Das Internet ist mobil Wie mobil werden die Bibliotheken?
Mit M-Library gewinnt ein Konzept an Boden, das ohne mobiles Internet nicht möglich wäre. Zuerst haben Universitätsbibliotheken weltweit, neuerdings auch öffentliche Bibliotheken Anwendungen und Dienstleistungen für die Smartphone-Nutzer umgesetzt. Viele Bibliotheken sind allerdings trotz sprunghaft gestiegener Nutzungszahlen von Smartphones und Tablet-PCs nicht über erste Überlegungen und Prototypen für Applikationen hinausgekommen.
Mit dem Aufkommen des iPhones 2008 und mit dem Erscheinen des iPads 2010 hat sich das mobile Internet in breiten Nutzerkreisen in den USA und Europa etabliert. In der Londoner U-Bahn gehen angeblich mehr Smart- phones als Regenschirme verloren1.
Die Bibliothek in jeder Hosentasche
Was ist eine M-Library? Einigkeit besteht darin, dass bestimmte Web-2.0-Funktionen wie Partizipation, Kollaboration und Interaktion erfüllt sein müssen und die Information mittels Mobilfunktechnologie auf Smartphones und Tablet-PCs übertragen wird.
Ein Smartphone verfügt über mehr Computerfunktionalität und -konnektivität als ein herkömmliches fortschrittliches Mobiltelefon. Smartphones lassen sich vom Anwender über zusätzliche Programme (Apps) mit neuen Funktionen ausstatten. Diese Apps unterstehen mehr oder minder restriktiv der Kontrolle der Gerätehersteller. Ein Smartphone ist somit ein physisch kleiner ultrakompakter und mobiler Computer, mit dem auch telefoniert werden kann.
Der Tablet-PC ist ein tragbarer Computer, der sich per Eingabestift und teilweise per Finger auf einem berührungsempfindlichen Bildschirm (Multi-Touch) bedienen lässt. Seit dem Erscheinen des iPads im Mai 2010 scheint sich diese Geräteklasse schnell zu etablieren.
Viele Tageszeitungen bieten Apps für die digitale Ausgabe ihrer Zeitungen an. Mit «The Daily» ist die erste Tageszeitung auf dem Markt, die nur für den Tablet-PC angeboten wird. Amazon hat im letzten Weihnachtsgeschäft erstmals mehr E-Books als gedruckte Bücher verkauft. Ein Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Nutzer von Smartphones hat eingesetzt. Die Aufmerksamkeit der Nutzer ist zum raren Gut geworden. Eine Bibliotheksapp sollte sicherstellen, dass der Nutzer für seine Informationsbedürfnisse situationsbezogen auf sein Smartphone und damit auf seine «Bibliothek in der Hosentasche» zurückgreift.
Neue Möglichkeiten – neue Bedürfnisse
Heute können Smartphone-Benutzer mobil auf die Dienste von Google zugreifen, um sich die nächstgelegenen Restaurants oder Geschäfte anzeigen zu lassen. Ein fremder Begriff in der Zeitung lässt den Nutzer in der App von Wikipedia browsen. Ein unbekanntes Wort der französischen Sprache wird in Leo nachgeschlagen. Der Nutzer interessiert sich kontext- und situationsbezogen für bestimmte Informationsfetzen, die im Fachjargon Snippets genannt werden. Der Nutzer wird künftig seinen Informations- und Unterhaltungsbedarf dort decken, wo der Zugang über das Smartphone oder den Tablet-PC am einfachsten ist.
Vielfach wird in Schweizer Bibliothekskreisen die Ansicht vertreten, dass die M-Library nur ein weiterer Vertriebskanal für das bibliothekarische Angebot sei. Diese Ansicht ist zu vereinfachend. Über die M-Library kann eine wesentlich bessere Benutzerführung und eine grössere Unterstützung der Nutzer durch die Mitarbeitenden der Bibliothek geboten werden.
Die Multimedialität des mobilen Internets lässt eine Audioführung durch die Bibliothek oder die Anzeige von Lageplänen der Medien und der Bibliotheken nach erfolgter OPAC-Recherche zu. Dies sind Dienstleistungen, die für die Nutzer einen Mehrwert darstellen. Kostenpflichtige Dienstleistungen können sicher über die Handyrechnung abgerechnet werden.
Die Technologie allein kann es nicht richten – aber sie unterstützt
Dank SMS, Twitter und Web-2.0-Applikationen können mehr Nutzer von Bibliothekaren betreut werden, ohne dass der Info-Desk aufgesucht werden muss. Die Technologie ist skalierbar und kann nach den finanziellen Möglichkeiten der Bibliothek eingesetzt werden. Vieles ist vorstellbar – von einer einfachen SMS-Applikation, die die Nutzer auf abgelaufene Ausleihfristen aufmerksam macht, bis zu multimedialen Dienstleistungen. Die in den Smartphones und Tablet-PCs eingebauten Digital-Rights-Management-Systeme ermöglichen eine lizenzkonforme Nutzung digitaler Medien.
