Mundaneum comes true: Eine Vision wird digitale Realität - ein bisschen Mut und Effort vorausgesetzt
Seit Europas Kulturhauptstädte in Paaren oder sogar in kleinen Gruppen daherkommen ist es schwierig geworden, die Übersicht zu behalten, wo wann was geboten wird. Dieses Jahr aber sollten wir Informationsfachleute unsere Kulturaffinität tatsächlich Europaluft schnuppern lassen: Neben Pilsen trägt nämlich Mons in Belgien den Titel Kulturhauptstadt.
Mit ihrem tschechischen Pendant teilt sie einen bierigen Hintergrund, ihm voraus hat sie aber einen visionären Sohn, der nicht nur Archivarinnen, Bibliothekarinnen und Dokumentalistinnen ein Begriff sein sollte. In Mons geboren ist nämlich Paul Otlet, Mitentwickler der Universellen Dezimalklassifikation, Autor des Traité de Documentation, Treiber der bibliothekarischen Vernetzung, aktiver Pazifist und als solcher Wegbereiter des Völkerbundes sowie Gründer des Institut International de Bibliographie, heute bekannt als Mundaneum.
Otlets Mundaneum war ein gigantischer Knotenpunkt vernetzten Wissens. Ein Zettelkasten riesigen Ausmasses, mithilfe dessen sich jede Frage beantworten lassen sollte. Verzeichnet wurden nicht nur Bücher, sondern auch Plakate, Flugschriften, Postkarten, ja komplette Objekte und noch vieles mehr. Das Mundaneum war per definitionem ein unendliches Projekt: das Wissen der Welt verknüpfen und dadurch zugänglich machen.
1934 wurde es geschlossen. Geldmangel. Wo Otlet nicht schlichtweg vergessen ging, wurde er als verschrobener Utopist bis spinnerter Kauz abqualifiziert. Es dauerte mehr als fünfzig Jahre, bis das Mundaneum 1998 wieder eröffnet wurde, nicht am ursprünglichen Standort in Brüssel, sondern eben in Mons.
Mittlerweile ist auch Otlet selbst wieder rehabilitiert. Mehr als das: Von vielen wird er heute als Vordenker des Internets gewürdigt, als genialer Visionär, welcher die Verbreitung von Wissen durch technologische Innovation vorantrieb. Das Mundaneum wird als Ahne des Internets betrachtet und als papierene Suchmaschine gefeiert.
Kein Wunder werden Otlet und sein Mundaneum gerade in Wikimedia-Kreisen hoch geschätzt. Die heutigen Ziele der Wikimedia Foundation waren jene von Paul Otlet: (brach liegende) Informationen erwecken, Wissensnachweise zusammentragen, erschliessen, vernetzen und so die freie Verwendung und Verbreitung fördern. Es ist die Vision eines dynamischen Weltwissens, das sich beständig verändert, das wächst und seinen Wert durch Benutzung gewinnt.
Es dauerte mehr als 100 Jahre bis die technologischen Möglichkeiten soweit entwickelt waren, dass die ursprüngliche Mundaneum-Idee in fast perfekter Weise umgesetzt werden konnte. Doch waren es nicht etwa Archive, Bibliotheken und Dokumentationsstellen, die das Potenzial erkannten und sich auf die Gelegenheit stürzten, ihre Informationsbestände im otletschen Sinne der Nutzung freizugeben. Nein, es bedurfte zuerst des Enthusiasmus von IT-Geeks, die das Potenzial erkannten und begannen, Inhalte entsprechend zu teilen. Später folgten Museen und wagten erste Schritte ins Feld des virtuellen Teilens.
Mittlerweile haben zum Glück auch viele Archive und Bibliotheken erkannt, dass es sich lohnt, qualitativ hochstehende Inhalte ins Netz zu stellen, denn auch wenn das bedeutet, ein gewisses Mass an Kontrolle über deren Verwendung abzugeben, überwiegen die Vorteile des Teilens bei Weitem.
Umso bedauerlicher ist es, dass in der Schweiz immer noch viele Bibliotheken und Archive es vorziehen, auf ihren Schätzen zu hocken, um sie für den ewigen Nichtgebrauch zu bewahren, statt sie in Beziehung mit anderen Objekten resp. deren Repräsentationen zu setzen und so multiple Zugriffspunkte zu generieren. Ich hoffe, dass die Erklärungen und die Erfahrungsberichte in dieser Ausgabe von arbido weitere Gedächtnisinstitutionen dazu bringen, ihre Strategien der Vermittlung kritisch zu hinterfragen, und da, wo sinnvoll, mit Blick auf die Vernetzung anzupassen.
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