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2007/3 Überlieferungsbildung – Zusammenarbeit und gemeinsame Verantwortung für Transparenz

Von Romanshorn bis Genf: Wohin mit lokalen und regionalen Gewerkschaftsarchiven?

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Die Gewerkschaft Unia hat die Archive ihrer Vorgängerorganisationen dem Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich übergeben. Doch bleibt die Frage, was mit den unzähligen Archiven auf regionalen und lokalen Gewerkschaftssekretariaten passiert. Diese müssen als wichtige Quellen der Sozialgeschichte bewertet, gesichert und erschlossen werden.

Die Unia wünscht, dass sich die Staatsarchive auf den «Auftrag Privatarchive» verpflichten. Gleichzeitig ist sie sich bewusst, dass die Gewerkschaft für ihre Überlieferung selbst verantwortlich ist – und dass dabei ein funktionierendes Records Management eine zentrale Rolle spielt.

Überlieferungsbildung im parastaatlichen Bereich

Die private Überlieferungsbildung ist für das lokale, regionale und nationale Gedächtnis von grosser Bedeutung. Dies gilt nicht zuletzt für den so genannt parastaatlichen Bereich der Verbände, Parteien und anderer Interessenorganisationen, die im Rahmen der Vernehmlassungsverfahren seit langem eine zentrale Rolle im demokratischen Prozess spielen. Die Überlieferung dieser Verbände stellt folglich eine wichtige Quelle der Schweizer Geschichte dar. Doch sind die entsprechenden Archive oftmals gefährdet oder gar nicht mehr vorhanden. Unbestritten kann es nicht das Ziel sein, alles aufzubewahren. Auf memopolitisch und archivarisch fundierter Grundlage müssen Kriterien definiert werden, gemäss denen die Prioritäten in der Bewertung, Sicherung und Erschliessung von Beständen festgelegt werden. Obwohl Bewertung und Sicherung in vielen Fällen die wichtigsten ersten Schritte darstellen, darf daneben die Erschliessung nicht vernachlässigt werden. Im Gegenteil, sobald als möglich sollen auch die Archive privater Herkunft erschlossen und damit öffentlich zugänglich gemacht werden.

Die Lobby der Archive

Um die Sicherung der privaten Überlieferung zu gewährleisten, braucht es auf Bundes-, Kantons- und kommunaler Ebene eine Verankerung des «Auftrags Privatarchive» sowie die Bereitstellung entsprechender finanzieller Mittel. Dabei spielt der VSA eine wichtige Rolle: Seine Mitglieder müssen sich auf eine gemeinsame Politik einigen und diese gegenüber Parlamenten und Regierungen vertreten. Auch finanzielle Aspekte – koordinierte Überlieferungsbildung kostet! – sind dabei zu berücksichtigen. In Zeiten der Verknappung öffentlicher Gelder scheint eine Strategie, die projektweise die nötigen Ressourcen akquiriert, am erfolgversprechendsten.

Abliefern oder selber archivieren?

Eine aktivere Akquisitionspolitik öffentlicher Archive wäre in einzelnen Kantonen sicherlich wünschbar. Der Ball liegt aber nicht nur bei den Staatsarchiven, bei lokalen Archiven oder spezialisierten Institutionen. Auch die Verbände und Organisationen selbst sind gefordert: Professionelles Records Management und der Aufbau eigener archivischer Kompetenz sind nötig, um die Überlieferungsbildung zu sichern. Dies gilt gerade auch für Bereiche, in denen keine rechtlichen Grundlagen wie beispielsweise eine Archivierungspflicht bestehen. Öffentliche Archive und spezialisierte Institutionen können einen Teil der Aufgabe übernehmen, potentielle Ablieferer zu informieren und zu schulen. Bei diesen muss Bewusstsein für die Wichtigkeit ihrer Überlieferung geschaffen werden. Auch die Eigenarchivierung ist zu fördern, sofern sie in einem Rahmen geschieht, der den fachlichen Standards genügt und die Zugänglichkeit sicherstellt. Die Überlieferungsbildung muss transparent und nachvollziehbar erfolgen.

Aufgrund der Erfahrungen der Unia möchte ich betonen, dass Eigenarchivierung nicht in jedem Fall die beste Lösung darstellt. Dieser Weg soll nur eingeschlagen werden, wenn Finanzierung und Betrieb langfristig gewährleistet werden können. Auch die Unia hat im Vorfeld der Fusion 2004 diesen Weg in Betracht gezogen, sich jedoch aus den genannten Gründen für eine Übergabe an das Sozialarchiv entschieden: Nur so konnten professionelle Erschliessung, langfristige Erhaltung und öffentliche Zugänglichkeit garantiert werdenVergleiche dazu den Artikel von Rebekka Wyler in arbido 11/2005..

