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2009/2 Menschenrechte in Schweizer Informations­einrichtungen

Humanitäres Engagement, Flucht und Migration: Quellen im Archiv für Zeitgeschichte

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Das Archiv für Zeitgeschichte (AfZ) verdankt seine Entstehung Klaus Urner und weiteren Mitstreitern, deren Forschungsinteresse der Geschichte der Schweiz zur Zeit des Nationalsozialismus galt. 1966 begann eine studentische «Arbeitsgruppe für Zeitgeschichte» angesichts des damals sehr restriktiven Zugangs zu den staatlichen Archiven (mindestens 50 Jahre Sperrfrist), private Unterlagen zu sammeln, um damit Grundlagen für eine quellenbasierte Forschung zur Geschichte der Schweiz seit dem Ersten Weltkrieg zu schaffen.

Zusätzlich veranstaltete Klaus Urner regelmässig Kolloquien mit Zeitzeugen, die heute in Form von historischen Tondokumenten der Forschung zur Verfügung stehen. 1974 erhielt die Arbeitsgruppe unter dem Namen «Archiv für Zeitgeschichte» im neu gegründeten Institut für Geschichte der ETH Zürich (Prof. J. F. Bergier, Prof. H. W. Tobler) eine institutionelle Heimat. In den ersten Jahren erfolgte der Aufbau der Sammlung mit ihren Abteilungen Nachlässe und Einzelbestände, Verfilmungen von Quellen zur Schweiz aus ausländischen Archiven, Dokumentationen und Ton- und Bilddokumente kontinuierlich und unter bescheidenen finanziellen, räumlichen und personellen Verhältnissen. Seit Beginn der neunziger Jahre konnte das Archiv dank umfangreicher privater Unterstützung, die zu einem grossen Teil aus jüdischen Kreisen stammt, in Partnerschaft mit der ETH Zürich entscheidend ausgebaut werden. Damit wurde die Übernahme grosser institutioneller Bestände von gesamtschweizerischer Bedeutung möglich. Genannt seien die Archive des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds, des Verbandes Schweizerischer Jüdischer Flüchtlingshilfen/Fürsorgen (VSJF) sowie der Vorgängerorganisationen von economie-suisse (Vorort, Wirtschaftsförderung). Heute gehört das Archiv für Zeitgeschichte mit seinen Dokumentationsschwerpunkten Politik, Wirtschaft und Jüdische Zeitgeschichte zu den Archiven von nationaler Bedeutung. Der Umfang der übernommenen Materialien umfasst – bei einem jährlichen Zuwachs von 150 bis 200 Laufmetern – gegenwärtig rund 4 Laufkilometer, und der ehemalige Zweimannbetrieb ist inzwischen zu einer Organisationseinheit der ETH mit 18 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern (12 Vollzeitstellen) geworden, die zu rund 40 Prozent von Drittmitteln getragen wird (vgl. K. Urner et al.: Das Archiv für Zeitgeschichte und seine Bestände, Zürich 1999, sowie www.afz.ethz.ch).