Neue Möglichkeiten, neue Kompetenzen
Die Einführung einer M-Library setzt voraus, dass die Mitarbeiter der Bibliothek über grundlegende Kenntnisse zur Bedienung von Smartphones und Tablet-PCs mehrerer Hersteller verfügen. Hinzu kommen muss eine verbesserte Ansprechbarkeit. Die Bibliothek sollte auf mobile Anfragen sehr schnell reagieren können.
Andererseits werden Dienstleistungen wie «Ask a librarian» die Bibliothekare zeitlich stärker in Anspruch nehmen. Der Bedarf an einer Vermittlung von Know-How im Umgang mit Informationsressourcen wird steigen. Von einer ausländischen Bibliothek wird berichtet, dass Nutzer ihre Anfragen mit Smartphones aus dem Lesesaal an ihre Ansprechpersonen richten und nicht an die sich unmittelbar in ihrer Nähe aufhaltende Auskunftsperson.
Helene Blowers von der Columbus Metropolitan Library hat die Vorteile der Dienstleistungen der M-Library als einer Web-2.0-Applikation aufgelistet2:
– always on the move – immer unterwegs
– engaging conversation – fördert Gespräche
– always on – immer erreichbar
– encouraging participation – fördert die Teilnahme
– always connected – ständig vernetzt
– enabling collaboration – fördert die Zusammenarbeit
Neue Möglichkeiten – neue Erforder- nisse und Herausforderungen
In nächster Zeit müssen für das mobile Internet eigene Apps für jedes Smartphone-Betriebssystem angeboten werden. Mit HTML 5 soll dies einfacher werden, aber noch sind nicht alle Details dieser Norm bekannt. Mittelfristig werden die mobilen Anwendungen weniger textlastig und unseren heutigen Webseiten ähnlicher. Die neue Handy-Elite integriert mehr Funktionalitäten und wird zum Schweizer Taschenmesser der mobilen Geräte. Telefonieren ist fast zur Nebensache geworden. Wer ein Smartphone kauft, will in erster Linie online sein, aber auch Fotografieren, Musik hören, Videos anschauen oder das Smartphone als Navigationsgerät nutzen.
Die Möglichkeiten des mobilen Internets werden durch das Cloud-Computing vergrössert. «Cloud-Computing wird immer wichtiger, dadurch brauchen wir weniger Rechenleistung auf dem Gerät. Handys brauchen weniger Batterien und können dadurch kleiner werden.» Das sagte Claude Zellweger von One & C, das das Design der Handys von HTC entwirft, auf einem Po- dium in München. «Die generelle Richtung bleibt: Handys werden immer kleiner, Displays immer grösser», so Zellweger.3Laut einer Studie der Firma Metrix in ZürichSiehe die Medienmitteilung von Metrix vom September 2010: http://www.net-metrix.ch/sites/default/files/files/NET-Metrix%20New% 20Products/NET-Metrix-Mobile/Medienmitteilungen/NMM_PR_20100920_d.pdf.nutzt jeder Vierte in der Schweiz das mobile Internet. Fast doppelt so viele Männer wie Frauen nutzen das Internet über mobile Geräte. Die 14- bis 19-jährigen Internetnutzer sind leicht, die 20- bis 39-jährigen deutlich überrepräsentiert. Nutzer sind häufig Vollzeitbeschäftigte und verdienen mehr als 10 000 Schweizer Franken im Monat. Das sind genau die Nutzer, die in vielen Bibliotheken nicht anzutreffen sind. Werden diese Nutzergruppen von den Bibliotheken ignoriert, dann stehen einen Tastendruck weiter Anbieter wie PaperC, WorldCat, EBSCO-host mobile und Wikipedia mobile mit ihren mobilen Applikationen bereit.
Die Entwicklung neuer mobiler Dienstleistungen fordert die Kreativität und die Fantasie der Mitarbeitenden in Bibliotheken. Nicht, dass wir mit dem kommenden Standard LTE (Long Term Evolution) völlig neue Dienste anbieten können. Bis jedoch LTE und die dafür kompatiblen Smartphones endlich smart werden, wird es nach Meinung von Claude Zellweger noch Jahre dauern: «Handys werden dann dem Computer ‹HAL› in Kubricks Film, ‹2001: Odyssee im Weltraum› ähneln. Wenn du aus der U-Bahn steigst, weiss das Gerät bereits, was du willst, und versorgt dich unaufgefordert mit den für dich relevanten Informationen.»4 Er denkt dabei vor allem an ortsbezogene Dienste. Diese sind bereits Realität. Läden und Restaurants geben Verbrauchern Rabatte, wenn sie bei ihnen per Handy «einchecken». Handy-Nutzer können über Foursquare, Facebook und Google Latitude sehen, wo sich ihre Freunde aufhalten, wenn diese das wollen. Die Technik Near Field Communication (NFC) erlaubt die kontaktlose Verbindung zwischen einem Lesegerät und einer Karte oder einem Mobiltelefon. Erste NFC-Chips tauchten schon vor Jahren in Handys auf. Jetzt soll der Durchbruch mit mobilen Bezahldiensten kommen.
