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2009/4 Bewertung als Kernaufgabe der I&D-Welt

Alltagsbewertung und gezielte Überlieferungsbildung

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Die Zukunft in den Händen zu halten, kann auf verschiedene Weise verstanden werden. Mit dem Material, das ihrer Institution übergeben wird, halten Archivarinnen und Archivare zukünftige Überlieferung in den Händen. Etwas in der Hand zu haben, bedeutet aber auch, Einfluss zu nehmen, Kontrolle auszuüben, Entscheidungen zu treffen.

Die Problemstellung

Im Zusammenhang mit Überlieferungsbildung kann man paradox sagen: Was man (physisch) in der Hand hat, hat man (strategisch) nicht mehr in der Hand. Denn: Auf abgeschlossene Unterlagen, die dem Archiv angeboten werden, können wir weder in Hinblick auf Form noch in Hinblick auf Inhalt einwirken. Überflüssiges kann aussortiert, Fehlendes aber nicht unbedingt ergänzt werden, zum Beispiel dort, wo Metadaten abhandengekommen sind. Bildlich gesprochen: Wer dort steht, wo Unterlagen in das Archiv einmünden, hat die zukünftige Überlieferung so wenig in der Hand, wie die Bevölkerung der Niederlanden die Qualität des Rheinwassers in der Hand hat.

Es empfiehlt sich also, mit der archivischen Bewertung an der Quelle anzusetzen, also dort präsent zu sein, wo Unterlagen entstehen. Die prospektive Bewertung, die Archivwürdigkeit von Unterlagen im Vorhinein anhand von Ordnungssystemen bestimmt, hat im Bundesarchiv strategische Priorität, so wie sie auch andernorts zum bevorzugten Ansatz in der Bewertung avanciert ist. Das Bundesarchiv hat sich das Ziel gesetzt, die prospektive Bewertung in den nächsten zwei Jahren flächendeckend auszubauen. Damit ist eine grundlegende Voraussetzung geschaffen, um auf die Zukunft der Überlieferungsbildung handfesten Einfluss zu nehmen.

Wir müssen aber noch weiter gehen, denn prospektive Bewertung ist zwar eine grosse Chance, aber kein Universalrezept für Überlieferungsbildung. Um bei dem Bild vom Fluss zu bleiben: Vom Ursprung des Rheins in den Schweizer Alpen bis zum Rhein-Maas-Delta ist es ein weiter Weg (etwa 1320 Kilometer, je nachdem, wie man misst). Dazwischen liegen Wasserfälle, Stromschnellen, ja sogar Urwald. Zwischen prospektiver Bewertung und dem Transfer von Unterlagen ins Archiv erstrecken sich Jahre, vielleicht Jahrzehnte. Dazwischen liegt die Aktenführung. Für uns ergibt sich eine ebenso schlichte wie wichtige Frage: Wie können wir sicherstellen, dass dort, wo per Ordnungssystem «Archivieren» draufsteht, am Ende auch archivwürdiges Material drin ist? Archivwürdiges Material, das ganze archivwürdige Material und – idealerweise – nichts als archivwürdiges Material?

GEVER

Gezielte Überlieferungsbildung im Bundesarchiv stützt sich auf verschiedene Elemente. Wie bereits erwähnt, setzen wir zum einen auf prospektive Bewertung, die bis Ende 2011 in der Bundesverwaltung flächendeckend umgesetzt werden soll. Dass dieser Zeitraum dem des GEVER-Programm Bund zur Umstellung der gesamten Bundesverwaltung auf elektronische Geschäftsverwaltungssysteme entspricht, ist kein Zufall. Für eine gezielte Überlieferungsbildung ist der Nexus von archivischer Bewertung und Schriftgutverwaltung von höchstem Interesse, denn Bewertung hat keine fassbaren Unterlagen zum Gegenstand, sondern geschieht auf der Grundlage von Ordnungssystemen, anhand deren zukünftig produzierte Unterlagen abgelegt werden (sollen).

GEVER bedeutet weit mehr, als dass Unterlagen künftig in elektronischer Form auftreten. Mit dem GEVER-Programm Bund ist ein Instrument geschaffen worden, um einen effizienten und rechtskonformen Umgang mit Unterlagen zu bewirken. An Geschäftsabläufen orientiert, fördert es die systematische Aufzeichnung der Geschäftstätigkeit durch die strukturierte Ablage von Akten und Dokumenten und erlaubt eine verbesserte Ablaufsteuerung sowie Geschäftskontrolle1. Die rationale Ablage von Unterlagen ist Voraussetzung dafür, dass der Wert von Unterlagen auf der Stufe Rubrik beurteilt werden kann, wie es im Bundesarchiv Standard ist.