Nationalsozialismus: humanitäres Engagement, Flucht und Emigration 

Standen ganz zu Beginn Diplomatie, Militär und Presse im Vordergrund des Interesses, so gelangten – anfänglich mehr oder weniger beiläufig – auch Materialien ins Archiv, welche die humanitäre Politik der Schweiz betrafen. Seit den frühen achziger Jahren aber werden systematisch Nachlässe von Schweizerinnen und Schweizern übernommen, die sich für die Verfolgten des Nationalsozialismus einsetzten und als positive Beispiele für das schweizerische Engagement gelten können. Erwähnt seien etwa die (Teil-) Nachlässe von Pfarrer Paul Vogt, der «Flüchtlingsmutter» Gertrud Kurz, des Diplomaten Carl Lutz oder der mutigen Frauen und Männer, die sich in den Heimen und Lagern im besetzten Frankreich für die Verfolgten einsetzten (Anne-Marie Im Hof-Piguet, August und Friedel Bohny-Reiter, Sammlung von Elsbeth Kasser etc.). Eine qualitativ neue Dimension erhielt die Überlieferung zur Flüchtlingshilfe und zum humanitären Engagement mit der Übernahme der historischen Archive des VSJF und der Schweizerischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe (heute SFH). Das VSJF-Archiv dokumentiert neben der Geschichte des Verbandes in seinen Personendossiers auch das Schicksal von über 20 000 Flüchtlingen; das SFH-Archiv gibt Auskunft über die vielfältigen Tätigkeiten des 1936 gegründeten Dachverbands der schweizerischen Flüchtlingshilfswerke. Das Archiv für Zeitgeschichte ist jedoch nicht einer bestimmten politischen oder weltanschaulichen Sicht verpflichtet, sondern versucht im Gegenteil, die Multiperspektivität historischer Erfahrung zu dokumentieren und damit für die Forschung Unterlagen bereitzustellen, die über Komplexität, Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der Vergangenheit Auskunft geben. In diesem Sinn hat sich das AfZ auch um die Sicherung der Privatbestände von Personen bemüht, die im Dienste des Bundes für die Betreuung von Flüchtlingen Verantwortung trugen (z.B. Nachlässe von Otto Zaugg, dem Leiter der Zentralleitung der Heime und Lager, Hans Pfeiffer, Samuel W. Jean Richard, Ernst Meili, Charlotte Weber). Dokumentiert ist aber nicht nur die schweizerische Perspektive, sondern auch das Schicksal zahlreicher Emigranten: Persönlichkeiten wie der Publizist Werner Rings, der Philosoph Hermann Levin Goldschmidt, der im jüdisch-christlichen Dialog engagierte Professor Ernst Ludwig Ehrlich oder der Kinder- und Jugendpsychiater Heinz Stefan Herzka haben ihre Archive in den letzten Jahren dem AfZ zuhanden der Forschung anvertraut. Von internationaler Bedeutung für die Geschichte der Hilfe zugunsten der verfolgten Juden sind neben dem VSJF- Archiv die Dokumentation der Pressestelle des SIG (Jüdische Nachrichtenagentur JUNA) sowie die Privatnachlässe von Saly Mayer (Präsident des SIG und Vertreter des American Jewish Joint Distribution Committee in Europa), Gerhart Riegner (Direktor des World Jewish Congress in Genf ) und Nathan Schwalb-Dror (Hechaluz Genf ).

Humanitäre Politik seit dem Zweiten Weltkrieg 

Hat das AfZ in den neunziger Jahren Pionierarbeit geleistet, indem es die historischen Archive von VSJF und SFH gesichert und durch mehrjährige Projekte der Forschung zugänglich gemacht hat, so ist es dadurch faktisch zum Ablieferungsarchiv für diese Institutionen geworden. Eine zweite Akzession des VSJF mit Materialien bis in die neunziger Jahre steht bevor; die von der SFH übernommenen Akten reichen bis 1995. Damit ist zugleich gesagt, dass das AfZ über die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit hinaus auch das humanitäre Engagement für Flüchtlinge in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dokumentiert. Im VSJF-Archiv finden sich beispielsweise Personendossiers (mit besonderen Einsichtsbestimmungen) zu Flüchtlingen aus Ungarn oder der Tschechoslowakei; von den 20 458 dokumentierten Flüchtlingen sind 3698 nach 1945 eingereist. Die Dokumente der SFH beleuchten den Themenbereich Flucht und Emigration, die schweizerische Asylpolitik im Allgemeinen, das Verhältnis zwischen Staat und NGOs des Asylbereichs, aber auch die Aspekte der Betreuung und Integration der verschiedenen Flüchtlingsgruppen aus dem Ostblock und (ab 1970 zunehmend) aus der sogenannten Dritten Welt. Hinweise über das Asylklima in der Schweiz geben die gesammelten Medienberichte der SFH, die von 1973 bis in die Gegenwart erhalten geblieben sind. Auch das humanitäre Engagement kleinerer Organisationen ist für die ersten drei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dokumentiert. Erwähnt seien etwa das Archiv der Schweizerischen ökumenischen Flüchtlingshilfe (Teilnachlass Silvia Plüss-Pozzi, ca. 1946 bis ca. 1972), die bis 1972 reichenden Unterlagen des Christlichen Friedensdienstes (cfd) im Nachlass von Gertrud Kurz, der sich nicht als reines Hilfswerk, sondern als Teil der Friedensbewegung verstand, oder die Quellen zur (Hilfs-)Aktion für die Juden in der Sowjetunion.

