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2013/1 Privatarchive

Ich, Claude, Mensch und Bestand – Privatarchive im Schweizerischen Bundesarchiv

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Nehmen wir an, an einem der ersten echten Frühlingstage des Jahres 2013, dem 12. März, kommt Claude Vaillant in Sion zur Welt. Was die Zukunft betrifft, der Claude entgegensieht, können wir einige Annahmen machen. Zum Beispiel, dass Französisch seine Muttersprache sein wird, und dass er gute Chancen hat, einst seinen 80. Geburtstag zu feiern. Welchen Weg Claudes Leben bis zu diesem Jubeltag nehmen wird, wissen wir nicht. Dass er Spuren im Bundesarchiv hinterlassen wird, ist aber durchaus möglich. Vielleicht ist es der empörte Brief, den er im Jahr 2041 an den Bundesrat richtet, als sich der Flughafen Sion International in Planung befindet. Vielleicht macht Claude sich als Mitarbeiter der Bundesverwaltung verdient, hinterlässt Unterlagen mit seinem markanten Kürzel (Vc) und füllt ein Personaldossier. Vielleicht bemüht er sich als engagierter Journalist um Einsicht in Unterlagen im BAR, deren Schutzfrist noch läuft.

Für Claude gibt es also viele Wege, in den Beständen des BAR unsterblich zu werden. Sicher ist aber: Der Königsweg ins BAR ist das Privatarchiv. Aber was für ein Werdegang liegt zwischen dem Plexiglasbettchen im Centre Hospitalier du Valais Romand und dem Bestand J1.472 Vaillant, Claude (2013– 2101) im BAR?

Betrachten wir die Ausgangslage, wie sie sich heute darstellt – sollte sie sich bis zum Jahr 2101 wesentlich verändern, wird Claude in seiner Lebensführung flexibel reagieren müssen. Artikel 17 des Bundesgesetzes über die Archivierung (BGA) sieht vor, dass das Bundesarchiv sich für die Sicherung von Archiven und Nachlässen von Personen des privaten oder öffentlichen Rechts von gesamtschweizerischer Bedeutung einsetzt. Die Botschaft zum BGA, Abschnitt 224, führt aus: Diese Möglichkeit, die dem Schweizerischen Bundesarchiv eingeräumt wird, ist nicht neu und konkurrenziert in keiner Weise vergleichbare Aktivitäten anderer Institutionen (Landesbibliothek, Literaturarchiv, Landesmuseum usw.). Es geht darum, sicherzustellen, dass Unterlagen von gesamtschweizerischer Bedeutung von einer öffentlichen Institution aufbewahrt, ausgewertet, erschlossen und vermittelt werden.

Das Schlüsselwort ist also «gesamt- schweizerisch». Nehmen wir an, die Eltern von Claude träumten davon, ihren Sohn zu einer Person von gesamtschweizerischer Bedeutung zu erziehen. Der Website des BAR (www.bar.admin.ch) könnten sie geeignete Informationen entnehmen, die sich auch als Laufbahnvorschläge lesen liessen. Dort würden sie erfahren, dass das BAR Nachlässe von Persönlichkeiten übernimmt, die die Geschichte des Bundesstaates geprägt haben, sei es als

1. Mitglieder des Bundesrats, des Parlaments und des Bundesgerichts;

2.Kader aus Verwaltung und Armee oder

3. bedeutende Exponenten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur.

Daneben, so würden Claudes Eltern lesen, verwahrt das BAR auch Archive von juristischen Personen, die gesamtschweizerisch tätig sind und die Politik des Bundesstaates beeinflussen, zum Beispiel von Parteien und Interessenverbänden. Bei allem Erwartungsdruck, der auf einem zukünftigen Gesamtschweizer lastet, hat der kleine Claude also durchaus Wahlmöglichkeiten.

Vielleicht wird es hilfreich für Claude sein, sich an einem Vorbild zu orientieren. Er könnte recherchieren, welche Personen in den Beständen des BAR bereits mit Privatarchiven vertreten, also gewissermassen bereits Mitglieder im Club sind. Einige Kenntnisse besitzt er schon, denn seine Mutter hat nicht nur Ambitionen für Claude, sondern auch ein Herz für europäische Königshäuser. Sie hat ihm erzählt, dass das BAR die poetischen Tagebücher der Kaiserin Elisabeth von Österreich aufbewahrt. Aus einer Geschichtssendung hat Claude zudem erfahren, dass der Nachlass von Rudolf Hess im BAR zu finden ist. Claude ist beunruhigt. Als Kind der Eidgenossenschaft kann er sich eine Zukunft als gekröntes Haupt schlecht vorstellen, als Handlanger einer Diktatur erst recht nicht.

