zu eigen ist.
Wer an diesem regnerischen Herbsttag so eingenommen ist vom alten Industriecharme, sind die Infoleute Zentralschweiz, eine bunt gemischte Gruppe von Bibliothekarinnen, Archivaren und Dokumentalisten auf Bildungsbesuch. Von Kathrin Rutishauser, Leiterin des Bereichs Integrierte Medienbearbeitung, werden sie durch die Fachhochschulbibliothek geführt – mit über 6000 Quadratmetern ist es die flächenmässig grösste der Deutschschweiz. Im Januar 2015 wurde sie auf dem ehemaligen Industrieareal des Sulzer-Konzerns eröffnet. Die langfristige Entwicklungsplanung der Zürcher Hochschule der angewandten Wissenschaften (ZHAW) sieht Winterthur als Hauptstandort vor. Parallel wurde und wird in Winterthur das Sulzerareal neu konzipiert und gestaltet. Die Bibliothek ist nicht wie anderswo üblich Teil eines Hochschulgebäudes, sondern steht eigenständig. So ist sie ein identitätsstiftendes Symbol für die Hochschule und stellt gleichzeitig als Leuchtturm der stadtplanerischen Vision den Konvergenzpunkt von Raumplanung und Bildungsstrategie dar.
Von der Bronzegiesserei zum aufstrebenden Stadtteil
Unweit der heutigen Bibliothek, an klug gewählter Lage zwischen den Bahngeleisen (der Bahnhof Winterthur war noch nicht gebaut) und der nach Zürich führenden Strasse, hatten die Gebrüder Sulzer 1834 die erste Bronzegiesserei erstellt. Sie läutete eine rund 150 Jahre dauernden Industriegeschichte ein. Lag das Gelände im 19. Jahrhundert am Stadtrand, befindet es sich heute mittendrin; 20 ha – etwa dieselbe Fläche wie die Winterthurer Altstadt –, wo in den 1960er-Jahren 14’000 Menschen arbeiteten. Doch die 1980er setzten Sulzer zu, der Konzern restrukturierte sich und gab Produktionsstandorte auf, 1988 das Gründungsgelände. Es wurde zum Entsorgungsproblem. Eine riesige Industriebrache mitten in der Stadt – die Stadtplaner waren gefordert. 1989 stellte Winterthur eine erste Projektstudie für den neuen Stadtteil vor. Wie so üblich in der Schweiz brauchte es mehrere Anläufe, Geduld und zahlreiche Kompromisse, doch heute gilt das Sulzerareal generell als vorbildlich für die Neunutzung eines Industrieareals, bei dem der alten Bausubstanz Rechnung getragen und der industriell geprägten Identität Respekt entgegengebracht wurde, ohne ins Museale zu verfallen. Da und dort präsentiert sich das Quartier zwar steril und still, doch gilt die Durchmischung der Nutzflächen von Arbeit, Freizeit, Einkaufen und Bildung als durchaus gelungen.
Die ZHAW im ehemaligen Industrieareal
Für die Bildung ist im Sulzerareal die Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW zuständig. Sie umfasst acht Departemente an drei Standorten: Life Sciences und Facility Management in Wädenswil, angewandte Psychologie und Soziale Arbeit in Zürich und in Winterthur angewandte Linguistik, Architektur, Engineering, Gestaltung und Bauingernieurwesen, Gesundheit sowie Management und Recht. Mit rund 10’000 immatrikulierten Studierenden, circa 5000 Weiterbildungsteilnehmenden und mehr als 2000 Mitarbeitenden ist Winterthur der grösste Standort, wiederum verteilt auf die drei Adressen Sulzerareal südlich des Bahnhofes, St. Georgen nördlich davon und Campus Technikumsstrasse.