Schwierigkeiten

Gerade weil die Bewertung nicht auf die Ebene der Dossiers herabreicht, ist es von uns von Interesse, was deren Inhalt ausmacht. Dossiers zu archivieren, die aussagekräftig sind, da sie weder Lücken aufweisen noch ausufern – das wäre ein Schritt in Richtung des heiligen Grals der Überlieferungsbildung, der feinen Balance des «so viel wie nötig, so wenig wie möglich». Dossiers können sehr verschieden umfangreich sein, von der barocken Maximaldokumentation bis zur willkürlichen Frak- taldokumentation variieren. Zwischen diesen Extremen befinden sich die Bearbeitungsdokumentation und die Kernunterlagen, die die minimal notwendige Dokumentation eines Geschäfts darstellen.

Daran, dass Aktenproduzenten aus praktischen Gründen in der Bearbeitungsdokumentation auch solches Material ablegen, das über den Minimalstandard der Kernunterlagen hinausgeht, wollen wir nichts ändern. Aber wir möchten einen solchen Minimalstandard ermitteln und ihn für Schriftgutverwaltung und Überlieferungsbildung nutzbar machen. Aus dieser Überlegung entsprang der Gedanke der Alltagsbewertung. Alltagsbewertung ist keine archivische Bewertung und soll diese keineswegs ersetzen. Sie spielt eine komplementäre Rolle, indem sie bereits im Prozess der Unterlagenproduktion ein Verständnis dafür entwickelt, welches Material (mindestens) in ein Dossier gehört. Ein reflektierter Mindeststandard beugt zum einen Lücken vor, zum anderen eröffnet er Möglichkeiten, Dossiers langfristig auf das Wesentliche zu reduzieren. Dies wiederum ermöglicht mehr Übersichtlichkeit und weniger zusätzliche Archivmasse.

Typisierung von Verfahrensabläufen aus rechtlicher Perspektive 

Um zu untersuchen, ob und wie diese Vision innerhalb der Bundesverwaltung verwirklicht werden kann, haben wir das Kompetenzzentrum Public Management (KPM) der Universität Bern beauftragt, eine Studie zur «Typisierung von Verfahrensabläufen aus rechtlicher Perspektive» durchzuführen. Hier werden Möglichkeiten untersucht, mit Hilfe einer prozessorientierten Definition bestimmter Verwaltungsverfahren («Typisierung») zu ermitteln, welche der in diesen Verfahren anfallenden Unterlagen aufbewahrt werden müssen, um die Mindestanforderungen an eine rechtsgenügende Dokumentation zu erfüllen. Ziel ist es, ein praxistaugliches Instrument («Entscheidmodell») zu entwickeln, mit dem die notwendigen Unterlagen identifi- ziert werden können. Um Praxistauglichkeit zu gewährleisten, ist es wichtig, das Projekt in enger Zusammenarbeit mit den aktenführenden Stellen in der Bundesverwaltung durchzuführen. Dass sich das Bundesamt für Landwirtschaft, das Bundesamt für Verkehr und das Bundesamt für Migration als Projektpartner haben gewinnen lassen, schätzen wir daher sehr.

Wie der Titel des Projektes schon sagt, setzt die im Entstehen begriffene Studie bei den Abläufen in der Verwaltung an und orientiert sich ausdrücklich an den rein rechtlichen Anforderungen. Dass dieser Ansatz als viel versprechend für eine Alltagsbewertung eingeschätzt wird, gründet auf der Prämisse, dass sich Leistungsprozesse in der Verwaltung aus einzelnen Handlungen zusammensetzen, welche sich nach bestimmten rechtlich relevanten Merkmalen gliedern und in typisierte Handlungsformen fassen lassen. Beispiele von Handlungsformen sind die Verfügung oder der verwaltungsrechtliche Vertrag. Sie bilden das Ergebnis eines standardisierbaren, in Teilprozesse gliederbaren Verwaltungsablaufs, als dessen Produkte Unterlagen entstehen.

