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2006/1 Memopolitik – vom Umgang mit dem Gedächtnis der Gesellschaften

Das Gedächtnis ist Aufgabe des Staats, Erinnern ist Sache der Menschen – eine Skizze

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«Nicht mehr ganz das Leben und noch nicht ganz der Tod» (Pierre Nora, Zwischen Gedächtnis und Geschichte: Die Gedächtnisorte, Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1990, Seite 17f.; vgl. auch Zitat am Schluss dieses Beitrags)

Erinnern ist Arbeit. Sie ist schwer. Sie kann wehtun. Sie kann heilen. Erich Fried hat geschrieben:

«Erinnern das ist vielleicht die qualvollste Art des Vergessens und vielleicht die freundlichste Art der Linderung dieser Qual.»

Kann man eine allgemeine Politik des Erinnerns formulieren, festlegen, umsetzen? Ich glaube nicht.

Wenn es die Behörden braucht für das Erinnern, dann geht es um Gedenktage, Gedenkfeiern. Es geht um besondere Fälle und Umstände. Die Öffnung der Quellen 1962 für Edgar Bonjours Geschichte der schweizerischen Neutralität war einer; die Einsetzung der Kommission Bergier 1997 durch den Bundesrat ein anderer. Das ist zum Glück selten nötig, denn viele erinnern sich und nehmen Mühe auf sich. Eher unglücklich die behördlich inszenierte Erinnerung an den «Diamant»-Feiern 1989, 50 Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.

Der Staat hat kein Erinnerungsmonopol, so wenig er einen Wahrheitsanspruch hat. Aber er hat die Aufgabe, das Erinnern zu ermöglichen.

Gedächtnis

Zu ermöglichen, zum Beispiel, durch eine Gedächtnispolitik. Indem der Staat bestimmt, welche Zeugnisse der Vergangenheit und Gegenwart gesammelt, aufbewahrt, erhalten, erschlossen und wissenschaftlich erforscht werden. Dazu gehört, aufzubewahren, was er lieber rasch entsorgen würde, zum Beispiel Fichen. Der Staat muss also dem Gedächtnis auch Räume zugestehen, in denen Unliebsames lagert. Das Gedächtnis der Schweiz besteht aus Gutem und Bösem.

Wie ist es in der Stadt? Ich wage für das Zurückliegende einen Blick nach vorn.

In Bern leben wir in einem labyrinthischen Gedächtnis. Die als Weltkulturgut ausgezeichnete und geschützte Altstadt ist Ausdruck einer Politik, die architektonische Vergangenheit als lebenswerte Gegenwart versteht, die in Grenzen neuen gesellschaftlichen Bedürfnissen und individuellen Ansprüchen offen steht. Neubauten sollen so gestaltet werden, dass die Schnittstelle zum Alten kenntlich, das Nach- und Miteinander ablesbar ist. Der Umgang mit der Altstadt ist in Bern Gedächtnispflege und Erinnern zugleich.

Neben dem sozusagen begeh- und bewohnbaren Archiv, das die Altstadt bildet, betreibt und unterstützt Bern Einrichtungen, deren Aufgabe ganz oder teilweise in der Erhaltung des Gedächtnisses besteht: das Stadtarchiv, die Stadt- und Universitätsbibliothek (StUB), das Historische Museum, das Kunstmuseum, das Zentrum Paul Klee, um die wichtigsten zu nennen.

Unabhängig von der Stadt arbeiten in Bern weitere Institutionen im gleichen Sinn. Ihnen sind Sammlungen von Objekten, Büchern, Papieren, bildnerischen Werken aller Art für die kommenden Generationen anvertraut.

Die Sammlungen machen den Reichtum und die Einzigartigkeit einer Institution aus. Sie sind der authentische Stoff, an dem Erinnern sich entfacht oder bewahrheitet. Allerdings äufnet und betreut jede Institution ihre Bestände nach eigenem Konzept. Zwischen Staatsarchiv, Stadtarchiv und Burgerbibliothek in der Stadt Bern gibt es neben den aufgabebedingten auch informelle Abgrenzungen von Fall zu Fall, etwa bei Schenkungen; die Frage lautet dann: Was sucht man am ehesten wo? Im Ganzen fehlt jedoch eine übergeordnete Perspektive. Zwei Beispiele:

– In Konkurrenz um den Sitz des Landesmuseums entstanden in Bern 1894 und Zürich 1898 praktisch gleichzeitig die beiden bedeutendsten Historischen Museen der Schweiz, beide mit sehr wertvollen Beständen. Daneben gibt es in der Schweiz weitere wichtige Geschichtsmuseen. Wo überschneiden sich Bestände und Sammlungstätigkeit sinnvoll, wo unnötig?