Bei näherem Hinsehen erweist sich jedoch: Unter den Privatarchiven des BAR sind beide Gestalten Exoten, die zudem im Leben keinen einzigen Gedanken an das Bundesarchiv verschwendet haben mögen. Kaiserin Elisabeth hatte im Jahr 1890 bestimmt, dass ihr poetischer Nachlass nach Ablauf von 60 Jahren dem Schweizer Bundespräsidenten übergeben werden sollte. Daraufhin, so verfügte Elisabeth, sollte das Werk «veröffentlicht werden zum besten von politisch Verurteilten u. deren hülfebedürftigen Angehörigen. Denn in 60 Jahren so wenig wie heute werden Glück u. Friede, das heisst Freiheit auf unserem kleinen Sterne heimisch sein». Die weitere Aufbewahrung der Bände wurde von ihr nicht explizit geregelt, wenn auch ihr Weg ins BAR nach Begriffen der Bundesverwaltung folgerichtig war. Die Unterlagen von Rudolf Hess wurden dem Bundesarchiv durch dessen Sohn angeboten.

Wenn man die Exoten also mit gutem Grund beiseitelässt, wie lassen sich die Privatarchive, die im BAR typischerweise verwahrt werden, beschreiben? Gaby Knoch-Mund, ehemalige Mitarbeiterin des BAR, fasste in einem Artikel im Jahr 1992 prägnant zusammen: «Das Interesse des Bundesarchivs an den meisten Nachlässen entspricht seinem Zuständigkeitsbereich.Knoch-Mund, G., «Privatnachlässe in schweizerischen Archiven und Bibliotheken. Zur Neuauflage des «Repertorium der Nachlässe» und zur Nachlassdatenbank unter besonderer Berücksichtigung der Nachlässe des Schweizerischen Bundesarchivs», Studien und Quellen 18 (1992), 9–64.» Es dominieren Nachlässe aus der Zeit ab der Gründung des Bundesstaates im Jahr 1848, insbesondere von Bundesräten, Bundesbeamten, Politikern und Offizieren.

Wer eng mit der Bundesverwaltung verbunden ist oder war, denkt eher daran, auch die privaten Unterlagen dem BAR zukommen zu lassen; zumal wenn bereits persönliche Kontakte bestehen oder der Übergang von Handakten, die dem BAR per Gesetz angeboten werden müssen, und persönlichen Aufzeichnungen fliessend ist. Schliesslich hat bei der Überlieferung auch der Zufall die Hand im Spiel. Der/Die Nachlasser/in bzw. deren Familien müssen über ausreichend Interesse und Umsetzungswillen verfügen, damit Unterlagen dem BAR tatsächlich angeboten und übergeben werden. Gegenspieler des Zufalls ist das Engagement des BAR, das nicht bis ins 22. Jahrhundert warten wird, um sich um Claudes Nachlass zu kümmern. Wenn Claudes Wirken für die Bundespolitik bedeutend war, wird er deswegen noch zu Lebzeiten gezielt angefragt werden. Das BAR wird Claude erklären, dass seine privaten Unterlagen eine kostbare Ergänzung der Überlieferung staatlichen Handelns darstellen. Claude denkt an die geschichtsträchtigen Begegnungen, die er mit bissigem Humor in seinem Tagebuch geschildert hat, und an die Briefwechsel am Rande offizieller Beziehungen. Das BAR wird abklären, ob es sich um eine Hinterlegung oder Schenkung handeln soll und welche Schutzfristen gelten. Denn es geht ihm bei der Übernahme von Privatarchiven neben der Sicherung auch darum, den Zugang zu privaten Aufzeichnungen überhaupt erst zu ermöglichen und die Zugangspolitik möglichst klar und offen zu gestalten. Claude hat damit Gewissheit, welche Regeln für den Umgang mit seinem Nachlass gelten. Er freut sich, dass zukünftige Generationen herausfinden können, was er über das Zeitgeschehen dachte, und dabei der «wahren Geschichte» ein Stück näher kommen werden. Seine Unterlagen in der Familie aufzubewahren, wäre hierfür keine Alternative. 