Die Dienststellen der Bundesverwaltung verfügen über einen hohen Grad an Autonomie darin, wie sie ihre Aufgabenerfüllung organisieren. Da das in der Studie angestrebte Entscheidmodell eine generische, von den Dienststellen auf ihre Verhältnisse anpassbare Grundlage für die Ermittlung einer Minimaldokumentation darstellen soll, bietet die Orientierung an Grundformen von Handlungen und Prozessen klare Vorteile. Zusammen mit den rechtlichen Mindestanforderungen an die Dokumentation dienen sie dazu, die Relevanz von Unterlagen fassbar zu machen.

Weiteres Vorgehen

Gegenwärtig – das Projekt ist noch mehrere Monate und sicherlich auch weitere Lernerfahrungen von seinem Abschluss entfernt – wird im Entscheidmodell ein mehrstufiger Vorgang anvisiert, bei dem zunächst die Bedeutung der übergeordneten Aufgabe beurteilt und dann die Bedeutung des Prozesses innerhalb der Wahrnehmung dieser Aufgabe eingestuft wird. Gegenstand der dritten und letzten Bewertungsstufe sollten zunächst die einzelnen Unterlagen darstellen. Die Diskussion mit den an der Studie teilnehmenden Aktenproduzenten ergeben, dass dieses Vorgehen mit zu hohem Aufwand und individuellem Ermessen verbunden ist und auch hier Bedarf besteht, zusammenzufassen und zu standardisieren. Aus diesem Grund richtet sich das Augenmerk nun auf Teilprozesse als übergeordnete Einheit der Unterlagenproduktion, was auch dem zunehmenden Interesse an Prozessmodellierung in der Bundesverwaltung entspricht.

Der durch das Entscheidmodell ermöglichte Beurteilungsvorgang stützt sich, je nach Stufe, auf verschiedene Kriterien. Für die Stufe «Aufgabe» werden verfassungsrechtliche Gesichtspunkte herangezogen (z.B. systempolitische Relevanz, rechtsstaatliche Relevanz), für Prozesse jene der Aufsicht der Bundesversammlung und des Bundesrates über die Bundesverwaltung (z.B. Rechtmässigkeit, Wirksamkeit) gemäss Parlaments- sowie Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz.

Als Beitrag zu der Studie hat das Bundesarchiv eine Umfrage bei den schweizerischen Staatsarchiven und anderen Nationalarchiven durchgeführt, um in Erfahrung zu bringen, ob andernorts Überlegungen in die gleiche Richtung angestellt worden sind oder bereits praktische Erfahrungen vorliegen. Den achtzehn teilnehmenden Archiven sei an dieser Stelle noch einmal herzlich für die ausführlichen und hilfreichen Antworten gedankt. Ihre Auswertung offenbart eine ausgesprochen heterogene Landschaft. Das Bundesarchiv betritt mit seinem Projekt Neuland, auf das auch einige andere Archive Kurs zu nehmen scheinen. Funktionstüchtige Instrumente oder praktische Erfahrungen liegen jedoch nicht vor, weshalb die Erarbeitung am Entscheidmodell als Pionierleistung bezeichnet werden kann.

Unser Ansatz stiess aber auch auf Skepsis. Die geäusserten Bedenken bezogen sich insbesondere auf die Schwierigkeit, die Typisierung von Vorgängen mit einer sich ständig wandelnden Verwaltungsorganisation zu vereinbaren und dem Informationswert von Unterlagen die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. In der Tat ist es zu erwarten, dass die Typisierung nicht für sämtliche Vorgänge einer Dienststelle sinnvoll sein wird, wohl aber für massenhaft auftretende Verfahren, insbesondere dann, wenn es um justiziable Handlungen geht. Hier vermag eine prozessorientierte Typisierung und Beurteilung dazu beizutragen, bei der Dokumentation mehr Klarheit zu schaffen, wichtige Unterlagen von Anfang an mit besonderer Sorgfalt zu behandeln und sie, wenn die technischen Voraussetzungen bestehen, für die Archivierung auszulesen.