Die Fachhochschule ist seit ihrer Gründung 2007 – damals schlossen sich vier Hochschulen zusammen – stetig gewachsen. 2012 gab der Kanton Zürich bekannt, bis 2025 500 Millionen Franken in der Winterthurer Standort zu investieren, den Hauptharst in den Teilstandort Sulzerareal. Darum war es nur einleuchtend, statt fünf separaten Departementsbibliotheken eine zentrale Hochschulbibliothek zu führen. Einen Mietvertrag für die Halle 87, damals bekannt als City-Halle und genutzt für Musical-Aufführungen, hatte der Regierungsrats Ende 2011 mit der Grundbesitzerin Implenia abgeschlossen. Die Eröffnung der Bibliothek zum Semesterbeginn 2015 war der erste sichtbare Meilenstein auf dem Weg zum ZHAW-Hochschulzentrum auf dem Sulzerareal.
Der Weg dorthin hielt nicht zuletzt für die Mitarbeitenden massive Veränderungen bereit. In mehreren Departementsbibliotheken, teilweise One Person Libraries, wurde zuvor nach dem Prinzip «alle machen alles» gearbeitet. Für die zentrale Bibliothek wurde dann ein grosses, strukturiertes Team mit Arbeitsteilung gebildet. Dieser Transformationsprozess war aber feinfühlig geplant und bei der Teameinteilung wurde nicht nur auf die Kompetenzen der Einzelnen geachtet, sondern auch auf individuelle Wünsche eingegangen. 48 Personen arbeiten heute in der Bibliothek inklusive acht studentische Mitarbeitende, die sich unter anderem um das Versorgen der Medien kümmern.
Bibliothek mit Industriecharakter
Der imposante Bau mit der auffälligen roten Eternitfassade und grossflächigen Verglasungen, in dem heute Informationen gesammelt und genutzt werden, wurde in den Jahren 1930/31 vom Schweizer Architekten Lebrecht Völki als Rohrschlosserei für Sulzer erstellt. Das oberste der drei Geschosse nutzte die Firma für die konzerneigene Lehrlingsausbildung. So mancher Maschinenschlosser und Metallbauer erinnert sich an seine Ausbildungszeit im sogenannten Lehrlingshimmel.
Mit Verständnis für die Industriearchitektur und innerhalb des vom Denkmalschutz gesetzten Rahmens transformierte die P&P Architekten AG ab 2012 die ehemalige Fertigungshalle in eine moderne Hochschulbibliothek. Sie behielten das ursprüngliche Tragwerk bei – die Stützen- und Trägerkonstruktion aus genietetem Stahl, unterstützt von Deckenkränen und Lastenhängevorrichtungen versprühen Industrieflair – und verdichteten den Innenraum. Das Besondere: Die neuen Einbauten sind rückbaubar! Und das sind nicht wenige, denn die erdgeschossige elf Meter (!) hohe Halle erlaubte, in Teilbereichen zwei Zwischenetagen einzuziehen. Diese sind losgelöst von der Innenfassade und beherbergen Bücherregalen und ringsum verteilte Arbeitsplätzen.
Im ersten Obergeschoss finden sich Hörsäle und Gruppenräume, im Lehrlingshimmel im zweiten Obergeschoss entstand unter den grosszügigen Oberlichtverglasungen die Lernlandschaft für die Studierenden.
Die ZHAW-Bibliothek wurde als moderne Servicebibliothek konzipiert, wo sich Analoges mit Digitalem vernetzt. So sind zum Beispiel die 500 laufenden Print-Zeitschriften nicht ausleihbar, nicht einmal die älteren Ausgaben. Dafür stehen den Nutzenden sechs Buchscanner zur Verfügung. USB-Stick rein, gewünschte Seiten scannen, damit arbeiten. Kopiergeräte gibt es – abgesehen von zwei Ausnahmen, für den Notfall sozusagen – keine mehr. Beschwerden gab es keine, die Buchscanner «wurden sehr gut angenommen», bestätigt Kathrin Rutishauser.
