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2014/3 Kulturerbe der Wirtschaft – kollektives Gedächtnis - Patrimoine culturel économique – mémoire collective

Forschung und Archive: Erwartungen und Erfahrungen - Recherche et archives: attentes et expériences

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Das Podiumsgespräch zum Abschluss der VSA-Fachtagung «Wirtschaftsarchive und die Kernfragen der Archivistik: Memopolitik, Sicherung, Vermittlung» (23. Mai 2014) widmete sich dem nicht immer konfliktfreien Verhältnis von Archiv und historischer Forschung bzw. ihrer jeweiligen Exponenten. Im Zentrum standen die Sensibilisierung für unterschiedliche Interessenlagen sowie die Frage nach Chancen und Risiken der Kooperation im digitalen Zeitalter. Teilnehmende waren: Stéphanie Ginalski (Maître assistante à l’Université de Lausanne, Institut d’histoire économique et sociale); Wolfgang Metternich (Berater Archiv Clariant, ehemaliger Leiter Histo-Com Hoechst); Albert Pfiffner (Responsable des archives historiques Nestlé); Tobias Straumann (Wirtschaftshistoriker, Titularprofessor der Universität Zürich). Gesprächsleitung: Daniel Nerlich.

Erfahrungen der Zusammenarbeit von Archiv und Forschung


Stéphanie Ginalski, wie gestaltete sich in Ihren bisherigen Forschungsprojekten als Historikerin die Zusammenarbeit mit Archiven bzw. Archivarinnen und Archivaren?

Stéphanie Ginalski: J’ai commencé par travailler aux archives économiques de Bâle, où j’ai utilisé les archives d’entreprises et la «Personendokumentation» sur les élites économiques plus particulièrement, puisque j’abordais en fait dans ma thèse à la fois les deux aspects «entreprises et dirigeants». Là, j’ai beaucoup été aidée par des personnes qui travaillaient dans cette institution. Donc c’était évidemment très précieux d’avoir quelqu’un qui pouvait m’orienter sur ce qui existait, sur ce qui était accessible.

Et puis dans un deuxième temps, j’ai fait des études de cas. J’analysais une vingtaine d’entreprises, mais la majorité d’entre elles n’avaient pas de fonds auxquels j’avais accès. Il y avait aussi certaines firmes pour lesquelles ce n’était pas toujours très clair, si les archives étaient accessibles ou non. Je croyais que oui, et en fait après je me suis rendu compte qu’il y avait pas d’accès en tout cas aux procès-verbaux, choses qui m’intéressaient vraiment. Donc j’ai dû réduire le nombre d’études de cas approfondies que je voulais faire.

Tobias Straumann, Sie bezeichneten sich als Wirtschaftshistoriker bei der Einladung zu diesem Gespräch mit Blick auf das Verhältnis von Archiv und Forschung als «sehr zufrieden». Womit genau sind Sie zufrieden und weshalb?

Tobias Straumann: Ich habe vor allem mit Firmenarchiven und der Nationalbank zu tun gehabt und habe eigentlich immer gute Erfahrungen gemacht. Ins Nationalbankarchiv habe ich inzwischen mehrere Studierende geschickt. Die Situation dort ist jetzt noch besser, weil digitalisiert wurde und die ganzen Sitzungsprotokolle als PDF-Dateien erhältlich sind.

Ich finde, es hat sich sehr viel getan. Ich kann zwar nur etwa zwanzig Jahre überblicken. Aber: Beispiel Chemie – ich habe meine Lizenziatsarbeit noch bei der Ciba-Geigy geschrieben –, da musste ich immer sagen, was ich ungefähr wollte. Dann haben die beiden Archivare überlegt, was das sein könnte, sind verschwunden und mit einer Schachtel wieder aufgetaucht. Sie waren sehr kooperativ, aber ich wusste nie, ob ich das bekomme, was ich wirklich wollte. Vor zehn Jahren war ich nach langer Pause bei Novartis, und es war fantastisch: sehr gute Betreuung, sehr offen, sehr interessiert.

