Hat die Informationswissenschaft eine Zukunft?
Willi Bredemeier, Herausgeber und Eigentümer von Open Password Online im deutschen Hattingen, hat als langjähriger Beobachter der Online-Datenbankszene Deutschlands einen Sammelband bereits erfolgter Veröffentlichungen und neuer Beiträge zusammengestellt, der sich den Zukunftsperspektiven der deutschsprachigen Informationswissenschaft widmen will.
Der Band wurde vom Herausgeber in sechs Teile strukturiert:
Im ersten Teil ist eine Debatte in «Open Password» sowie ein Diskussionsverlauf einer Podiumsdiskussion anlässlich einer ISI-Tagung wiedergegeben. Dem Leser, der weder «Open Password» verfolgt, noch an der besagten ISI-Tagung teilnahm, erschliesst sich der Kontext der Debatte nur sehr unvollkommen, da die Texte und die jeweiligen Bezüge der Autoren dazu im Band nicht publiziert wurden.
Ein zweiter Teil des Buches befasst sich mit der grundsätzlichen Kritik an der deutschsprachigen Informationswissenschaft. Dies geschieht in insgesamt fünf Beiträgen durch Winfried Gödert und Bernd Jörs. Alternativen werden nur ansatzweise formuliert. Andere Stimmen der Branche fehlen.
In einem dritten Teil sprechen sich die Autoren mehrerer Beiträge zum Bezug ihrer Lehre und Forschungstätigkeit zur Informationswissenschaft aus. Im Beitrag von Christian Schlögl (Universität Graz), wird der Bereich der Informationswissenschaft näher umrissen und die Zukunftsperspektiven des Fachgebiets aus seiner Sicht kommentiert. Walther Umstätter (†, Humbold-Universität Berlin) antwortet fundiert dem Unternehmer Prof. Karl Venker (InnOpera, Hochhausen) auf einen relativ freihändig formulierten Beitrag zur Zukunftsperspektive der Informationswissenschaft. Der Beitrag von Hans-Christoph Hobohm (Fachhochschule Potsdam) wirft einen Blick auf andere Fachgebiete, die er als Orientierungshilfen für das eigene Gebiet sieht. Wichtig ist der Hinweis auf englischsprachige Fachliteratur. Im Beitrag von Wolfgang Stock (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) gibt es einen Faktenfehler1: An Schweizer Universitäten hat es nie einen ordentlichen informationswissenschaftlichen Stuhl gegeben.
Im Buch wird in einem Beitrag darauf hingewiesen, dass die deutschsprachige Informationswissenschaft relativ theoriefrei sei oder sich noch auf veraltete deutschsprachige Grunddefinitionen stütze. Dort wo dies der Fall sein sollte, könnte man sich entweder auf anerkannte angelsächsische Theorien wie etwa die von Michael Buckland stützen oder neue Erkenntnisse und Überlegungen wie etwa in den Publikationen von Luciano Floridi heranziehen, sofern die deutschsprachige Informationswissenschaft hier eine Lücke aufweist. Eine löbliche Ausnahme diesbezüglich bildet der Beitrag von Hans-Christoph Hobohm. Verweise der Autoren auf französischsprachige Werke oder gar skandinavische Publikationen in englischer Sprache wären zu zitieren und in der Bibliografie zu nennen gewesen.
Wenn der Herausgeber fragt, wieso die Probleme der Fachinformation nicht «revitalisiert» werden2, zeugt dies davon, dass man nur deutsche Publikationen im Blick hat. So ist in Frankreich im letzten Jahr eine ausgezeichnete Publikation dazu erschienen, die mehr Beachtung in Deutschland finden sollte.3
Der vierte Teil des Bandes befasst sich mit den wissenschaftlichen Bibliotheken und fällt mit zwei Beiträgen prägnant kurz aus. Zum einen steuert Dietrich Nelle als interimistischer Leiter der Bibliothek ZB Med in Köln einen Beitrag über die Zukunft wissenschaftlicher Bibliotheken in Deutschland bei, zum anderen gibt es einen Beitrag von jungen Nachwuchskräften zur Transformation von wissensbasierten Informationsflüssen in wissenschaftlichen Bibliotheken. Hier gewinnt die Publikation an Profil, da ein gestandener Problemlöser und auch junge Nachwuchskräfte zu Wort kommen.
In einem fünften Teil wird die informationswissenschaftliche Lehre einiger KIBA-Mitglieder4vorgestellt. Unbestritten ist, dass sich in den Fachhochschulen der deutschsprachigen Länder die informationswissenschaftliche Ausbildung gut etabliert hat. Bei den Beiträgen fehlen allerdings die Fachhochschulen Köln und Potsdam, die reformierten Studiengänge der TH Köln wie auch neue Angebotsformen wie das Kontaktstudium der HdM Stuttgart bleiben aussen vor. Das zweisprachige Studium an der HEG Carouge wäre auch einen Beitrag wert gewesen.
In einem sechsten Teil werden exemplarisch einige Gebiete informationswissenschaftlicher Forschung aus Deutschland vorgestellt. Es fällt auf, wie sehr sich die publizierenden Wissenschaftler sich hier auf ihr Spezialgebiet zurückziehen und bei einigen Beiträgen mutet es etwas gewagt an, dieses Forschungsprojekt gleich der Informationswissenschaft zuzuschlagen.
Ein Fazit
Die von Willi Bredemeier angesprochene «Krise» der deutschsprachigen Informationswissenschaft5 besteht schon seit dem Wegfall der Förderung des IuD-Programms durch die deutsche Bundesregierung (1974 – 1977). Seither sind die Schwächen der deutschsprachigen Informationswissenschaft immer deutlicher geworden. Die Abwicklung der Informationswissenschaften als eigenständige Studienrichtungen an einigen deutschen Universitäten ist nur ein Zeichen dieser Krise. Wenn im Buch geschrieben wird, dass sich ja die Informationswissenschaft an den Fachhochschulen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz bestens etabliert hat, dann stellt sich die Frage, woher denn der künftige Dozentennachwuchs kommen soll, der die Arbeit an den Fachhochschulen weiterführen soll und wo all die Absolventen der Informationswissenschaft unterkommen sollen, wo die Disziplin, gemäss der Publikation, im deutschsprachigen Raum sich in einem Umbruch befinden soll?
Bredemeier Willi (Hrsg.), Zukunft der Informationswissenschaften: Hat die Informationswissenschaft eine Zukunft?, Simon Verlag für Bibliothekswissen, Berlin, 2019.
- 1 Wolfgang G. Stock, Informationswissenschaft und Digitalisierung, S. 104 in: W. Bredemeier, Zukunft der Informationswissenschaft – Hat die die Informationswissenschaft eine Zukunft? Berlin, 2019.
- 2 W. Bredemeier, Zukunft der Informationswissenschaft, Berlin, 2019, S. 39.
- 3 Veronique Mesguich, Rechercher l’information stratégique sur le web, Louvain-la-Neuve, 2018.
- 4 Konferenz der informations- und bibliothekswissenschaftlichen Ausbildungs- und Studiengänge (KIBA) ist im Deutschen Bibliotheksverband (dbv) als „Sektion 7“ und in der Deutschen Gesellschaft für Informationswissenschaft und Informationspraxis (DGI) als Ausbildungssektion eingegliedert.
- 5 W. Bredemeier, Zukunft der Informationswissenschaft, Berlin, 2019, S.10.