Kommentare Abstract
2009/4 Bewertung als Kernaufgabe der I&D-Welt

«We are what we keep»: die Bewertung als archivische Schlüsseldisziplin

Kommentare Abstract

Wir befinden uns in einem Zeitalter, wo die Auslese angesichts der wachsenden Aktenmassen immer wichtiger wird. Während beim Mediävisten, der nur auf eine beschränkte Schriftlichkeit zurückgreifen kann, der «kombinatorische Scharfsinn» gefragt ist, welcher die Lücken schliesst, so braucht die Zeithistorikerin eher «den sicheren Zugriff», um die wesentlichen Dokumente angesichts der Materialfülle auszuwählen. Es gibt immer mehr Akten, aber in immer mehr Akten steht weniger drin.

Der Germanist und Journalist Roman Bucheli veröffentlichte am 11. April 2009 in der NZZ am Sonntag Folgendes zum Thema Literaturarchive:

«Die Kehrseite der verfeinerten Kultur der Aufbewahrung ist die Tabuisierung des Abfalls. Wo kein Fitzelchen der archivalischen Achtsamkeit entgeht, wird die Erinnerung dereinst am überlieferten Material ersticken.»

Archivarinnen und Archivare als «Abfallvermeider und Müllverwerter», wie Bucheli weiter schreibt? Professionelle Archivarinnen und Archivare sind doch gerade das Gegenteil: Die Bewertung von Unterlagen ist für uns von jeher die «Königsdisziplin» unter den Kernaufgaben unseres Berufes. Wenn wir annehmen, dass im Durchschnitt nur rund 10% des Schriftgutes als aufbewahrungswürdig bezeichnet werden – und zwar sowohl innerhalb der Verwaltung wie auch in Privatunternehmen – dann scheint es mir, dass Archivarinnen und Archivare doch ganz im Gegenteil zur Hauptsache «Müllgenerierer» und «Entsorger» sind.

Archivierung ohne Bewertung schafft Menge; Archivierung mit Bewertung schafft Wissen. Archivarinnen und Archivare sind sozusagen die Pathologen/Gerichtsmediziner, welche die Schriftgutüberlieferung durch das Mittel der Bewertung bis aufs Skelett hinunterreduzieren und damit erst dessen Strukturen sichtbar machen; sie entfernen überflüssiges Material und schaffen durch diese Verdichtung erst den Unterschied zwischen Schriftgut und Archivgut. Dieser Bewertungsvorgang macht die Bestände eigentlich erst interpretierbar.

Überlieferung ist Chance – und sie ist natürlich gleichzeitig auch Zufall. Denn archivische Bewertung kann nicht wirklich auf die Zukunft ausgerichtet sein – für das zukünftige historische Abbild unserer Zeit brauchen wir die Verantwortung nicht zu übernehmen; eine solche Macht besitzen wir gar nicht. Unser Ziel muss es sein, keine parteiische «Auswahl» für das Bild der Zukunft zu treffen, sondern möglichst zeitnah die gegenwärtigen Strukturen und Entscheidungen transparent zu machen. Wir müssen die Bewertung so gestalten, dass das Archivgut für jeden beliebigen Auswertungszweck bereitsteht; die Auswahl werden dann die Forscherinnen und Forscher schon selbst treffen, das historische Bild selbst entwerfen.

«Der Mensch nimmt seine Gegenwart auslesend wahr», schrieb der Mediävist Arnold Esch. Dadurch erfahren wir, so sagt er, «die Wahrheit nach Mass». Was aber ist das Mass der Wahrheit? Mit der Anwendung der Bewertung versuchen wir Archivarinnen und Archivare, der Wahrheit über die Nutzungsperspektive hinaus das richtige Mass zu geben. Gute Forscherinnen und Forscher werden darüber nicht die Fassung verlieren; sie werden die Chance ergreifen und die richtigen Fragen dazu stellen, die Perspektiven zurechtrücken, Lücken erkennen und die Massstäbe ihrer Erkenntnis hoffentlich richtig legen. Denn ohne Kreativität, Fantasie, Scharfsinn und Blick für das Wesentliche bleibt jede Forschung bloss eine Pflichtübung – anstatt Kür.

Wir sorgen also dafür, dass nicht nur «gewaltige Erinnerungsmaschinen» generiert werden, sondern dass Wissen aufbereitet, kanalisiert und strukturiert wird. Dies geschieht zuerst einmal über eine klare und strikte Bewertungspolitik, die immer früher in die Geschäftsverwaltung eingreift. Hier haben wir auch eine einmalige Chance: Denn unsere bewerteten und zugänglich gemachten Unterlagen machen uns zu vertrauenswürdigen Orten, wo die Herkunft und Auswahl des Archivguts verlässlich nachzuvollziehen ist. Das ist ein nicht zu vernachlässigender Marktvorteil, den wir gegenüber der Suche in einem unstrukturierten Meer von Material, das oft schwer durchschaubaren Interessen dient, ausspielen sollten.

An unserer diesjährigen Weiterbildungstagung mit dem programmatischen Titel «Die Zukunft in unseren Händen – Bewertung als archivische Kernaufgabe/L’avenir dans nos mains – l’évaluation comme tâche archivistique essentielle» haben wir uns mit den Grundlagen, den Methoden und der Praxis unserer Königsdisziplin beschäftigt. In einer beispielhaften Zusammenarbeit hat die Arbeitsgruppe Bewertung in Zusammenarbeit mit dem VSA-Bildungsausschuss diese Tagung organisiert. Der Schwerpunkt lag nicht nur auf den – viel diskutierten – methodischen Grundlagen, sondern vor allem auf den praktischen Beispie- len und Lösungen, die in der Schweiz angewendet werden. Das Ziel war ein vermehrter Gedankenaustausch und die Ermunterung zu verstärkter Zusammenarbeit unter Archivarinnen und Archivaren – und damit eine weitere Verstärkung des Netzwerks Archivlandschaft Schweiz, eine der programmatischen Kernaufgaben unseres Berufsverbandes.

Avatar

Anna Pia Maissen

Präsidentin VSA