Die Erfahrungen und Erkenntnisse eines Wikipedian in Residence in der Schweiz
Immer mehr Schweizer Gedächtnisinstitutionen stellen für eine gewisse Zeit einen Wikipedian in Residence an. Der offiziell erste Schweizer Wikipedian in Residence amtete im Herbst 2013 im Bundesarchiv. Im Frühling 2014 waren es gar zwei in der Nationalbibliothek. Und 2015 einer in der Universitätsbibliothek Basel.
Was ist aber ein Wikipedian in Residence? Der Begriff ist dem Austauschprogramm Artist in Residence entlehnt, das Kunst- und Kulturschaffenden die Möglichkeit gibt, sich in anderen Ländern mit fremden Sitten, in bisher unbekannten Instituten wie einem Theater, Museen oder anderen Orten, eine Zeit lang künstlerisch auszuprobieren, um so neue Einblicke für das eigene Schaffen zu gewinnen. Das Gleiche gibt es auch für Schriftsteller, die als Writer in Residence eine neue Perspektive an einem ihnen bisher unbekannten Arbeitsort gewinnen wollen. Insofern könnte man natürlich den Schluss ziehen, dass ein Wikipedian in Residence für seine enzyklopädische Arbeit eine neue Perspektive holen möchte. Das ist nur halbrichtig. Hinter einem solchen Engagement verbirgt sich nämlich noch eine weitere, tiefgründigere Absicht.
Das Prinzip offener Inhalte
Der Australier Liam Wyatt war 2010 der weltweit erste Wikipedian in Residence im British Museum in London und hatte gerade mal fünf Wochen Zeit. Die Absicht dahinter war, den Verantwortlichen des British Museum den Gedanken für offene Inhalte näherzubringen. Es sind Inhalte, auf die Wikipedia nämlich angewiesen ist. Diese Enzyklopädie hält nicht nur möglichst umfassend das Weltwissen in lexikalischer Form fest, sondern baut zwingend auf sogenannten freien Inhalten auf. Das sind beispielsweise Texte oder Bilder, die von jedem weitergenutzt werden dürfen, und zwar auch zu kommerziellen Zwecken.
2010 war das Verständnis dafür aber in Museen noch nicht sehr gross. Verkauften sie eigene Bilder ihrer Exponate und verboten gar das Fotografieren, war es nicht möglich an freies Bildmaterial zu kommen. Auf die Bitte, ein Bild eines interessanten Objektes für einen Wikipedia-Eintrag zur Verfügung zu stellen, zeigten sich einige jedoch kompromissbereit und gaben die Erlaubnis, es «auf Wikipedia» zu veröffentlichen. Nun genügt diese Einwilligung für Wikipedia nicht, da eben auf dieser Plattform zwingend nur Inhalte, die auch von anderen Benutzern frei weiterverwendet werden dürfen, Platz finden können.
Liam Wyatt hatte sich also zum Ziel gesetzt, innerhalb von fünf Wochen das Wesen von Wikipedia und die Natur freier Inhalte zu erklären und auch gleich noch eine Flut von musealen Bildern auf die Medienplattform Wikimedia Commons loszutreten. Das Museum wiederum sah sich konfrontiert mit der Herausforderung, sich stärker ins Web bewegen zu müssen, um so an sein Zielpublikum zu gelangen, das sich längst und immer intensiver dort aufhielt. Wyatts Argumente waren bestechend: «Wir tun eigentlich dasselbe, aus demselben Grund und für dieselben Personen im selben Medium. Also lass es uns doch gemeinsam tun!»
«Going where the people are»
Bei der Schweizerischen Nationalbibliothek klingt es ähnlich: «Going where the people are» ist ihr Motto. Viele Kunden nutzen das Web zur Recherche. Die Wikipedia, sofern sie einen Eintrag darüber hat, erscheint bei Suchabfragen in aller Regel zuoberst. Ihre Artikel basieren auf Quellenmaterial, das sich in Bibliotheken und Archiven finden lässt und sie sind häufig mit Bildern aus Sammlungen illustriert. Daneben verlinken die Artikel unter der weiterführenden Literatur auf Bibliotheksbestände und sind mit Normdaten oder Verweise auf sonstige Datenbanken versehen.