Beim Projekt Erster Weltkrieg haben wir ein bisschen mehr als ein Dutzend schweizerischer Unternehmen angeschaut. Da hatten wir eigentlich überall offene Türen – ausser bei den Banken, die noch immer sehr restriktiv sind. Ich sehe zwei Punkte zur Optimierung: Auf unserer Seite ist wichtig, dass wir unseren Leuten mitteilen, dass man mehrmals Anlauf nehmen muss, bis man das findet, was man sucht. Auf der Seite der Archive ist es von Vorteil, wenn die Leute, die das Archiv führen, auch inhaltlich mit den Akten gearbeitet haben. Des Weiteren finde ich, dass die Archive eher noch offensiver auftreten sollten (…) Ich denke zum Beispiel an die Staatsarchive, die sehr gut ausgestattet sind, aber nicht in Universitätskantonen liegen und deswegen zu wenig beachtet werden.

Albert Pfiffner, teilen Sie als Unternehmensarchivar angesichts Ihrer Erfahrung mit Forschenden diesen positiven Eindruck betreffend der Kooperation von Archiv und Forschung?


Albert Pfiffner: Die Erfahrungen, die ich gemacht habe, sind sehr unterschiedlich. Ich muss betonen, im Grossen und Ganzen ist die Mehrheit der Studenten, die zu Nestlé in Vevey ins Archiv kommen, überdurchschnittlich motiviert und informiert. Es gibt einige Ausnahmen, wie immer, die bleiben stärker in Erinnerung. Da fragt man sich, wieso kommen solche Leute überhaupt. Was wollen die eigentlich, wenn sie in kurzer Zeit etwas über die Firma schreiben wollen, aber noch nicht einmal eine Ahnung haben von öffentlich zugänglichen Unternehmensinformationen?

Wir sind nicht angestellt, um Studenten auszubilden oder ins Archiv einzuführen. Das ist eine Realität. Und von der Firmenseite stellt sich die Frage, sind es nicht fehlgeleitete Ressourcenallokationen, noch mehr in solche Studenten zu investieren (…) Was ich dann auch zum Teil spüre, ist ein riesiges Misstrauen. Man steht etwa vor einem Werbemittelarchiv mit Hunderten von Ordnern. Und dann fehlen beim Zweiten Weltkrieg vielleicht drei bei der Schokoladenwerbung. Ich sage, die fehlen. Und dann glauben die Nutzer das nicht und haben das Gefühl, wir hätten die verschwinden lassen.

Optimieren könnte man, indem sich beide Seiten besser auf das Thema vorbereiten, auf das man sich einlassen möchte. Indem man zusammensitzt und das Gespräch sucht, damit können beide vermeiden, dass Zeit falsch investiert wird.

Herr Metternich, Sie gehen als Wirtschaftsarchivar und Berater über das Postulat des Gesprächs weit hinaus. Sie fordern die Öffnung der Archive für die Wissenschaft ohne Einschränkung. Was heisst das konkret, und wo lägen die Vorteile?

Wolfgang Metternich: Der grosse Vorteil, und zwar vor allem für das Unternehmen, aber auch für das Archiv, ist die Tatsache, dass für das Unternehmen ein Imagegewinn dabei herausspringt, selbst wenn man negative Nachrichten – in Deutschland ist das vielfach die Problematik des Nationalsozialismus und des Dritten Reiches – über das Unternehmen verkünden muss.

Wir betreiben eine Wissenschaft, Archivwissenschaft. Die kennt nicht jeder. Die kennen die ausgebildeten Archivare von innen her. Und dann kommen plötzlich Leute, die man eher im mittleren Management als bei der Geschäftsleitung findet, die dieses Wissen nicht haben. Wenn sich das verbindet mit menschlichen Schwächen, mit charakterlichen Schwächen vielleicht sogar, mit Eitelkeit oder übertriebenem Selbstbewusstsein, dann kommt allerdings ein Problem auf. Wir haben uns, solange das Hoechst-Archiv bestand, immer bemüht – auch gegen den Widerstand von Vorgesetzten bis hin zur Geschäftsleitung –, das Archiv offen zu halten (…) Man muss unsinnigen Anforderungen und Beschränkungen die eigene Qualifikation, die eigene Leistung entgegensetzen können.