Nicht in jedem Fall ist jedoch die Übergabe an ein öffentliches Archiv oder eine spezialisierte Institution möglich. Dies gilt auch für die Gewerkschaftsarchive. Platz-, Geld- und Zeitmangel oder schlicht das Fehlen einer möglichen Institution zwingen Regionen und Sektionen, ihre Archive vorläufig selber aufzubewahren. Um dies zu erleichtern und um unkontrollierte Entsorgungsaktionen nach dem Motto «Diese Akten haben wir fortgeworfen... die waren so alt, noch von Hand geschrieben!» entgegenzuwirken, hat die Archivkommission der Gewerkschaft bereits vor der Fusion eine Handlungsanweisung erarbeitet. Diese Direktive enthält Informationen zu Sinn und Zweck des Archivs, zur Aufbewahrung der Akten und eine Liste mit dem viel sagenden Titel «Was behalten, was fortwerfen?». In Zusammenarbeit mit movendo, dem Bildungsinstitut der Gewerkschaften, bieten wir Kurse in den Bereichen Ablage, Records Management und Archivierung an. Der nächste Kurs findet im November dieses Jahres statt und steht Mitarbeiter/innen von Gewerkschaften und anderen Interessierten offen.

Eine Notwendigkeit: Records Management

Die Bewertung, Sicherung und Erschliessung bereits vorhandener Bestände ist jedoch nur die eine Seite der Medaille; sei es im eigenen Archiv oder durch die Übergabe an ein öffentliches Archiv. Genauso wichtig sind Aufbau und Strukturierung der aktuellen Überlieferung. Nicht nur in der Privatwirtschaft, auch bei privaten oder parastaatlichen Institutionen wie Verbänden, Parteien und anderen Organisationen wird ein funktionierendes Records Management immer wichtiger. Dabei spielt die Frage der elektronischen Ablage und Archivierung eine zentrale Rolle. Auch hier haben die Unterlagen übernehmenden Archivinstitutionen Anforderungen zu formulieren und die Aktenbildner im Aufbau entsprechender Strukturen zu unterstützen, sofern diese dazu nicht alleine in der Lage sind.

Die Gewerkschaft Unia hat auf Antrag der Archivkommission kurz nach ihrer Gründung im Jahr 2004 ein Records-Management-Projekt lanciert, dessen erstes Ziel die Aufstellung eines Aktenplans für das Zentralsekretariat war. Die Verpflichtung zur kohärenten Schriftgutverwaltung wird auch im Ablieferungsvertrag zwischen Unia und Sozialarchiv festgelegt. Im Moment wird das Projekt auf alle Regionen und Sektionen der Unia ausgeweitet, um eine einheitliche, nachvollziehbare und umfassende Überlieferungsbildung zu garantieren. Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung sollen hier jedoch nicht verschwiegen werden. Um mehr Klarheit zu schaffen, ist deshalb ein Reglement für den Bereich Records Management und Archiv in Vorbereitung. Das Sozialarchiv, welches das Endarchiv des Unia-Zentralsekretariats aufbewahrt, hat den Aktenplan zur Kenntnis genommen. Erste kleine Ablieferungen gemäss Aktenplan wurden bereits getätigt.

Was geschieht mit regionalen und lokalen Archiven?

Die Zentralarchive der Unia-Vorgängergewerkschaften SMUV (Gewerbe, Industrie, Dienstleistungen), GBI (Bau und Industrie), VHTL (Verkauf, Handel, Transport, Lebensmittel) sowie der kleinen Dienstleistungsgewerkschaft unia-actions wurden bereits dem Schweizerischen Sozialarchiv übergeben und sind dort inzwischen vollumfänglich zugänglich gemacht worden. Ebenfalls gesichert scheint die aktuelle Überlieferungsbildung der Unia. Was ist jedoch mit den Archiven der regionalen und lokalen Einheiten der Vorgängergewerkschaften? Von Genf bis Romanshorn existierten (und existieren teilweise immer noch) unzählige Regionen und Sektionen dreier Gewerkschaften, deren Überlieferung bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. In feuchten Kellern und auf heissen Dachböden werden alte Protokollbücher und überfüllte Ordner, Publikationen aller Art, bestickte und bemalte Fahnen sowie Fotos von Streikkomitees und Gewerkschaftsführern aufbewahrt – weit mehr also als nur schriftliche Quellen: Zeugnisse regionaler und lokaler Sozialgeschichte, die oftmals vom physischen Zerfall oder schlicht «der Mulde» bedroht sind.