– In Bern stehen die Landesbibliothek und die StUB. Diese sammelt Bernensia (also Bücher aus und über Bern sowie von Bernerinnen und Bernern), jene Helvetica. Bernensia sind Teil der Helvetica wie Turiciensia usw. Wie viele Dubletten braucht es?

Messgewänder, Leichenwagen und weitere Objekte, Kunstwerke, Bücher, Fotos, Dokumente – ihre Erhaltung braucht Raum, je nachdem Klimatisierung, Pflege (Konservierung, Restaurierung). Soll nicht unter dem Druck knapper Mittel das Sammeln übermässig eingeschränkt und das Gesammelte vernachlässigt werden, helfen:

– ein übergeordnetes Konzept, was welche Institution sammeln und bewahren muss und welche Bestände sie abtreten oder veräussern kann;

– eine neue Einrichtung, die für die genannten und viele weitere Institutionen die Aufgabe eines zentralen Depots übernimmt.

Wie? Eine Vision.

Vision

Der öffentlichen Hand gehören, zum Beispiel in der bildenden Kunst, ungezählte Werke, die in Sammlungen und Einrichtungen an vielen Orten – in Museen, Schlössern, Repräsentationsgebäuden – verstreut sind. Stellen wir uns die Hodlers, Amiets, Meret Oppenheims einmal als imaginäre Einheit vor: auf einer Datenbank katalogisiert und erschlossen.

Und stellen wir uns vor, wir gründen einen neuen, selbstständig oder als Jointventure organisierten Betrieb, der an einem zentralen Ort die Sammlungsbestände aller im Kanton ansässigen Kunstinstitutionen und -orte sowie die diesen übergebenen Nachlässe von Künstlerinnen und Künstlern bewahrt, pflegt, erschliesst, katalogisiert, versichert und für den Leihverkehr technisch vorbereitet.

Der Ort kann eine aufgelassene Fabrik, ein Zeughaus oder dergleichen sein. Der Betrieb beschäftigt RegistrarInnen, FotografInnen, TechnikerInnen. Er führt die Datenbank mit einer Software, die andere Institutionen auch verwenden. Ein solches Zentraldepot mit allen Fachpersonen sur place entlastet jede Institution. Es gewährleistet bessere Leistungen, d.h. die sorgfältigere Betreuung der Bestände. Es tritt gegen aussen für die vereinten Sammlungen auf, die dadurch – etwa bei Leihgaben und Gegenleihgaben – als «virtuelle Einheit» genutzt werden können.

Der neue Betrieb kann ausserdem mit eigenen und mit vermittelten Gerätschaften und Dienstleistungen zentraler Materialpool sein, etwa für museumstechnische Einrichtungen, Gerätschaften und Materialien wie Beamer, DVD-Geräte, Verstärker, Lautsprecher, Vitrinen, Sockel, Beleuchtungskörper, Schnittplätze oder mit Werkstätten wie Fotolabor, Schreinerei, Schlosserei.

Handlungsbedarf in der Realität

Ob die Vision eine Chance hat oder nicht – es besteht Handlungsbedarf. Wie steht es um Geschenke? Um Nachlässe, Archive, Sammlungen, die angeboten, aufgedrängt werden? Was muss, was soll, was kann weshalb abgelehnt werden, und wo vergibt sich eine Institution eine Chance?

In jüngster Zeit ist uns vermehrt bewusst geworden, dass die Kulturförderung selber daran ist, zum Problem der Sammlungspolitik zu werden.

Indem wir die Schaffung zum Beispiel von Kunstwerken unterstützen, wirken wir am künstlerischen Erbe von morgen mit. Ab Entstehen ist deshalb die Erhaltung mitzubedenken: Datenträger, Abspielgeräte, besondere Materialien (Honig, Öl, Wachs) bedingen besondere Aufmerksamkeit. Zerfallen sie, zersetzen sie sich, gibt es sie morgen noch? Dies gilt in besonderem Mass für die Förderung des künstlerischen Schaffens mit den neuen Informations- und Kommunikationstechniken. Sie unterliegen als Software und Hardware einer besonders rasanten Generationenfolge, wobei Geschaffenes schon sehr bald nicht mehr gesehen, gehört, gelesen werden kann. Archive kennen die Antwort; sie heisst vorarchivische Schriftgutverwaltung. Ist in der Kunstförderung eine aussageunabhängige Museumstauglichkeitsvorprüfung denkbar?