Die Vision lautet: Man braucht nur sein Handy an die Kasse zu halten, schon sind Supermarkteinkauf oder Tankfüllung bezahlt. Wer entwickelt eine M-Library-Vision für die Bibliotheken?
Das Buch zum Thema: The Anywhere Library – A Primer for the Mobile Web By Courtney Greene, Missy Roser and Elizabeth Ruane. Chicago, 2010
Dieses dünne Büchlein mit 71 Seiten hat es in sich. Es ist ein Einführungsbuch in das Thema M-Library, das von ausgewiesenen Praktikerinnen des Themas geschrieben wurde. Es enthält viele praktische Tipps, die der direkten Erfahrung mit M-Library-Projekten entstammen. Darüber hinaus enthält die kompakt geschriebene Publikation Kapitel mit wichtigen Erfahrungen zum Projektmanagement und zum Marketing für eine M-Library-Anwendung. Die Wichtigkeit dieser beiden Themen für die erfolgreiche Einführung einer neuen Anwendung und eines neuen Dienstleistungsangebots in der Bibliothek kann nicht genug hervorgehoben werden. Die grau unterlegten Einschübe mit Checklisten, Tipps und Fallbeispielen sind der zusätzliche Gewinn bei der Lektüre.
Das Buch stellt in pragmatischer Weise die Elemente einer M-Library vor und verweist zu Recht darauf, dass heute noch keine Fixfertig-Lösungen existieren. Es weist darauf hin, aus welchen Elementen eine solche Lösung bestehen muss. Sehr praktisch wird aufgezeigt, mit welchen Ansätzen man zum gewünschten Resultat kommt, und viele praktische Tipps und Illustrationen sind in der Publikation eingebaut.
Ein Detail sei noch hervorgehoben, das den grossen Praxisbezug und Pragmatismus der Autorinnen auch bei nebensächlichen Themen aufzeigt, nämlich die Vorstellung der Verwendungsmöglichkeiten von QR-Code in Verbindung mit Smartphones in Bibliotheken. Nachdem in einigen Schweizer Bibliotheken die teure RFID-Chiptechnologie eingeführt wurde und man die ersten Erfahrungsberichte dazu lesen konnte, wird hier eine einfache, wirksame und billigere Technologie – eben der QR-Code – vorgestellt, die manche aus den Gratiszeitungen wie «20 Minuten» kennen. Sie erlaubt auch eine sehr gute Benutzerführung und den Zugang zu weiteren Zusatzleistungen, die die Medien im Bestand einer Bibliothek in ihrer Funktion aufwerten.
Auch im Marketingkapitel fällt der starke Praxisbezug der Autorinnen ins Auge. Ganz zu Beginn des Kapitels sprechen sie von dem fraglos wichtigen Grundelement jeder Marketingstrategie: «Staff Advocacy» (Mitarbeiterüberzeugung). Dies ist ein wichtiges Element für die Einführung dieser neuen Dienstleistung. Stehen die Mitarbeiter dem M-Library-Konzept reserviert gegenüber, so dürfte der Funke nur schwerlich auf die Nutzer überspringen. Auch die Idee eines «Soft Launch» gemäss dem Usability Klassiker von Steve Krug mit dem Titel «Don’t make me think» zeigt einmal mehr den grossen Praxiswert dieser Publikation.
Allen denjenigen, die sich mit dem Konzept einer M-Library vertraut machen wollen, sei die Lektüre des Buches empfohlen. Man erfährt viel Praktisches, und die Literaturliste am Schluss des Büchleins ist eine Fundgrube für weiterführende Hinweise für alle Themen, die auf den 71 Seiten behandelt werden. Auf einen kleinen Nachteil des Werkes sei hier noch hingewiesen: Die gedruckten Links im Anhang veralten schnell, und obwohl die Publikation erst im letzten Jahr erschienen ist, sind sie teilweise bereits veraltet. Der Medienbruch wird hier ganz deutlich, tut dem sehr guten Gesamteindruck der Publikation aber keinen Abbruch. Es ist ein typisch amerikanisches «Zeig mir wie»-Buch in einem einfach zu verstehenden Englisch. Man wünschte sich mehr solche Publikationen auch aus der Schweiz.