Die Gewerkschaft Unia hat es sich zur Aufgabe gesetzt, nicht nur ihre zentrale, sondern auch die föderale Überlieferung zu bewahren und öffentlich zugänglich zu machen. Gemäss unserem Vertrag mit dem Schweizerischen Sozialarchiv sind für derartige Archive lokale oder regionale Lösungen zu suchen. Diese Arbeit ist sehr aufwendig, und Anfragen bei öffentlichen Archiven stossen aus den genannten Gründen nicht immer auf offene Ohren. Insbesondere geht es dabei um Geld für Erschliessung und Neuverpackung, manchmal auch um beengte räumliche Verhältnisse oder mangelndes Interesse.

Da das Unia-Archiv nur mit 50 Stellenprozent dotiert ist, wurde auf Antrag der Archivkommission auf Herbst 2007 eine Projektstelle bewilligt, die sich ausschliesslich der Rettung der Archive von Sektionen und Regionen widmen wird. Bereits erstellt wurde eine Liste der möglichen Archivstandorte (aktuelle und ehemalige Sekretariate, insgesamt über 150!). Viele Bestände sind, insbesondere durch Umzüge, akut gefährdet, und ein systematisches Vorgehen ist unabdingbar. Auch hier müssen jedoch Prioritäten gesetzt werden: Nicht jeder Bestand kann gerettet werden, und nicht alle Unterlagen können integral übernommen werden. Eine kohärente Bewertungspraxis ist deshalb von Nöten.

Wie geht die Unia vor?

Um diesen Vorgaben gerecht zu werden, müssen bei jedem Teilprojekt gewisse Schritte eingehalten werden. An erster Stelle steht jeweils die Anfrage, ob ein Staatsarchiv oder eine andere Institution überhaupt Interesse hat an unseren Beständen. Ist dieses grundsätzlich vorhanden, wird die Übernahme eingeleitet, wobei nach einer ersten Bewertung die Sicherung Priorität hat. Bei der Bewertung halten wir uns an die Richtlinien der bereits erwähnten Handlungsanweisung. Zudem ist es wichtig, zwischen Dokumenten regionaler und lokaler und Dokumenten «zentraler» Provenienz zu unterscheiden: Letztere befinden sich in den Beständen der Zentralarchive und sind lokal nicht aufzubewahren. Genauere Informationen dazu liefert das auch online auf der Homepage des Sozialarchivs verfügbare Verzeichnis der zentralen Archive von GBI, SMUV und VHTL. Hinzu kommen die Vorgaben der jeweils übernehmenden Institution, welche oftmals erst in einem zweiten Schritt umgesetzt werden können.

Die Akten, die dem jeweiligen lokalen oder kantonalen Archiv übergeben werden sollen, werden provisorisch inventarisiert, um eine Grundlage für die Ablieferung zu schaffen. Zusätzlich ist es wichtig zu wissen, ob bereits Publikationen zu Organisationen oder verwandten Gebieten vorliegen. In der Regel übergeben die Regionen und Sektionen der Unia ihre Archivbestände in Form von Dauerleihgaben. Nicht zuletzt aus juristischen Gründen ist es für die Gewerkschaft wichtig, die Bestände formal weiterhin in ihrem Besitz zu wissen, auch wenn Rückzüge selbstverständlich nicht Teil der Planung sind. Was die Schutzfristen angeht, verfolgt die Unia eine verhältnismässig liberale Politik: Allein die Protokolle der Geschäftsleitung sind einer zehnjährigen Sperrfrist unterstellt, welche auf Gesuch hin aufgehoben werden kann. Die restlichen Dokumente im Archiv sind grundsätzlich frei zugänglich. Neuere Akten des Zentralsekretariats, die als heikel gelten, werden vorläufig im Zwischenarchiv in Bern gelagert.

Für die Aufarbeitung und Erschliessung der Archivbestände sind meistens zusätzliche Mittel nötig. Eine Möglich- keit ist, dass die Gewerkschaft selbst diese Arbeiten finanziert, eine andere, dass Gemeinden oder Kantone um öffentliche Gelder, beispielsweise aus Lotteriefonds, angegangen werden. Nach erfolgreicher Übergabe und Aufarbeitung stellt sich meistens die Frage, ob die zuständige Sektion oder Region auch weiterhin sukzessive ihre Archive dem entsprechenden Staatsarchiv abliefern will. Ist dies gewünscht, ist – wie bereits erwähnt – ein funktionierendes Records Management zwingend, nicht zuletzt, um den Aufwand der übernehmenden Stelle in Grenzen zu halten und nicht regelmässig weitere Gelder akquirieren zu müssen.