Ausgeliehen werden gedruckte Bücher aber nach wie vor. RFID sei Dank, ist das in Winterthur sogar ausserhalb der Bibliotheksöffnungszeiten möglich. Beim Eingangsbereich steht der rund um die Uhr zugängliche Abholautomat. «Eigentlich eine super Idee, aber...», deutet Kathrin Rutishauser den schwierigen Charakter des Geräts an. Leider bereite er des Öfteren Probleme, und prompt braucht es bei unserer Führung zwei Anläufe, bis der Automat die reservierten Bücher ausspuckt. Weil er jedes Medium einzeln ausgibt, ist er nichts für Eilige. Ein Grund für die Fehleranfälligkeit ist die komplexe Informatik; der Automat ist an die Kataloge und Bibliothekssysteme angebunden. Andererseits ist eine aufwendige Mechanik darin versteckt, und ab und zu streikt eines der Ladegitter oder verkeilt sich ein Buch. Dazu kommen gewisse Einschränkungen. So können nur Medien aus dem eigenen Bestand, nicht aber von anderen Nebis-Verbundbibliotheken in den den Automaten gefüllt und somit dort abgeholt werden. Bestellt ein Kunde sechs Medien, darunter eines aus einer anderen Bibliothek, muss er fünf am Automaten abholen, für das sechste aber dennoch an die Theke. Es sind also nach wie vor zwei Abholorte notwendig, was für die Kundschaft schwierig zu verstehen ist. Doch wie Kathrin Rutishauser beobachtet, haben Kunden «erstaunlich viel Geduld mit dem Automaten; deutlich mehr als mit den menschlichen Mitarbeitenden an der Theke.»
Lernen rund um die Uhr im «Stiftehimmel»
Der «Stiftehimmel» ist die ehemalige Lehrwerkstätte von Sulzer und heute die Lernlandschaft. Diese ist für ZHAW-Angehörige 24 Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche zugänglich. Externe haben während der Bibliotheksöffnungszeiten Zutritt. Dasselbe gilt für die Cafeteria im Erdgeschoss.
Wie der Name «Lernlandschaft» suggeriert, ist der grosse Dachraum in verschiedene Bereiche unterteilt. An diesem Samstag sind die verschiebbaren Tische hinten den mobilen Stellwänden alle besetzt, die hohen Tische mit Barhockern wie auch die Sesselgruppen hingegen leer. Dafür sind die Gruppenräume inklusive Präsentationstechnik alle voll, ebenso die Einzelkabäuschen, Carrels genannt, für das extra-konzentrierte Arbeiten. Die Einzelarbeitsplätze mit Leuchte und Steckdosen gibt es wahlweise hinter niedrigen oder hohen Trennwänden. Sie sind ebenfalls gut besetzt. An bester Lage im Raum stehen zudem fünf Récamieren inklusive schützender Plastikmatte am Fussende, die sich für ein energieerneuerndes Schläfchen anbieten
Das Raumkonzept unterteilt den Lehrlingshimmel in zwei Bereiche: Einen, wo leise Kommunikation erlaubt und damit Teamarbeit möglich ist, einen anderen für stilles Lernen. Getrennt werden sei durch einen Bereich für Pausen. Beim Augenschein an diesem Samstagvormittag aber will die Mehrheit der zahlreichen Anwesenden nichts weiter als konzentriert arbeiten, egal wo sie sitzen. Kathrin Rutishauser bestätigt: «Die Erfahrung zeigt: Die Studierenden wolle Ruhe haben.»
Ein Ort zum Lernen und Arbeiten, der rund um die Uhr geöffnet ist, bieten nicht viele Bibliotheken in der Schweiz an. Von den Studierenden wird das Angebot offensichtlich geschätzt. Für die Bibliothek hält sich der Aufwand in Grenzen, denn Aufsicht oder Videoüberwachung gibt es nicht, lediglich ein Mitarbeiter einer Security-Firma schaut ein- bis zweimal pro Nacht vorbei. Missliche Erfahrungen? Praktisch keine. Einziges Problem: der Abfall. Es scheint schlicht zuviel anzufallen, so dass die Abfallkübel an ihre Kapazitätsgrenzen stossen. Und die Toiletten sehen bei grossem Ansturm nicht immer proper aus.