Digitalisierung – Königsweg oder Büchse der Pandora?


Es gibt gerade in grösseren Unternehmen viele digitale Bestände und Kollektionen, die im Intranet genutzt werden, aber extern nicht zur Verfügung stehen. Könnte deren Zugänglichmachung die Zusammenarbeit von Archiv und Forschung entscheidend verbessern und Lehrkooperationen fördern?

Albert Pfiffner: Ich habe nie konkret überlegt, dass wir so etwas bei Nestlé machen könnten. Wir haben jetzt ein Projekt laufen, in dem wir die ersten Korrespondenzbücher von Henri Nestlé digitalisieren und transkribieren. Das könnte ein Anfang sein. Da haben wir keine Rechteprobleme, das könnten Studenten als interessante Quelle auswerten. Es gibt aber eine Hemmschwelle, zentrale interne Dokumente einfach so zur Verfügung zu stellen.

Im Zusammenhang mit der Diskussion «Schweiz–Zweiter Weltkrieg» war ich einer derjenigen, die es vertreten haben, dass die Unterlagen wieder an die Unternehmen zurückgehen. Das hat einerseits mit den vertraglichen Vereinbarungen zu tun gehabt. Das zweite oder mein Argument war zudem, dass man dort die Akten im Kontext sieht und analysiert, weil ansonsten wichtige Informationen verloren gehen. Man muss also gut überlegen, welche Quellen man im Internet zur Verfügung stellt.

Ergänzen oder gefährden Forschungsdienstleistungen den Kernauftrag der Archive?


Wie erfährt die Forschung von den Archiven und deren Beständen?

Rebekka Wyler (Staatsarchiv Zürich): Dies ist auch eine Frage der Ressourcen, das hat ja Herr Pfiffner gesagt. Wir müssen zuerst überhaupt Bestände bilden, sichern und erschliessen. Bleibt dann überhaupt noch Kapazität, diese öffentlich zugänglich zu machen und dann all diese Leute zu betreuen, die sich vielleicht nicht informiert haben über die Firmengeschichte, die keine alten Schriften lesen können, und die sich nicht richtig vorbereitet haben?

Ich finde es aber trotzdem wichtig, dass das Archiv nach aussen geht, eben weil es ja für viele so eine Art Geheimwissenschaft ist. Die Forschungsseminare sind sicher eine Möglichkeit. Im Staatsarchiv Zürich werden seit diesem Jahr auch wieder öffentliche Führungen angeboten, die sehr beliebt sind. Es geht dabei immer wieder darum, zu überlegen, welches Publikum man ansprechen will.

Was bedeutet es für Archive heute und in Zukunft, wenn eine neue Generation von Forschenden als digital natives aufgewachsen ist und sich dadurch deren Bedürfnisse und Erwartungen ändern?


Manuel Minder (Bank for International Settlements): Ändert sich, wie Forschende Fragen an uns stellen, oder welche Antworten sie erwarten? Im Records-Management-Bereich habe ich jedenfalls bemerkt, dass die Mitarbeitenden eine einfache Suchmöglichkeit voraussetzen, die jedermann von der Google-Hauptseite her kennt.

Stéphanie Ginalski: Personnellement en tout cas, pour moi ce qui aurait été très, très utile par exemple, ça aurait été d’avoir juste les ordres du jour des procès-verbaux des séances des conseils d’administration et des directions générales, pour avoir une idée de ce que contenaient les rapports plus détaillés.

Tobias Straumann: Je benutzungsfreundlicher, desto besser. Wenn die Studierenden die Energie nicht aufbringen, alte Schriften zu lesen, sollen sie das Studienfach wechseln. Man darf nicht zu weit entgegenkommen (…) Die Universitäten sind meines Erachtens nicht in der besten Phase ihrer Entwicklung im Fach Geschichte. Ich bin sehr froh, wenn Sie insistieren, dass man sehr früh im Studium bei den Archiven vorbeikommt. Sonst lernt man es nie.