Ziel des Projekts

Was den Informationswert betrifft: Die Studie wurde bewusst in Auftrag gegeben, um juristische Expertise einzubringen, und konzentriert sich ausdrücklich auf eine Typisierung aus rechtlicher Perspektive. Diese Wahl bietet sich insofern an, als dass hier einige gesetzlich verankerte Vorgaben bestehen, die die Herleitung von prospektiv anwendbaren Kriterien erlauben. Gemäss dem Bewertungskonzept des Bundesarchivs fungiert die rechtlich-administrative Bedeutung von Unterlagen im Verhältnis zu deren Informationswert als primus inter pares. Sie dient als erster Filter. Wie viel zusätzlich noch überliefert werden muss, damit die historisch-sozialwissenschaftliche Forschung über ausreichend Quellen verfügen kann, ist noch zu klären. Tatsache ist sicher, dass die Verwaltung sich zu Recht nicht in erster Linie als Quellenproduzent versteht. Kann der erste Filter mittels Typisierung und Entscheidmodell innerhalb der täglichen Dossierführung reflektiert werden, ist dies bereits ein Beitrag, Überlieferungsbildung zu verfeinern. Jedoch wird der Informationswert dadurch keineswegs nebensächlich; alle Unterlagen, die im rechtlich-administrativen Filter nicht ausgelesen wurden, werden noch einmal auf ihn hin überprüftVgl. Botschaft zum Bundesgesetz über die Archivierung, Art, 7.. Gerade im Bereich der massenhaft auftretenden Vorgänge ist es durchaus denkbar, dem derzeit auf rechtliche Kriterien ausgerichteten Vorgehen ein historisch-wissenschaftliches Pendant zur Seite zu stellen. Zunächst einmal wollen wir uns jedoch vergewissern, dass die «Alltagsbewertung» zumindest im Sinne der rechtlichen Anforderungen praktisch durchführbar ist und für die Verwaltung in ihrer Haupttätigkeit sowie dann für beide Partner in der Überlieferungsbildung – die aktenbildenden Stellen und das Bundesarchiv – Nutzen bringt.

Damit ist ein weiterer wichtiger Grundsatz der Bewertung im Bundesarchiv angesprochen: Wie das Bundesgesetz über die Archivierung, dessen zehnjähriges Bestehen wir in diesem Jahr feiern, vorsieht, begreifen wir die Auswahl archivwürdiger Unterlagen als Aufgabe, deren wir uns in enger Zusammenarbeit mit den aktenproduzierenden Stellen annehmen. Dazu gehört, die einzigartige Expertise dieser Stellen anzuerkennen und ihre – gesetzliche und ethisch-politische – Verantwortung für die Überlieferungsbildung einzufordern. Dabei sind wir uns jedoch bewusst, dass es an uns ist, den Nutzen des damit verbundenen Aufwandes zu maximieren, im Heute wie im Morgen. Das beschriebene Projekt, das massgeblich von den teilnehmenden Bundesämtern unterstützt wird, verdeutlicht den möglichen beiderseitigen Gewinn.

Sobald die Entwicklung des Entscheidmodells als Prototyp abgeschlossen ist, wird es anhand von ausgewählten Prozessen bei den teilnehmenden Bundesämtern einem Praxistest unterzogen werden. Ein validiertes Instrument soll Ende Oktober dieses Jahres vorliegen. Am Anfang des Projektes stand, wie schon erwähnt, die Vision der Alltagsbewertung. Dazu, sie zur Realität zu machen, gehört viel, zum Beispiel, um eine Auslese von Kernunterlagen durch entsprechende Metadaten möglich zu machen, oder den Unterlagenproduzenten eine Schriftgutverwaltung näherzubringen, die sich an Prozessen orientiert. Aber wie heisst es bei Friedrich Dürrenmatt? Man darf nie aufhören, sich die Welt vorzustellen, wie sie am vernünftigsten wäre.

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Miriam Shergold

Schweizerisches Bundesarchiv

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Une évaluation des archives qui ne ferait que réagir à la production documentaire reviendrait à ne pas tirer profit du potentiel précieux qu’offre le records management en terme de politique d’acquisition et de support rationnel. Pour cette raison, les Archives fédérales suisses (AFS) misent sur l’évaluation prospective de l’ensemble des archives courantes. Elles cherchent à assurer que les dossiers destinés à un archivage définitif comportent un contenu significatif. Significatif dans le sens où ils ne doivent être ni lacunaires ni contenir trop de documents sans importance en terme de traçabilité de l’affaire traitée dans le dossier. A cette fin, les AFS ont initié le projet «types des procédures administratives selon les aspects juridiques». Celui-ci est en cours de réalisation par le Kompetenzzentrum Public Management (KPM) de l’Université de Berne avec la participation des AFS et de plusieurs offices de la Confédération. L’objectif du projet est de permettre aux producteurs d’arriver à identifier les documents qui doivent obligatoirement entrer dans le dossier pour en garantir la fonction probatoire. De cette manière, on peut encourager une prise de conscience sur le besoin de traçabilité des archives tout en contrôlant le volume des archives définitives nouvellement versées.