Mit seinem ursprünglichen Fokus auf Politik und Diplomatie hat das Archiv für Zeitgeschichte im Laufe der Jahrzehnte namentlich im Bereich der Zeitzeugenkolloquien und der Privatnachlässe zahlreiche Informationen zur humanitären Politik der offiziellen Schweiz gesammelt. Dies gilt etwa für August R. Lindt, Jean Pictet, Paul Rüeg- ger oder Victor H. Umbricht, die sich zum einen alle im Rahmen des IKRK engagierten, darüber hinaus aber in verschiedenen internationalen Organisationen und auf zahlreichen Schauplätzen der Welt in Krisen- und Konfliktsituationen ihre Guten Dienste anboten.

Im Bereich der Flüchtlingspolitik und der humanitären Politik des 20. Jahrhunderts zählt das Archiv für Zeitgeschichte damit zu den wichtigen Anlaufstellen für die Forschung. Bei Privatpersonen und Organisationen, die sich in diesem Kontext engagierten, hat es sich als potenzielle Archivierungsstelle etabliert.

Migration

Für die Veränderungen in der Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg waren die Auswirkungen der Migration jedoch weit wichtiger als ihre Flüchtlingspolitik und ihr humanitäres Engagement. Misst man Einwanderung nicht am Bürgerrecht, das angesichts unterschiedlicher nationaler Praktiken wenig aussagt, sondern an der Frage, welcher Anteil der Wohnbevölkerung bereits im Aufenthaltsland geboren wurde, so zählt die Schweiz mit mehr als 25% Zugezogenen zu Beginn des 21. Jahrhunderts hinter Staaten wie den Vereinigten Arabischen Emiraten, Kuwait oder Israel zu den weltweit führenden Einwanderungsländern und liegt in der Statistik weit vor den klassischen Einwanderungsstaaten USA oder Kanada (Statistik der UNO 2002, zit. nach E. Piguet, Einwanderungsland Schweiz, 2006, S. 11). In den Beständen des Archivs für Zeitgeschichte wird dieser fundamentale Wandel vor allem aus wirtschaftlicher und politischer Perspektive für die erste Phase der Arbeitsmigration vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu den späten siebziger Jahren dokumentiert. So befinden sich in der Dokumentation und in der Plakatsammlung der Wirtschaftsförderung (wf ) umfangreiche Materialien zu den Überfremdungsinitiativen der siebziger Jahre, und das Archiv des Vororts enthält unter einschlägigen Stichworten wie Ausländerpolitik, Stellenvermittlung und Einreisepraxis sowie in den Länderdossiers zu einzelnen Staaten Informationen zur Arbeitsmigration. Auch die vom AfZ selbst angelegte Presseausschnittdokumentation reflektiert die politischen Debatten rund um die «Ausländerfrage», zählt das unter dem Stichwort «Ausländer allgemein» ab Mitte der sechziger Jahre bis in die Gegenwart geführte Dossier doch zu den umfangreichsten der hauseigenen Dokumentation.