Neben dem Bundesarchiv gibt es allerdings noch andere Institutionen, die geeignet sind, die Nachlässe von Personen von «gesamtschweizerischer» Bedeutung aufzunehmen. Genannt seien hier beispielsweise das Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich, das Archiv für die Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung (Gosteli-Stiftung) und das Schweizerische Literaturarchiv. Zudem ist auch die kräftigste «gesamtschweizerische Ausstrahlung» irgendwo lokal verwurzelt. Claude zum Beispiel macht sich bereits in jungen Jahren in der Gemeindepolitik einen Namen und bleibt zeitlebens eng mit dem Wallis verbunden. Dem Wallis wiederum liegt er als grosser Sohn des Kantons am Herzen. Daher ist sein Nachlass prinzipiell auch für das Stadtarchiv von Sion sowie für das Walliser Staatsarchiv von Interesse.

Im Erfahrungsbereich des BAR sind Auseinandersetzungen zur Zu- und Aufteilung von Nachlässen selten, doch kommt es bei einzelnen Beständen vor, dass Unterlagen einer bedeutenden – eben sowohl lokal oder regional als auch gesamtschweizerisch bedeutenden – Person durch Bestände in anderen Archiven ergänzt werden. General Henri Guisan (1874–1960) zum Beispiel ist u. a. mit Briefen, Bildern und Reisebeschreibungen im BAR vertreten; in den Archives cantonales vaudoises befinden sich weitere Briefe, Vorträge und biografische DokumenteKnoch-Mund, G., 1992, S. 62, vgl. Repertorium der handschriftlichen Nachlässe in den Bibliotheken und Archiven der Schweiz. Im Auftrag der Vereinigung Schweizerischer Archivare und des Verbandes der Bibliotheken und der Bibliothekarinnen/Bibliothekare der Schweiz, bearbeitet von Anne-Marie Schmutz-Pfister, zweite, stark erweiterte Auflage bearbeitet von Gaby Knoch-Mund, hrsg. von der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz (Quellen zur Schweizer Geschichte, N.F., IV. Abt., Bd. Vffla), Basel: Kommissionsverlag Krebs AG 1992.. Das Problem der Zuweisung wird sich im- mer stellen, wo ein Leben vielgestaltig war und der Nachlass nicht zersplittert werden soll. Gipfelt Claudes Laufbahn in einer leitenden Funktion in der Bundesverwaltung oder wird er gar Magistratsperson, ist es sinnvoll, seine privaten Unterlagen im BAR zu archivieren, da dieses auch seine offizielle Tätigkeit überliefert. Falls eine solche klare Unterscheidung überhaupt möglich ist: Als Beispiel für die dokumentarische Gemengelage mögen Bundesrat Max Petitpierres Handakten und Privatarchiv dienen, in denen, so zeigt der Blick in die Bestände, Bundesratsprotokolle unter seinen privaten Unterlagen und private Fotos umgekehrt in den Handakten überliefert werden.

Das BAR, das offenbar zuweilen als eine Art Universalarchiv wahrgenommen wird, erhält aber auch regelmässig Angebote, für welche zweifellos andere Institutionen zuständig sind – so, wenn sich ein Berner Turnverein mit einer Bananenkiste von Vereinsunterlagen vorstellt. Hier übernimmt es das BAR, die Anbietenden und die zuständigen Archive erfolgreich zu «verkuppeln».

Was seine eigenen Bestände betrifft, setzt sich das BAR dafür ein, die Unterlagen, die ihm per BGA angeboten werden müssen, durch solche zu ergänzen, die ihm angeboten werden sollten oder könnten, damit seine Überlieferung ein möglichst stimmiges Ganzes – man könnte sagen aus Kür und Pflicht – ergebe. Die «Kür» ist aber nicht nur ein «Nice to have», sondern zentral, um eine Überlieferung verschiedener Perspektiven – nicht nur der staatlichen– sicherzustellen.