Keine Sammlung ist je abgeschlossen. Das Rad der Zeit dreht sich. Auch bei sorgfältigster Auswahl sollen neue Bestände hinzukommen. Da Sammlungen aber nicht ins Unendliche wachsen können, gehört zu einer Anschaffungspolitik auch eine Verkaufspolitik. Das Wort ist heikel, der Sachverhalt aber nicht tabu. Der Ethikkodex des ICOM erlaubt unter bestimmten Umständen Verkäufe und Abtretungen. Eine Politik dafür ist deshalb nicht nur zulässig, sondern zwingend. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass eine zu offenherzige Ablehnungs- und Verkaufshaltung für die uns heute unbekannten Fragen und Erinnerungsbedürfnisse künftiger Generationen so schlimme Folgen zeitigen kann wie die Abholzung von Wäldern und die Vergandung von Wiesen und Feldern für die Erhaltung unserer Umwelt.

Zur Behandlung solcher Fragen sind alle Fachleute gefragt. Denkmalpflege von Stadt, Kanton und Bund; Heimatschutz, Archive, Bibliotheken, Museen, Institute der Universität und die Hochschule der Künste bilden in Bern mit der Landesbibliothek einen enormen Wissenspool, den Memoriav ergänzt.

Die Sammlungen und das Wissen über die Objekte, ihre Entstehung und ihre Zeit gehören zusammen, tatsächlich und virtuell.

Die erwähnten und weitere Institutionen können das Podium bilden für die Behandlung aller Fragen im Zusammenhang mit einer städtischen Gedächtnispolitik, die national eingebettet ist. Sie können zum Beispiel Kriterien definieren und Empfehlungen aufstellen für die Annahme oder Ablehnung von Nachlässen.

Die Vernetzung der Bestandeskataloge nach standardisierten Erfassungsregeln und mit einheitlichen Abfragemasken ist im Bibliothekswesen weit vorangeschritten und bedeutet schon einen Sprung hin zur skizzierten Vision. Wahrscheinlich wird eine koordinierte Anschaffungspolitik von Bibliotheken bereits mehrheitlich praktiziert. Die physische Aufbewahrung erfolgt allerdings immer noch in verstreuten, teils recht dezentral gelegenen und vielfach überfüllten Magazinen. Auch in den Archiven werden internationale Verzeichnungsnormen diskutiert. Einzelne Archive haben einen Onlinekatalog aufgeschaltet, das Bundesarchiv hat ihn angekündigt.

Eine aus finanziellen Gründen erzwungene Absprachepolitik bahnt sich bei der Massenentsäuerung bedrohter Buch- und Aktenbestände in Wimmis an. Auch bei der Mikroverfilmung von Zeitungsbeständen müssen nationale Selektionsverfahren lokalhistorischem Sammlerinteresse vorangehen.

Bewusstsein bilden

Die Leistungen spezialisierter Einrichtungen genügen – auch im besten Verbund – nicht. Die Erhaltung des nationalen Gedächtnisses ist eine Aufgabe aller gesellschaftlichen Kräfte. Sie kann nur in gemeinsamer Verantwortung erfüllt werden. Dem Bund fällt dabei die Führungsrolle zu. Das Bundesamt für Kultur (mit der Landesbibliothek und dem Landesmuseum) und das Bundesarchiv haben den Auftrag, mit den öffentlichen und wichtigen privaten Institutionen ein gesamtschweizerisches Netz zu knüpfen. Der Weg führt über die gegenseitige Information und die freiwillige Zusammenarbeit zur geplanten Koordination und schliesslich zur verbindlichen Aufgabenteilung.

Was alle angeht, können nur alle lösen. Es wäre billig, die Lösung den Fachleuten zu überlassen. Zentral ist das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit für Nutzen und Notwendigkeit, das lokale und das nationale Gedächtnis zu erhalten und dafür die erforderlichen riesigen Mittel einzusetzen. Dieses Bewusstsein ist nicht einfach da. Wir müssen es bilden. Derzeit richtet die Bevölkerung die Aufmerksamkeit eher darauf, was zum Beispiel von Museen im Scheinwerferlicht der Ausstellun- gen und Events an attraktiver und gescheiter Unterhaltung geboten wird.

