Records Management in Privatwirtschaft und öffentlichem Dienst oder: Wie man aus zwei Richtungen zum Ziel kommt
Der VSA hat das Thema Records Management ausdrücklich in seine Mehrjahresplanung eingebunden und es zum Schwerpunktthema 2009/2010 erklärt. Gemäss dem Berufsbild des VSA sind Archivarinnen und Archivare sowie Records Manager in öffentlichen oder privaten Institutionen verantwortlich für das Lifecycle- und Geschäftsverwaltungs-Management.
Das war nicht immer so. Für Archivarinnen und Archivare bedeutete das Thema Records Management sehr lange Zeit etwas, das sie nur am Rande betraf. Sie beschäftigten sich hauptsächlich mit Akten, die ihre Geschäftsrelevanz verloren und einen historischen Wert gewonnen hatten. Ihr Fokus lag auf der Bewertung dieser Unterlagen zur langfristigen Aufbewahrung, welche einen klaren Schnitt, einen Paradigmenwechsel in der Verwendung dieser Akten bedeutete. Eine geregelte Geschäftsverwaltung vor der Ablieferung ins Archiv erachteten sie als notwendig, sinnvoll und hilfreich bei der archivischen Erschliessung und Bewahrung – in die Verwaltung dieser Unterlagen einzugreifen, war aber nicht ihre vordringliche Aufgabe.
Als Berufsverband der Schweizer Archivarinnen und Archivare, Records Manager und generell InformationsspezialistInnen beobachten wir bereits seit Längerem einen Trend, der insbesondere im Bereich der Archive der öffentlichen Verwaltungen sichtbar wird: Mit der zunehmend gefestigten gesetzlichen Verankerung der öffentlichen Archive als integrativem Bestandteil eines demokratischen und rechts staatlich abgesicherten Verwaltungshandelns und der sukzessiven Einführung der «transparenten Verwaltung», also des Öffentlichkeitsprinzips, ist auch das Bewusstsein gestiegen, dass Geschäftsunterlagen einem Lebenszyklus folgen und dieser in seiner Gesamtheit verwaltet werden muss. Aus diesem Grund werden Archivarinnen und Archivare in der öffentlichen Verwaltung auch immer stärker in das Management der aktiven und semiaktiven Geschäftsunterlagen eingebunden und bearbeiten in irgendeiner Form alle Aspekte der Informationsverwaltung – es hat also eine Art leise, aber unaufhaltsame «natürliche Ausweitung» ihres ursprünglichen Geschäftsfelds stattgefunden. Der oben erwähnte «klassische Archivar» als Verwalter nur des letzten Teils dieses Zyklus existiert heute in dieser Form nicht mehr.
Bei vielen privaten Unternehmen hingegen ist Records Management bereits seit Längerem ein unumgängliches Werkzeug zur Wahrung der Rechtssicherheit und des strategischen Managements in einer elektronischen Arbeitsumgebung. Und hier kommen wir auch gleich zu einem signifikanten Unterschied des Verständnisses von Akten im privaten und öffentlichen Bereich. Das Ziel des Records und Information-Managements in privaten Unternehmen ist es, klare Regeln und Prozeduren nicht nur für die Schaffung, Identifikation, Wiederfindung und Aufbewahrung zu entwickeln, sondern letztlich auch für die Entsorgung und endgültige Vernichtung der Unterlagen. Ein Endarchiv im Sinne der öffentlichen Verwaltung ist dabei nirgends vorgesehen; in den RM-Regelwerken kommen Archive in der Regel nur als «externe Interessenspartner» vor. Das Archiv im Sinne eines Mehrwerts für das Geschäft ist deshalb für viele Privat unternehmen eher irrelevant. Die Wahrscheinlichkeit ist viel grösser, dass ein gut ausgestattetes Geschäftsarchiv – sofern es existiert – der Öffentlichkeit als Kulturgut präsentiert wird.
Das Konzept eines Firmenarchivs als Mehrwert, Ideenspeicher und als Grundlage einer Corporate Identity wird häufig nicht als strategischer Vorteil erkannt.
Und doch lässt sich eine Annäherung zwischen diesen zwei Polen feststellen. Privatunternehmen möchten immer häufiger den Wert eines Firmenarchivs für ihre Geschäftsidentität und Innovation nutzen; öffentliche Verwaltungen werden mit der digitalen Büroumgebung, den immer komplexer werden den Arbeitsprozessen und zuletzt mit der Einführung des Öffentlichkeitsprinzips zu einer strukturierten, nach internationalen Standards geregelten elektronischen Ablage ihrer Geschäftsverwaltung gezwungen. Es ist eine der Ironien der Arbeitswelt, dass gerade die Einführung des Öffentlichkeitsprinzips die Einführung von Records Management begünstigt hat – im Gegensatz zur Funktion von RM in der Privatwirtschaft, wo es eben zur Absicherung gegen die Öffentlichkeit aufgebaut wurde.
Die Arbeit der Records Manager und ArchivarInnen ist fliessender geworden, und der Lebenszyklus von Geschäftsunterlagen ist auf dem Weg, ein sinnvoller Kreislauf zu werden, der mit der Langzeitarchivierung abgeschlossen wird. Es ist klar, dass diese Arbeit nach wie vor grosse und immer neue Herausforderungen mit sich bringen wird. In Privatunternehmen ist eine funktionierende und fliessende Verbindung zwischen Geschäftsverwaltung und Geschäftsarchiv nicht ohne Weiteres zu integrieren – und damit auch die Erkenntnis des langfristigen Werts von relevanten Unterlagen. Die öffentliche Verwaltung wird sich auf der anderen Seite mit dem Aspekt der Rechtssicherung noch lange schwertun. Wenn es aber gelingt, werden alle von den vorhandenen, strukturierten Informationen profitieren.
Hier wie dort ist es jedoch unabdingbar, dass einerseits das Thema der elektronischen Geschäftsverwaltung, vor allem in seinen organisatorischen Aspekten, zur Chefsache erklärt wird. Andererseits muss gewährleistet sein, dass die Aufgaben des Records Managements und der Archivverwaltung ausgewiesenen Fachleuten übergeben werden.
Ob nun ein funktionierendes Records Management organisatorisch von der Archivseite des Informationslebenszyklus aufgebaut wird, wie dies in der öffentlichen Verwaltung meist der Fall ist, oder ob es aus dem strategischen Management eines Betriebs erwächst, ist bedürfnisorientiert und strukturell bedingt; es spielt eigentlich nur eine nebensächliche Rolle. Beide Wege können durchaus erfolgreich zum Ziel führen.
Mit der vorliegenden arbido-Nummer möchten wir die verschiedenen und vielfältigen Aspekte der Arbeit von Records Managern in der Privatwirtschaft und in der öffentlichen Verwaltung präsentieren, anhand von Fallbeispielen erläutern, Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausarbeiten und zur Diskussion stellen. Wir hoffen, dass wir die InformationsspezialistInnen im öffentlichen und privaten Bereich näher zusammenbringen, das gegenseitige Verständnis fördern und zum regen Austausch ermutigen können – immer im Bewusstsein, dass die beiden Bereiche sehr viele Schnittstellen und Gemeinsamkeiten haben, aber auch klare Unterschiede zeigen. Gerade dieses Wissen um Wechselbeziehungen und Differenzen kann zum besseren Verstehen der eigenen Arbeit, aber auch zu sinnvoller Kollaboration und zum Erkennen von Zusammenhängen führen.