Die «Kür» kann zwar nicht eingefordert werden, doch setzt sich das BAR aktiv mit prägenden Figuren von Bundespolitik und -verwaltung in Verbindung, um sie einzuladen, ihre Nachlässe im BAR zu hinterlegen. Im Fall von Bundesräten/innen und Kaderpersonen ist dieser Vorgang planbar. Schwieriger ist der Fall bei den Menschen «gesamtschweizerischer Ausstrahlung»: Die Bedeutung dieses schillernden Ausdrucks zu beschreiben und durch Kriterien fassbar zu machen, wird das BAR in Zukunft noch beschäftigen.

Bis die Frage, was man unter «gesamtschweizerische Bedeutung» zu verstehen hat, abschliessend geklärt ist, ist immerhin klar, dass der vorerst sicherste Weg, auf dem Claude zu seinem Privatarchiv im BAR gelangt, über den Bundesrat führt. Wobei es sicher auch bedenkenswert wäre, als grosser Lyriker im Schweizerischen Literaturarchiv Eingang zu finden. Allez Claude. Das Bundesarchiv erwartet gerne Ihre Unterlagen.

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Miriam Shergold

Schweizerisches Bundesarchiv

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L’article 17 de la Loi fédérale sur l’archivage (LAr) prévoit que les Archives fédérales (AFS) «s’emploient à prendre en charge les archives et les documents provenant de personnes de droit privé ou de droit public et qui sont d’importance nationale».

Le chapitre 224 du message concernant cette loi précise qu’il s’agit «d’assurer que les documents d’importance nationale seront pris en charge, évalués, mis en valeur et communiqués dans une institution publique [...]».

Les Archives fédérales prennent donc en charge des fonds de personnalités qui ont façonné l’histoire de la Confédération: membres du Conseil fédéral, du Parlement, du Tribunal fédéral; cadres de l’administration ou de l’armée; représentants majeurs de la science, de l’économie ou de la culture. En outre, les Archives fédérales conservent les archives des entités juridiques actives au niveau suisse, qui conditionnent la vie politique de l’Etat, comme les partis politiques et les groupes d’intérêt.

Par ailleurs, il existe d’autres institutions en mesure de recevoir les archives de personnalités d’intérêt national. Même pour les personnalités d’un exceptionnel rayonnement national, un ancrage local subsiste toujours. Les conflits auxquels les Archives fédérales ont pu être confrontées autour de la constitution de fonds privés sont rares, mais il arrive que des documents concernant une personnalité d’intérêt local ou régional, soit national, doivent être intégrés avec des fonds conservés dans d’autres archives.

Les Archives fédérales reçoivent également régulièrement des propositions qui concernent incontestablement d’autres institutions. Dans ce cas, les Archives fédérales agissent en «entremetteur» pour mettre en relation le proposant et l’institution adéquate, souvent avec succès.

Au sein des Archives fédérales, les fonds privés sont en majorité liés aux périodes postérieures à la fondation de l’Etat en 1848, en particulier ceux des conseillers fédéraux, des fonctionnaires, des personnalités politiques et des officiers. Qui nourrit ou nourrissait des liens étroits avec l’Administration fédérale pense plus facilement à proposer ses papiers privés aux Archives fédérales, surtout lorsqu’existent des contacts personnels ou que la passation des postes impose d’offrir les dossiers dans le respect de la loi sur l’archivage.

Mais le hasard a aussi son mot à dire lors des versements. Celle ou celui qui détient des archives privées, respectivement sa famille, doit avoir suffisamment d’intérêt et de volonté pour que les documents soient effectivement offerts et réceptionnés par les Archives fédérales.

Pour limiter les effets du hasard, les Archives fédérales s’engagent activement auprès des personnes influentes tant dans la vie politique fédérale que dans l’administration, en les invitant à remettre leurs archives privées.

L’acquisition des archives privées ne se limite pas seulement à leur prise en charge, mais consiste aussi à assurer d’abord un accès aux dossiers privés et à dessiner une politique d’accès claire et ouverte. Les Archives fédérales sont déterminées à veiller à ce que les documents qui doivent lui être proposés en conformité avec la LAr soient complétés par ceux qui devraient ou pourraient lui être offerts, afin que la constitution des fonds fasse un tout cohérent – fait de liberté et de devoir. Cette part de libre choix n’est pas assimilable à un anecdotique «nice to have», mais participe pleinement de ce qui fait la constitution des fonds: la constitution de points de vue différents non réductibles à celui de l’Etat.