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2014/3 Kulturerbe der Wirtschaft – kollektives Gedächtnis - Patrimoine culturel économique – mémoire collective

Das Archiv der Hoechst AG im Zeitraum von 1993 bis 2003. Dienstleister oder Störfaktor?

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Die Hoechst AG wurde unter dem Namen «Meister, Lucius & Co.» bereits 1863 gegründet. Später wurde das Unternehmen unter wechselnden Namen, darunter «Farbwerke, vorm. Meister Lucius & Brüning» (1881–1925), «I.G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft, Werk: Farbwerke, vorm. Meister Lucius & Brüning» (1925–1952), «Farbwerke Hoechst Aktiengesellschaft vormals Meister Lucius & Brüning» (1951–1974), «Hoechst Aktiengesellschaft» (1974–1999) weltweit bekannt. Obwohl in den vielen Betriebsund Abteilungsregistraturen schon vorher historisches Aktenmaterial lagerte, wurde ein zentrales «Werksarchiv» im Werk Höchst erst 1955 eingerichtet. Dazu bestanden in Tochter- und Beteiligungsgesellschaften weitere lokale Archive, sodass man bei der Hoechst AG 1955–1999 von einem Archivverbund sprechen kann, in dem das zentrale Werksarchiv eine bestimmende Rolle einnahm.

1994 wurde bei Hoechst ein umfassender Prozess der Neustrukturierung in Gang gesetzt. Dieser führte 1997, unter Beibehaltung der aktienrechtlichen Rahmenbedingungen, zur Umwandlung in eine «Strategische Management Holding» und 1999 durch die Fusion mit Rhône-Poulenc, unter Aufgabe des traditionellen Namens «Hoechst AG» zur Entstehung des deutsch-französischen Life-Science-Konzerns Aventis S.A. 2004 fusionierte die Aventis S.A. nach einem vorausgegangenen feindlichen Übernahmeversuch mit dem französischen Unternehmen «Sanofi-Synthélabo» zu dem neuen Unternehmen «Sanofi-Aventis», seit 2011 nur noch «Sanofi».


Im Zuge dieses Wandlungsprozesses durchlief auch das zentrale Konzernarchiv von Hoechst mehrere Stationen. Aus dem Werks- bzw. Firmenarchiv wurde die Abteilung «Unternehmensgeschichte», die 1997 in die konzerneigene Werbe- und Marketingagentur «CommServ GmbH» ausgegliedert wurde. Allen Beteiligten war bei diesem Schritt klar, dass dies kein Zustand von Dauer sein konnte.

1999 wurde das Hoechst-Archiv unter dem Namen HistoCom GmbH als eigenständige Tochtergesellschaft der Hoechst AG in der Aventis S.A. gegründet und öffnete sich als Dienstleister auch für Unternehmen ausserhalb der Aventis-Gruppe. Mit der Fusion von 2004 kam die HistoCom GmbH zur Sanofi-Aventis und wurde 2009 auf dieses Unternehmen konsolidiert. Das ehemalige Hoechst- Archiv gehört heute zur Sanofi; die früheren Bestände sind jedoch für externe Archivnutzer nur unter grossen Einschränkungen nutzbar.

Die Funktion des Hoechst-Archivs


und der HistoCom GmbH «Archive sichern Rechte», dies war spätestens seit dem Ende der 1980er-Jahre das Leitmotiv des Hoechst-Archivs. Das drückte sich auch in der Unternehmensorganisation aus, in der das Archiv immer Teil des Vorstandsbüros, also Bestandteil der zentralen Unternehmensleitung, war. Zwar war 1955 das bevorstehende 100-Jahr-Jubiläum im Jahr 1963 einer der wesentlichen Impulse für die Einrichtung des Archivs gewesen, dies geschah jedoch schon in dem Bewusstsein, hier ein wichtiges marketing- und öffentlichkeitsrelevantes Ereignis absichern zu müssen.

Diese Einsicht bestimmte auch das Schicksal des Hoechst-Archivs in den folgenden Jahrzehnten. Neben der eigentlichen Archivarbeit, der Sicherung des Archivgutes und der Verzeichnung der Bestände, wurde in hohem Masse, in Abstimmung mit der Unternehmenskommunikation, Wert auf eine eigene Öffentlichkeitsarbeit des Archivs gelegt. Ein wesentliches Instrument waren eigene Publikationen, in den ersten Jahren die Schriftenreihe «Dokumente aus Hoechst(-er) Archiven», später sowohl eigene Bücher und wissenschaftliche Beiträge in Fachzeitschriften wie auch die Förderung von Diplom- und Magisterarbeiten sowie Dissertationen zu Themen der Unternehmensgeschichte.