Der Lift konnte zuvor nur mit einem Mitarbeiterbadge genutzt werden, seit kurzer Zeit steht er für alle offen – wie es die Barrierefreiheit gebietet. Somit müssen die Studierenden nicht mehr zu Fuss ins zweite Obergeschoss steigen. Bleibt zu sehen, ob Mobiliar abhandenkommt, bislang aber verhalten sich alle vorbildlich, wie Kathrin Rutishauser bestätigt. Dennoch dürfte die Videoüberwachung in absehbarer Zeit eingeführt werden. Sie ist ein kleiner Tribut, um grösstmögliche Zugänglichkeit zu garantieren. Denn an der ZHAW herrscht eine Philosophie der offenen Räume, erklärt Rutishauser. Das gilt auch für Hörsäle. So sind die zehn Vorlesungsräume im ersten Obergeschoss Verbindungsglied und Erweiterung von Bibliothek darunter und Lernlandschaft darüber. In diesem intermediären Geschoss finden Ruhesuchende zudem einen Raum der Stille. Schlicht, in gedeckten Farbtönen gehalten, ist dieser überkonfessionelle Ort der Einkehr eine Insel der Ruhe.
Laut ist es an diesem Oktobersamstag nicht – schaffig aber sehr wohl. Obwohl das Semester noch nicht alt und die Prüfungssession noch weit weg ist, sind Bibliothek und Lernlandschaft sehr gut besucht. Während die Studierenden zwischen den Bücherregalen gleichsam verschwinden, ist im ehemaligen Lehrlings- und heutigen Lernhimmel die geistige Energie praktisch mit den Händen greifbar. Der Erfolg zeigt, dass solche Angebote genutzt und geschätzt werden. Moderne Bibliotheken bieten mehr als Medien. Die ZHAW-Bibliothek auf dem Winterthurer Sulzerareal zeigt, wie attraktiv das sein kann.
Tista Murk
Die ZHAW-Bibliothek Winterthur befindet sich in der ehemaligen Produktionshalle Nr. 87 des Sulzer-Konzers. In Hommage an den Bünder Journalisten, Radiomann und Schriftsteller Tista Murk (1915 – 1922) wurde diese nach ihm benannt. Murk trug durch sein Engagement für rätoromanische Literatur und (Sprach-)Kultur massgeblich dazu ein, ein romanisches Selbstbewusstsein auszubilden. Er war 1946 Mitbegründer der rätoromanischen Schriftstellervereinigung, und als Leiter Programmstudio zeichnete er für die ersten rätoromanischen Sendungen verantwortlich. Doch Tista Murk war auch Bibliothekar. Von 1946 bis 1958 an der Kantonsbibliothek in Chur, und ab 1969 wirkte der visionäre Denker als Direktor der Schweizerischen Volksbibliothek in Bern, heute bekannt als Bibliomedia.
Mehr zu Tista Murk im e-HLS.
Infoleute Zentralschweiz
Die Infoleute Zentralschweiz sind eine lose Gruppierung von Personen, die im in informationswissenschaftlichen Berufsfeldern tätig sind oder waren; in Archiven, Bibliotheken oder Dokumentationsstellen. Sie schätzen den ungezwungenen Kontakt und Austausch über Institutionsgrenzen hinaus. Ohne Vereinsstrukturen, aber mit Elan organisieren Freiwillige jeweils regelmässige Treffen mit Nachtessen, Bibliotheksbesichtigungen oder Ausflüge. Derzeit engagieren sich drei Frauen dafür, dass diese Anlässe zustande kommen: Regula Egger (ZHB Luzern), Barbara Kostezer (Bibliothek Zug) und Gaby Mattmatt (Bibliothek Zug ab 1. Januar 2019). Die Einladungen werden jeweils per E-Mail verschickt, um Anmeldung wird gebeten. Es ist nicht zwingend, in der Zentralschweiz zu wohnen oder zu arbeiten: Willkommen ist jede und jeder! Sie möchten auf den E-Mail-Verteiler, um über die nächsten Aktivitäten der Infoleute Zentralschweiz informiert zu werden? Senden sie eine Nachricht an Regula Egger.