Statt nur den eigenen Katalog zu pflegen oder Bildsammlungen auf einer eigenen Plattform zu veröffentlichen, die im schlechtesten Fall gar nicht per Internetsuche gefunden werden, bietet sich Wikipedia als Einstiegspunkt geradezu an. Ein Wikipedia-Artikel wird so nämlich zu einem Fenster in die Welt der Gedächtnisinstitution. Umgekehrt wird die Institution durch Wikipedia und auch durch andere Wiederverwendungen ihrer Inhalte viel sichtbarer im Netz. Da Wikipedia stets ein Lexikon sein will, wird es die Quellen niemals substituieren wollen. Gedächtnisinstitutionen und Wikipedia ergänzen sich deshalb.
Anleitung zur Autonomie
Bereits vor meinem Engagement als Wikipedian in Residence hatte das Bundesarchiv evaluiert, dass es 5000 Bilder zum Aktivdienst Erster Weltkrieg hochladen wollte. Ich habe die Projektverantwortlichen beraten, inwiefern diese Bilder auf Wikimedia Commons hochladbar sind und welche rechtlichen Dinge zu beachten sind. Auf der anderen Seite habe ich mit der Community besprochen, inwiefern es sinnvoll ist alle 5000 Bilder hochzuladen und was man sonst beachten muss.
Ich machte am Ende zwar einige Vorbereitungsarbeiten für den Upload, hochgeladen hat sie aber jemand anderes. Die weiteren Uploads (Genfer Konvention, Fahndungsfotos) machte das Bundesarchiv von der Evaluation bis zur Veröffentlichung autonom. Es war ja auch das Ziel, dass nach meinem Engagement in der Institution das Knowhow vorhanden ist, solche Aufgaben selbst durchzuführen.
Das Bundesarchiv hat bereits erfolgreich eine Schreibwerkstatt für Erste-Weltkrieg-Artikel durchgeführt und wird nun eine weitere für Biografien im Herbst 2015 anbieten. Die Erfahrung bei der Nationalbibliothek war ähnlich: Sie digitalisiert fortlaufend ihre Sammlungen und hat nun über 2000 Bilder veröffentlicht, darunter die Fotos des Flugpioniers Spelterini, wie auch die Gugelmann-Sammlung über Schweizer Kleinmeister. Bereits ist geplant, weitere Sammlungen zu digitalisieren und Wikipedia Commons zur Verfügung zu stellen. Die Universitätsbibliothek Basel ihrerseits hat Karten aus aller Welt zur Verfügung gestellt und beteiligt sich am Aufbau des Quellenprojektes Wikisource.
Mehrwert für die Öffentlichkeit
Das sind einige der grössten Früchte der bisherigen Wikipedian-in-Residence-Engagements in der Schweiz, die einen klaren Mehrwert für die Öffentlichkeit generieren. Viele Benutzer wussten nicht, welche Schätze in Gedächtnisinstitutionen schlummern oder sich weit hinten im Web auf eigenen Plattformen versteckten, und entdecken sie nun zum ersten Mal bei den Wikimedia-Angeboten. Dort werden die Sammlungen nun von einer breiten Masse wahrgenommen und können auch gleich von ihr weiterverwendet werden. Ein Beleg des Erfolges: Alle bisherigen Gedächtnisinstitutionen, die einen Wikipedian in Residence angestellt haben, planen deshalb weitere Projekte in diesem Bereich.
Mein Fazit als Wikipedian in Residence
Für mich war es höchst interessant, in die Archiv- und Bibliothekswelt zu blicken und zu erfahren, was da alles in der Schweiz vorhanden ist. Es hat mich sehr angesprochen, und ich konnte äusserst wertvolle Erfahrungen sammeln. Deshalb werde ich mich ab September 2015 im Archiv- und Bibliothekswesen weiterbilden, um später eine Stelle in diesem Bereich zu suchen.
Als Wikipedianer möchte ich vor allem an freies Bildmaterial, Quellen und sonstige Ressourcen herankommen. In zweiter Linie suchen wir neue Autoren. Diese Ziele sind nicht unbedingt auf meine Person gemünzt, sondern der Rolle des Wikipedian in Residence inhärent.
Abstract
- Français
Depuis 2010, les collaborations entre wikipédiens et institutions patrimoniales se multiplient.
En Suisse, les Archives fédérales en 2013, la Bibliothèque nationale en 2014 et la Bibliothèque de l’Université de Bâle depuis 2015 se sont lancées dans un partenariat avec un wikipédien en résidence.
Le but de ces projets entre institutions et wikipédiens est de favoriser l’accès aux ressources en mettant à disposition du public une partie des collections ou des descriptions. «Going where the people are» est le mot d’ordre. Avec ces projets, de nombreux utilisateurs découvrent l’existence des trésors des institutions sur les plate-formes Wikimédia, et ces collections sont aujourd’hui largement diffusées.