Diese Arbeiten wurden nachhaltig unterstützt und mithilfe des Hoechst-Archivs zum Druck gebracht. Ein herausragendes Beispiel ist das Buch «Hoechst – Ein I.G. Farbenwerk im Dritten Reich» von Stephan H. Lindner, bei dem das Archiv über einen Zeitraum von fünf Jahren das gesamte Projektmanagement und wesentliche Teile der Aktenrecherche übernahm. Das unter internationaler Beteiligung realisierte Projekt spielte für die Hoechst AG in der Diskussion um die Rolle des Unternehmens in der Zeit des Nationalsozialismus eine sehr wichtige Rolle.

Darüber hinaus positionierte sich das Hoechst-Archiv als Dienstleister für die Unternehmen im Hoechst-Konzern und für externe Nutzer aus den Bereichen Wissenschaft und Medien. Zwar verblieben Spezialarchive wie das der Patentabteilung, der klinischen Forschung und die Vertragszentrale im Ressort Recht bei den zuständigen Fachabteilungen, bei der Klärung von Rechtsfragen jedoch wirkte das Archiv bei der Lösung der Probleme mit. Das galt auch für Haftungsfragen im Bereich Altlasten und Umweltschutz sowie aus Werbeversprechen, bei denen sich in der Rechtsprechung in Deutschland im Verlauf der 1990er-Jahre die Beweislast zulasten der Unternehmen umgekehrt hatte. Das Hoechst-Archiv hat in dem Zeitraum bis 1999, vor allem nach den negative Schlagzeilen produzierenden Störfällen der 1990er- Jahre, wesentlich dazu beigetragen, ein positives und nachhaltiges Corporate Image aufzubauen und Schaden von dem Unternehmen fernzuhalten.

Wem diente, wem nützte das Hoechst-Archiv?


Damit sind nun auch diejenigen Institutionen und Personen angesprochen, die in erster Linie von einem funktionierenden Archiv einen Nutzen haben. Es heisst: «Wer die Musik bezahlt, bestimmt auch, was gespielt wird.» Das gilt in abgewandelter Form auch für Unternehmensarchive. Das Hoechst Archiv war bis zur Gründung der HistoCom GmbH kein Profit-Center, sondern wurde vom Unternehmen finanziert. Die wichtigsten Nutzer waren vor allem die Geschäftsleitung und die Zentralabteilungen von Hoechst sowie einzelne Persönlichkeiten des Vorstandes. Dazu kamen viele Abteilungen, Bereiche und Konzerngesellschaften. Letztlich hatte jeder Mitarbeiter von Hoechst das Recht, sich mit seinen Fragen und Problemen direkt an das Hoechst-Archiv zu wenden.

Nach deutschem Recht sind Firmenarchive Privatarchive und unterliegen weder den Vorschriften des öffentlichen Rechts noch staatlicher Kontrolle. Es gilt allerdings die Einschränkung, dass manche Bestände in Privatarchiven zum nationalen Kulturgut gehören, weshalb staatliche Stellen eine Registrierung solcher Bestände vornehmen und daraus ein staatliches Aufsichtsrecht ableiten. Ein solches Aufsichtsrecht, wenn es sich aus dem öffentlichen Interesse am nationalen Kulturgut begründet, ist zu begrüssen, ein daraus abgeleitetes Recht, in die Betriebsabläufe, die Geschäftsführung und die strategische Ausrichtung der Unternehmensarchive einzugreifen ist, ausser im Falle einer drohenden Vernichtung der Bestände, abzulehnen. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass bei der faktischen Schliessung des Hoechst-Archivs für die Öffentlichkeit beim Übergang auf die Sanofi 2009 staatliche Stellen ihrer Verpflichtung nicht nachkamen. Als sie gebraucht wurden, versagten sie.

Wichtige Nutzer des Archivs waren aus dem externen Bereich vor allem die Wissenschaft und die Medien. Forschungen zum Wirtschaftsstandort Deutschland und zur chemischen Industrie wurden aktiv unterstützt. Das

Gleiche gilt für die Presse und die Medien. Das Archiv und seine Mitarbeiter handelten hier i.d.R. aus eigener Verantwortung, stimmten sich allerdings bei Bedarf mit den Fachabteilungen im Unternehmen ab. Der Nutzen für die externen Nutzer bestand in einem weitgehend ungehinderten Zugang zu Informationen, für das Unternehmen selbst in einem erheblichen Imagegewinn.

Unternehmensarchive zwischen Fremdbestimmung und Eigenverantwortung


Der Weg des Hoechst-Archivs, vor allem in den tief greifenden Wandlungsprozessen zwischen 1994 und 2009, verlief keineswegs gradlinig. Die Veränderungen der Unternehmensorganisation blieben nicht ohne Auswirkungen. Archive ebenso wie Unternehmen können zwar als juristische Personen handeln, sie werden aber von Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen, ihren Leistungen und Fehlentscheidungen bestimmt. Inkompetenz in fachlichen Fragen, menschliche und charakterliche Schwächen von Vertretern des mittleren und höheren Managements spielen, was gerne verdrängt wird, oft eine entscheidende Rolle.