Adrian Hofacker (UBS): Ich denke – wie Tobias Straumann gesagt hat – es ist wichtig, wie gut die Quellen vorliegen. Dabei ist es nicht unbedingt matchentscheidend, ob digital oder nicht. Und ich würde davon abraten, zu digitalisieren, nur damit man kommunizieren kann. Wenn die Dokumente in Papierform abgeliefert werden, dann gilt es, dieses Papier möglichst sauber zu archivieren. Aber bereit sein muss man dafür, dass eben immer mehr digitale Records reinkommen, denn dann stellen sich natürlich ganz andere Fragen.

Welches ist die fundamentale Rolle des Archivars?


Gilbert Coutaz (Archives cantonales vaudoises): Moi, j’aimerais revenir à trois ou quatre fondamentaux, parce que dans la discussion qui a lieu sous nos yeux, il me semble qu’il faut rétablir quelques rôles. Fondamentalement, le rôle de l’archiviste. Et je pense que ce sur quoi il doit être jugé, et ce qui fait sa fierté, sa plus-value, c’est la qualité des inventaires et sa politique d’acquisition. Sur ces deux critères, c’est sa mission qu’il remplit.
Et le deuxième élément, c’est le côté pédagogique. Moi je partage tout à fait ce que dit Monsieur Pfiffner. Les professeurs d’université c’est la dérive de la numérisation. C’est le potentiel informationnel que nous représentons qui les intéresse, mais pas son contexte. On a chacun des codes de déontologie. Il me semble que les historiens se sont donné surtout des droits et peu de devoirs. Nous on s’est donné surtout des devoirs et ensuite des droits. Donc là, il y a aussi un basculement qui n’est pas trop clair.

Quand on voit l’histoire, on voit que les historiens revendiquent des accès aux sources, c’est peut-être légitime, mais nous comme archivistes on est souvent en porte-à-faux avec ces politiques, parce qu’on doit aussi protéger un employeur, une volonté de donateur. Je pense que la recherche qui tue l’archiviste, notamment sa présence en salle de lecture, c’est une catastrophe. Ça ne se fait pas avec des clics. Il ne suffit pas de cliquer et de penser que s’il y a une réponse négative il n’y a pas d’archives correspondantes. C’est l’archiviste qui fait la différence avec le clic.

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Daniel Nerlich

Seit 1996 Leiter des Fachbereichs Wirtschaft im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich, seit 2003 stellvertretender Leiter des Archivs. Präsident der Abeitsgruppe «Archive der privaten Wirtschaft» und seit 2013 Vizepräsident des VSA. Der promovierte Historiker und wissenschaftliche Archivar begann seine berufliche Laufbahn als Assistent und Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der Universität Zürich und war Gründungspartner eines Unternehmens für historische Arbeiten und Information Management.

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La discussion qui a clôturé la journée professionnelle de l’AAS du 23 mai 2014 – «Les archives d’entreprises et les questions centrales de l’archivistique: Mémopolitique, préservation, communication» – a eu pour sujet la relation, pas toujours exempte de conflits, entre services d’archives et recherche historique, ou entre leurs représentants respectifs. L’accent était mis sur la sensibilisation aux intérêts divergents. Les historiens, comme utilisateurs des ressources, souhaitent l’accès le plus rapide et le plus complet aux fonds d’archives. Plus ils recourent aux archives, mieux ils comprennent la complexité des problématiques archivistiques et des conditions de consultation. Plusieurs archivistes reconnaissent dans la coopération avec le monde de la recherche une nécessité croissante et des possibilités de marketing. En même temps, des prestations de recherche concurrencent la mission centrale des archives, à savoir la constitution du patrimoine des fonds et la contextualisation. On ne sait pas encore si la numérisation et la salle de lecture virtuelle apporteront dans ce cas un soulagement durable aux services d’archives.