Die Beurteilung mancher Institutionen wird daran gemessen, was «sie bieten». In NPM-orientierten Jahresberichten geben Kennzahlen die Einschaltquoten wider, die den Aufwand rechtfertigen – oder auch nicht. Sammlungen und Depots gelten als schwarze Löcher, die mit fragwürdigem Nutzen grosse Summen verschlingen. Das muss ändern. Der Akzent muss wieder auf die Nachhaltigkeit gelegt werden, auf das Uneigennützige, das Langfristige. Sensibilisierung ist die gemeinsame Aufgabe aller Sammlungseinrichtungen und der Kulturförderung aller Stufen.

Erinnern

Zu Beginn habe ich gesagt, Erinnern könne keine Aufgabe des Staates, der Stadt sein. Ich bleibe dabei. Aber Staat und Stadt können Erinnern ermöglichen. Sie tun es etwa – und können es systematischer tun –, indem sie Kunst und Kultur fördern. Was wir Kunst nennen, bildet mit Texten, Tönen, Bildern, Ideen, Überzeugungen einen imaginären Raum vielgestaltiger, verschiedenartiger Erinnerung. Zum Glück öffnen Künstlerinnen und Künstler, Wissenschafterinnen und Wissenschafter in Büchern, Filmen, Theaterstücken, Opern Möglichkeiten des Erinnerns. Die meisten tun es ungebeten, aus eigenem Antrieb. «Unerbetene Erinnerung» (englisch «The Politics of Memory») heisst der Titel des Berichts, den der Holocaust-Forscher Raul Hilberg über sein wissenschaftliches Lebenswerk geschrieben hat.

Unsere Kultur lebt vom Ungebetenen, vom Unzeitgemässen, vom Verfrühten und manchmal spät nochmals Aufgegriffenen. Kunstwerke sind geronnene Erinnerung, vorläufig fixierte Eindrücke. Sie halten ein Erlebnis lebendig, machen eine Erfahrung tradierbar. Kultur ist eine Traditionsreihe, in der das Gedachte und Geschaffene von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Kultur ist aber auch ständiges Aufarbeiten von Geschehenem, das nicht vergangen ist, Weitergeben der Ergebnisse, Festhalten an unbeantworteten Fragen, Suchen nach neuen Antworten.

Dies geschieht oft in anderem Rhythmus als dem des öffentlichen Bewusstseins. Die Schweiz des Zweiten Weltkriegs etwa ist in zahlreichen Werken vor allem der Literatur und des Films zur Sprache gebracht und ins Bild gesetzt worden, bevor die Bergier-Kommission eingesetzt wurde. Ein Teil der Aufarbeitung, der Klärung, ja der Aufklärung war schon geleistet worden – zuweilen im Gegensatz, ja im Widerstand zum politischen Hauptstrom, manchmal ausgesprochen politically uncorrect.

«Der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen», schreibt Milan Kundera im «Buch vom Lachen und Vergessen».

Ein neues Beispiel umstrittener Aufarbeitung der historischen Bewusstseinslage ist die Schweizer Beteiligung an Sklaverei und Sklavenhandel im 18. und 19. Jahrhundert.

Erinnern, Geschichten, Geschichte sind kulturelle Aufgaben.

«Kultur ist alles, was dem Individuum erlaubt, sich gegenüber der Welt, der Gesellschaft und auch gegenüber dem heimatlichen Erbgut zurechtzufinden, alles was dazu führt, dass der Mensch seine Lage besser begreift, um sie unter Umständen verändern zu können.»

So lautet die bekannte Definition des Europarats. Kultur ohne Erinnerung ist nicht denkbar. Kultur ist in ihrem Wesen Erinnerung. Es gibt kein Nachdenken über das, was ist, ohne ein Nachdenken über das, was war. Geschichte ist eine kulturelle Frage.

Der französische Historiker Pierre Nora hat geschrieben:

«Bemächtigt sich nicht die Geschichte unserer Erinnerungen, um sie zu verformen, zu verwandeln, sie zu kneten und erstarren zu lassen, so würden sie nicht zu Orten für das Gedächtnis. Es ist dieses Hin und Her, das sie konstruiert, Augenblicke der Geschichte, die der Bewegung der Geschichte entrissen wurden, aber ihr zurückgegeben werden. Nicht mehr ganz das Leben und noch nicht ganz der Tod, wie jene Muscheln am Strand, wenn das Meer des lebendigen Gedächtnisses sich zurückzieht.»

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Christoph Reichenau

Kultursekretär der Stadt Bern