Dennoch ist festzustellen, dass Migration als ein Prozess der tief greifenden Veränderung der schweizerischen Gesellschaft nur sehr selektiv und keineswegs systematisch dokumentiert wird. Fraglich ist, ob dies nur für das AfZ gilt, oder ob wir es hier mit einer systematischen Überlieferungslücke zu tun haben. Zu befürchten ist, dass der Wandel der Schweiz zum Einwanderungsland bislang vor allem aus staatlicher Sicht und nur partiell dokumentiert wird: in den Quellen der Fremdenpolizei bzw. der Migrationsämter, der Wirtschaftspolitik (und der Unternehmen), der Ausländergesetzgebung und der internationalen Beziehungen. Wer aber sichert die Überlieferung der (Selbsthilfe-)Organisationen von Immigrantinnen und Immigranten, der privaten Aktivitäten von Schweizerinnen und Schweizern zur Unterstützung ihrer Integration einerseits, aber auch gegen eine ausländische Zuwanderung anderseits? Und wo werden die individuellen Erfahrungen von Immigrantinnen und Immigranten und diejenigen ihrer Schweizer Nachbarinnen und Nachbarn gesammelt? Eine Überlieferungsbildung, die nicht nur staatliche Dokumente, sondern auch Quellen privater Provenienz sichern will, sieht sich angesichts der Migration und des damit verbundenen kulturellen und gesellschaftlichen Wandels der Schweiz deshalb mit zahlreichen neuen Herausforderungen konfrontiert.

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Dr. Gregor Spuhler

ETH Zürich, Archiv für Zeitgeschichte (AfZ)

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Le groupe de travail pour des Archives d’histoire contemporaine (AfZ) a pris son essor en 1974, en s’installant au nouvel Institut d’histoire de l’EPF à Zurich. Les premiers documents récoltés viennent d’archives étrangères et de fonds privés. Dès les années 1990, le développement est plus rapide, grâce au vaste soutien privé, en grande partie issu des milieux juifs, en partenariat avec l’EPFZ. Dès lors, les fonds de grandes institutions importantes en Suisse, comme les Archives de la communauté israélite, du Comité de l’union suisse des comités d’entraide juive (VSJF) et des premières organisations économiques de Suisse (Vorort, Promotion économique), seront pris en charge par les Archives, dont le but est de permettre un accès aux documents allant de la Première Guerre mondiale à nos jours et de constituer une bonne base pour la recherche scientifique. Les Archives d’histoire contemporaine sont d’une importance nationale: croissant de 150 à 200 mètres de rayonnage par année elles comptent environ 4 kilomètres d’étalage de documents. Dix-huit personnes (ce qui équivaut à 12 postes à plein temps) s’occupent du fonctionnement de l’établissement. Les Archives réunissent, à côté des documents diplomatiques, militaires et des médias relatifs à la période de la Seconde Guerre mondiale jusqu’à aujourd’hui, des documents sur les personnes engagées pour les victimes du nazisme et soucieuses de mettre en pratique la politique humanitaire de la Suisse. L’aide aux réfugiés a également pris une grande place dans le fonds des Archives: les dossiers de plus de 20 000 personnes y sont ainsi conservés, ainsi que de nombreux documents sur des personnalités, suisses et réfugiées, engagées dans l’aide aux réfugiés. L’accès à des documents plus récents permet de comprendre la politique d’asile et humanitaire pratiquée par la Suisse durant le XXe siècle: immigration, rapport entre l’Etat et les ONG, accompagnement et intégration des différents groupes de réfugiés de l’ancien bloc de l’Est et du tiers-monde. A travers les éléments réunis, on peut aussi se faire une idée de la place des principaux acteurs suisses au sein des organisations internationales. Le fonds révèle encore les changements de la société helvétique, ses diverses positions à l’égard des étrangers. Politiquement neutres, les Archives récoltent toute information officielle ou provenant de sources privées pour offrir aux chercheurs un outil de travail de grande qualité.