Alarm, Alarm, die Roboter kommen!
Es war im Sommer 2015, als ich mir überlegte, mit welchen Worten ich den I+D-Lernenden am LAPéro zu ihrem Lehrabschluss gratuliere. Dieser Anlass wird jeweils gebührend gefeiert, denn das eidgenössische Fähigkeitszeugnis ist nach wie vor ein wichtiger, erster Meilenstein im Berufsleben. Bei solchen Feiern geht’s rückblickend oft darum, wie streng die Lehrjahre waren – eben keine Herrenjahre –, aber grundsätzlich lässt man den Blick gerne in die Zukunft schweifen. Einer rosa gefärbten Zukunft, zu der sich jetzt mit dem EFZ die Türe öffnet.
Am Morgen des LAPéro erhielt ich von einem Freund das Kundenmagazin der Raiffeisenbanken mit dem Hinweis, dass die Bank nicht gerade pfleglich mit unserem Beruf umgehe. Es ging im Magazin um die Arbeitswelt von morgen, die «spannend, selbstbestimmt, digital» sein wird. Auf Seite 7 war eine kleine Zusammenstellung von Zukunftsvisionen - 3D-Drucker, selbstfahrende Autos oder Paket verteilende Drohnen -, die heute bereits zum Teil verwirklicht sind. Auf Seite 7 war aber auch eine Auflistung von je acht Berufen mit und ohne Zukunft. Betitelt mit «Top» und «Flop». Und was stach unter den Berufen ohne Zukunft hervor? Bibliothekar! Ausgerechnet. Und das am Tag der Lehrabschlussfeier.
Die Oxford Studie
Bibliothekar – ein Beruf ohne Zukunft, ein Flop. Es half nicht sehr viel, dass neben dem Bibliothekar auch dem Koch und dem Velomechaniker die Zukunft abgesprochen wurde. Wie die Liste zustande kam und warum diese Berufe keine Zukunft haben sollten, wurde im Raiffeisen-Magazin nicht kommentiert. Eine dürftige Quellenangabe führte zu einer Studie der Universität Oxford von 2013. Zwei Wissenschaftler, Carl Benedikt Frey und Michael A. Osborne, hatten die Automatisierungswahrscheinlichkeiten für 702 US-Berufe beurteilt und damit grosses Aufsehen erregt. Sie berechneten, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Beruf in den nächsten 20 Jahren durch Maschinen ersetzt werden kann. In der Studie kommen sie zum Schluss, dass die Hälfte aller heutigen Berufe durch die Automatisierung gefährdet ist. Auf Platz 1 als kaum gefährdet ist der Physiotherapeut, am Schluss auf Platz 702 der Telefonverkäufer (Telemarketer). Der Bibliothekar ist im Mittelfeld auf Platz 360 zu finden. Diese Rangliste mit den präzisen Angaben – jeder Beruf ist mit einem «Gefährdungsfaktor» versehen -, verlockt natürlich zum Stöbern: Der Archivar liegt auf Platz 415, der Velomech auf Platz 596 und der Koch gar auf Platz 641. Ungefährdet sind neben den Therapeuten z.B. Pflegepersonal, Choreographen oder Primarschullehrer. Diese Rangliste suggeriert eine Genauigkeit und Wahrhaftigkeit, dass sich unzählige auf diese Quelle stützen, um Alarm zu schlagen. Immer wieder bin ich auf Zeitungsartikel gestossen, welche die Oxford-Studie als Quelle angeben: «Wann werden Sie durch den Roboter ersetzt?», «Roboter-Invasion: In welchem Jahr welcher Job fällig wird», «Digitalisierung bedroht Tausende Jobs», «Das Ende der Arbeit?», «Uns braucht es bald nur noch als Konsumenten», «Im digitalen Zeitalter sterben gewerbliche Berufe», «Das sind die Berufe der Zukunft». Dass sich die Berufswelt ändert: geschenkt. Um 1850 haben 66% der werktätigen Bevölkerung im primären Sektor gearbeitet, heute sind es noch 3%. Dagegen hat im gleichen Zeitraum die Zahl der Beschäftigten im tertiären Sektor von 10 auf 75% zugenommen. Automatisierung ist ja kein neues Phänomen. Trotzdem wurden in den letzten 25 Jahren in der Schweiz netto 800'000 neue Stellen geschaffen.
Es gibt aber nicht nur die Alarmisten, oder die «Apokalyptiker der Automatisierungen», welche die Ängste vor automatisierungsbedingter Massenarbeitslosigkeit schüren. Caspar Hirschi, Professor an der Uni St. Gallen, hat sich in der NZZ vom 3.5.2018 kritisch mit diesem Phänomen auseinandergesetzt und ordnet es in die wirtschaftliche Entwicklung der letzten 250 Jahre ein. Lino Guzzella, der scheidende ETH-Präsident, kritisiert nicht nur die Art wie die Oxford-Studie entstanden ist («das ist keine seriöse Wissenschaft»), sondern auch deren Perspektive. Er sagt, dass es durchaus anspruchsvoll sei, die Entwicklung der nächsten zwei, drei Jahre abzuschätzen, aber offenbar gebe es Leute, die genau wissen, was in 20 Jahren sein wird.
Veränderung der Berufswelt
Die Oxford Studie geht in ihren Berechnungen von unveränderten Stellenprofilen aus. Doch diese Sicht der Dinge greift zu kurz. Technische Neuerungen verändern nicht nur die Arbeitswelt, sie verändern auch die Tätigkeiten der Mitarbeitenden, die bisher ohne diese Innovationen ausgekommen sind. Und damit komme ich auf den Bibliothekar oder die Bibliothekarin zurück. Die Grundbildung der I+D-Fachleute gibt es seit 20 Jahren. Seither wurde der Bildungsplan mehrmals angepasst – sonst würden die Lernenden an den sich verändernden Bedürfnissen vorbei ausgebildet. Dieses Jahr gehörte z.B. das Katalogisieren zum ersten Mal seit 20 Jahren nicht mehr zum Pflichtstoff bei der praktischen Abschlussprüfung – dafür wurde in «social media» geprüft. RFID wäre auch ein Beispiel, das zeigt, wie die Technik bibliothekarische Aufgaben verändert. Der Job-Futuromat des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Deutschland versucht spielerisch aufzuzeigen, wo Automatisierung etwas verändern kann und vermutlich auch verändern wird. Den Bibliothekar aus der Oxford Studie gibt es aber schon heute nicht mehr. Und wenns ihn noch gäbe, könnte er gerne von Automaten ersetzt werden. Mit der Studie wird ein Image konserviert, das schon lange nicht mehr zum Beruf passt. Wer heute ausgebildet wird, weiss, dass lebenslanges Lernen wichtig ist. Und dass Automatisierung kein Schicksal, sondern ein Projekt ist, das von gut ausgebildeten Menschen gestaltet wird. Das war dann auch meine Botschaft am LAPéro 2015. Und wer glaubt, der in der Studie auf Platz 360 aufgelistete Bibliothekar sei halt typisch für die USA, der schaue sich den Film «Ex Libris: The New York Public Library» von Frederick Wiseman an. Automatisierung gibt diesen Leuten die Chance, sich noch stärker für Bibliothek und Community zu engagieren.