Nicht selten prallen unvereinbare Auffassungen über Strategien und zu treffende Entscheidungen aufeinander. Dann gewinnt meist der Stärkere, der Ranghöhere. Der Unterlegene, meist das Archiv, hat jedoch die Möglichkeit, sich durch eigene Leistungen zu behaupten und langfristig zu einer besseren Lösung der Probleme beizutragen. Die Wahrnehmung der Eigenverantwortung des Archivars spielt deshalb bei der Positionierung des Archivs sowohl gegenüber der Geschäftsleitung als auch der externen Öffentlichkeit eine wesentliche Rolle.

Die Strategie und die Ausrichtung der Leitung eines Archivs können immer nur aus diesem selbst heraus erfolgen. Nur hier ist der notwendige Sachverstand vorhanden. Ein Unternehmensarchiv aber ist immer auch ein an Aufträge gebundener und daher fremdbestimmter Dienstleister. Deshalb muss ein permanenter Dialog zwischen Archivaren, Geschäftsleitung und Nutzern geführt werden.

Auf der finanziellen Ebene sind Firmenarchive zumeist finanziell abhängig von der Budgetierung durch die Geschäftsleitung. Im bewahrenden, forschenden, kommunikativen und kreativen Bereich haben die Archive jedoch einen eigenen Gestaltungsspielraum, den es zu nutzen gilt. Eigene Kompetenz und erfolgreiche Arbeit können als starke Argumente gegen Einflüsse und Eingriffe archivfremder Personen und Institutionen genutzt werden. Niederlagen sind dabei, wie das Beispiel des Hoechst-Archivs zeigt, nicht immer auszuschliessen, aber das Vorhaben, Unternehmensarchive unabhängig von nicht kompetenten Einflüssen zu halten, seien es die Geschäftsleitung, die Öffentlichkeit oder gar staatliche Stellen, ist deshalb nicht falsch.

Gerade ein durch gesetzgeberische Massnahmen begründeter Einfluss staatlicher Stellen auf die nach Privatrecht geführten Unternehmensarchive trägt den Keim verfassungsrechtlicher Konflikte in sich. Der Schutz des Privateigentums, das Recht auf die Wahrung von Betriebs- und Forschungsgeheimnissen, der allgemeine Vertrauensschutz und der persönliche Datenschutz der Mitarbeiter erfordern Regelungen, die nur durch Satzungen auf der Basis von Freiwilligkeit und Konsens, nicht aber durch staatlichen Zwang und eine daraus folgende Gesetzgebung zum Erfolg führen.

Im Konflikt zwischen Privatrecht und einschränkender staatlicher Gesetzgebung kann nur die Verfassungsgerichtsbarkeit Schiedsrichter sein. Diese aber ist an die Grundrechte, die in demokratischen Staaten dem Schutz der Privatsphäre verpflichtet sind, gebunden. Deshalb sind staatliche Eingriffe in die Archive von Unternehmen nach Privatrecht schon aus verfassungsrechtlichen Gründen zum Scheitern verurteilt. Das belegt nicht zuletzt das Beispiel des Hoechst-Archivs, das durch staatliche Eingriffe nicht hätte gerettet werden können, da es offiziell nicht vernichtet, sondern «nur» in seiner Nutzung, wenn auch erheblich, eingeschränkt wurde. Es hatte sich mit der Veränderung des Unternehmens von einem Nutzer zu einem Störfaktor gewandelt.

Diese skizzierte Unabhängigkeit der Unternehmensarchive im Spannungsfeld ihrer unterschiedlichen Nutzer mag eine ketzerische Utopie sein, es macht dennoch Sinn, sie anzustreben und zu fordern. Bei einer vom Unternehmen garantierten Finanzierung und einer messbaren Eigenleistung des Archivs muss diese Unabhängigkeit als eine Chance für eine effektive, dem Unternehmen dienende Archivarbeit begriffen werden. Eine Einflussnahme Dritter, auch staatlicher Stellen, sollte ausgeschlossen sein.

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Wolfgang Metternich

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Après 1994 et le processus radical de transformation de la société Hoechst, les archives de cette dernière ont été le reflet du développement de l’entreprise. Il s’agissait toutefois d’orienter ces archives en fonction des nouvelles exigences, aussi bien internes qu’externes. Cela a été fait, d’une part par une adaptation à la nouvelle organisation de l’entreprise, d’autre part à travers une orientation plus marquée sur la communication et le marketing, sur la question de la responsabilité dans le domaine de la protection de l’environnement et sur la mise à jour des principales thématiques de la période du national-socialisme. Le problème principal dans ce processus a été l’équilibre entre la responsabilité propre et l’indépendance des archives d’une part, et la manipulation qui découle du rôle de prestataire de service dans un grand groupe industriel d’autre part. Le modèle prometteur des archives d’Hoechst comme entreprise indépendante a finalement échoué.