Basler, Thurgauer, Genfer Archive

Auf diese Weise konnte beispielsweise das Archiv des SMUV Basel dem Staatsarchiv Basel Stadt übergeben werden. Die Archive der Gewerkschaften GBI, SMUV und VHTL im Kanton Thurgau befinden sich seit einem halben Jahr im Staatsarchiv Thurgau und harren dort ihrer Erschliessung. Andere Projekte sind lanciert worden. So ist geplant, die Archive der Kantonalberner Arbeiterbewegung (darunter fallen beispielsweise auch die Archive der SP, anderer Gewerkschaften oder des Gewerkschaftsbundes Kanton Bern) zu sammeln und gemeinsam aufzubewahren. Im Aargau haben wir ein ähnliches Projekt gestartet mit dem Ziel, die Archive der Aargauer SP- und Gewerkschaftssektionen, die sich inzwischen zu einem grössten Teil im Volkshaus in Aarau befinden, dem Staatsarchiv Aargau zu übergeben. In Genf fand kürzlich ein Treffen von Vertretern der Unia Genf mit dem Collège du Travail, einer auf die Geschichte der (Genfer) Arbeiterbewegung spezialisierten Institution, und der Unia-Archivarin statt, um mögliche Szenarien für die langfristige Sicherung der Genfer Gewerkschaftsarchive zu entwickeln. Ein Vorbild insbesondere für die grösseren Projekte, die mehrere Archivbestände umfassen, stellt dabei die Arbeit der Fondazione Pellegrini-Canevascini dar, die sich intensiv um die Archive der Tessiner Arbeiterbewegung und ihre Erforschung kümmert (vergleiche dazu den Artikel von Urs Kälin in dieser Nummer).

Vermittlung über Archivportale

Archivportale sind seit einiger Zeit in aller Munde, so existiert seit kurzem auch auf Wikipedia ein allgemeines Portal zu archivischen Themen und zur Arbeit von Archivar/innen. Als beispielhaft für ein thematisches Archivportal ist in der Schweiz sicherlich das Archiv für Agrargeschichte (vergleiche dazu den Artikel von Peter Moser in dieser Nummer) zu nennen. Auch für die ArbeiterInnengeschichte ist ein derartiger Zugang in Planung, wenn auch weit weniger ambitiös: Bestände zur Geschichte der Arbeiterbewegung in verschiedenen Archiven sollen auf einer gemeinsamen Website präsentiert werden, die darüber hinaus einen Veranstaltungskalender und weiterführende Links und Hilfsmittel umfasst. Ziel des Projektes, das von der Archivkommission der Gewerkschaft Unia, dem Schweizerischen Sozialarchiv und befreundeten OrganisationenArchiv und Bibliothek des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Fondazione Pellegrini-Canevascini (FPC), Collège du Travail (CdT), Centre international de recherches sur l’anarchisme (CIRA), Association pour l’étude de l’histoire du mouvement ouvrier (AEHMO) sowie weitere Gewerkschaften.initiiert wurde, ist die Vermittlung der breit gefächerten Archive der Arbeiterbewegung und die Förderung entsprechender Forschung.

Gemeinsames Vorgehen

Bewerten, Sichern, Erschliessen, Vermitteln: Um dies nicht nur für die staatliche, sondern auch für die para- und nicht-staatliche Überlieferungsbildung zu gewährleisten, ist ein konzertiertes Vorgehen aller involvierten Stellen nötig. Gesetzliche und finanzielle Grundlagen müssen geschaffen werden, um den «Auftrag Privatarchive» zu verankern und seine konkrete Umsetzung zu ermöglichen. Verbände, Parteien, Vereine und Interessenorganisationen aller Art haben ihrerseits die Aufgabe, Sensibilität und Kompetenz in den Bereichen Archiv und Records Management auszubauen oder überhaupt zu entwickeln, um gemeinsam mit staatlichen Archiven und spezialisierten Institutionen eine Überlieferungsbildung in Kooperation zu realisieren. Ablieferung oder Eigenarchivierung sind beispielsweise eine der Entscheidungen, die private Aktenbildner treffen müssen. Auf der anderen Seite steht die Archivwelt vor der Frage, was überhaupt alles aufbewahrt werden soll und durch wen. Ein gemeinsames Vorgehen ist nötig, um eine koordinierte Archivierung von Unterlagen privater Herkunft – wichtiger Quellen des nationalen Gedächtnisses – sicherzustellen.

Links: 

www.unia.ch

www.sozialarchiv.ch

www.movendo.ch

www.fpct.ch

Wyler Rebekka 2017

Rebekka Wyler

Rebekka Wyler ist stellvertretende Abteilungsleiterin Überlieferungsbildung am Staatsarchiv des Kantons Zürich. Sie betreut verschiedene Direktionen der kantonalen Verwaltung und gelegentlich auch Privatarchive. Ausserdem leitet sie den Bereich Gemeindearchive.