Archive und Museen «dekolonialisieren»?
Wie können inhärent koloniale Kulturinstitutionen sowie deren Sammlungen und Archive «dekolonialisiert» werden? Momentan im Fokus vieler Schweizer Museen, ist diese Frage höchst aktuell, aber gar nicht so einfach zu beantworten.
Koloniale Vergangenheit im Fokus
Die koloniale Vergangenheit der Schweiz steht aktuell im Fokus zahlreicher Kultur- und Gedächtnisinstitutionen. Museen und Archive hinterfragen den Umgang mit ihren Sammlungen aus kolonialen Kontexten. Besondere Relevanz haben Themen wie Kolonialismus und Rassismus für ethnografische Museen. Es betrifft aber genauso naturhistorische Museen, Kunstmuseen, Archive, Bibliotheken, fotografische Sammlungen und Hochschulen. Viele Institutionen zeigen aktuelle Ausstellungen dazu, oder werden diese in Kürze eröffnen – darunter das Landesmuseum, das Museum Rietberg, das Bernische Historische Museum, die ETH-Bibliothek sowie die ethnografischen Museen in Genf und Neuchâtel, um nur einige zu nennen. Gleichzeitig legen die grossen Plattformen der zeitgenössischen Kunst einen Fokus auf dekoloniale Aspekte und Künstler:innen aus dem Globalen Süden, so die Documenta in Kassel 2022 und die diesjährige Venedig-Biennale.
Was ist wirklich «dekolonial»?
Oft wird von der «Dekolonialisierung» der Sammlungen und Archive gesprochen. Doch was wird damit gemeint? Die koloniale Vergangenheit kann nicht entfernt, sondern viel eher neu präsentiert und (selbst-)kritisch reflektiert werden. Rassistische Abbildungen und diskriminierendes Vokabular werden unzugänglich gemacht oder kontextualisiert. Die Provenienz kolonialer Sammlungsobjekte wird erforscht, Informationen zu den Sammlungsinventaren online veröffentlicht und Kooperationen mit Kulturinstitutionen in den Herkunftsländern etabliert. Künstler:innen und Aktivist:innen werden eingeladen, sich mit den kolonialen Archiven auseinanderzusetzen. Workshops und thematische Führungen werden angeboten, um Museumsbesucher:innen und Schulklassen darüber zu sensibilisieren.
Aber inwiefern ist dies wirklich «dekolonial»? Sind Museen und Archive nicht per se koloniale Institutionen, die ein eurozentristisches Kulturverständnis propagieren?1 Wer spricht und für wen?2 Ist dies im Sinne der Institutionspolitik oder jenem der betroffenen Gemeinschaften? Arbeiten wir für eine privilegierte Kulturelite oder für die Allgemeinheit? Und wen erreichen wir in den Herkunftsländern der Sammlungen? Für wen sind Fragen zum Umgang mit kulturellem Erbe prioritär, solange die globalisierte Weltordnung weiterhin von einem Machtgefälle zwischen Globalem Süden und Globalem Norden geprägt ist? Inwiefern dient die «dekoloniale» Kulturpolitik den neokolonialen Strategien ehemaliger europäischer Kolonialmächte, die in den ehemals kolonisierten Gebieten stetig an Einfluss verlieren? Wie können wir dekoloniale Projekte im Kulturbereich so gestalten, dass hegemoniale Strukturen enthierarchisiert werden und stattdessen ebenbürtige Kooperationsformen entstehen können?
Ein Beispiel aus der Praxis: Das Museum Rietberg in Zürich beherbergt das Archiv und die Sammlung des Kunstethnologen Hans Himmelheber, bestehend aus über 15'000 Fotografien, mehr als 900 Objekten und seinem Schriftenarchiv. Er forschte zwischen den 1930er und 1970er Jahren zu Kunstschaffenden in Afrika, mit einem besonderen Fokus auf die Côte d’Ivoire, Liberia und die Demokratische Republik Kongo. Das Museum pflegt eine langjährige Kooperation mit ivorischen Kulturinstitutionen, z. B. mit der Fondation Koblé in Man. Detaillierte Informationen zu den Objekten und Fotografien wurden auf der Website africa-art-archive.ch und dem städtischen Open Data Portal veröffentlicht. In verschiedenen Ausstellungen haben sich Künstler:innen mit dem Archiv befasst (u. A. Michèle Magema, Sammy Baloji, Sinzo Aanza, David Shongo, Cherry-Ann Morgan, New Kyd, Teddy Pratt, …). Ebenfalls ist der Umgang mit rassistischem Vokabular und dem kolonialen Blick in den Fotografien ein zentraler Aspekt.3
Dekolonisierung als langfristige Verpflichtung
Dekoloniale Prozesse erfordern kontinuierliches Hinterfragen unserer Denk- und Handlungsweisen und bedürfen eines klaren Engagements sowie der Bereitstellung entsprechender Ressourcen. Diese sollen von den Kulturinstitutionen nicht als befristete Projekte, sondern als langfristige und nachhaltige Verpflichtung betrachtet werden. Erste Schritte sollten sich auf die institutionellen Strukturen selbst fokussieren, sowie auf die Sensibilisierung des Personals in den Bereichen Diversität und Diskriminierung. Dazu gehört, die Perspektiven von Personen mit Rassismus- und Diskriminierungserfahrung mit einzubeziehen. Langfristige Ziele bestehen in der erweiterten physischen und digitalen Zugänglichkeit der Sammlungen sowie Kooperationen mit Personen und Partnerinstitutionen, die einen direkten Bezug dazu haben. Es ist empfehlenswert, internationale Kooperationsprojekte mit lokalen Kulturinstitutionen gemeinsam zu gestalten, um eine respektvolle Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu fördern. Dies erfordert die Bereitschaft, sich auf neue Sichtweisen einzulassen und den Umgang mit den eigenen Sammlungen zu überdenken, insbesondere was deren Präsentation und Vermittlung betrifft – sowie zur eventuellen Repatriierung verstorbener Personen und Restitution von Kulturgütern an die Herkunftsstaaten. Die sprachliche Zugänglichkeit, also die Übersetzung der Informationen zu den Sammlungen, ist ebenfalls eine wichtige Grundlage. Besondere Aufmerksamkeit ist geboten, wenn es sich um kulturell oder spirituell sensible Artefakte oder verstorbene Personen handelt.
Richtlinien für europäische Archive und Museen zum Umgang mit kolonialem Kulturerbe wurden von Museumsverbänden und Kulturministerien in der Schweiz, Deutschland, Österreich, Frankreich und dem Vereinigten Königreich publiziert. Eine Orientierung zur Online-Publikation von Daten bieten Prinzipien wie jene zu FAIR Data, OpenGLAM, Open Government Data und die CARE Principles for Indigenous Data Governance. In Absprache mit den Kooperationspartnern kann zudem der Einsatz der Traditional Knowledge Labels und Biocultural Labels von Local Contexts in Erwägung gezogen werden.
Die Dekolonialisierung von kolonialen Sammlungen und Archiven erfordert das Bestreben, diese mit einer nachhaltigen Anpassung der institutionellen Haltung und Wertevorstellungen umzusetzen – beruhend auf Respekt, Offenheit, Interesse und Willen zur Veränderung. Wichtig ist, diese Kooperationen und Prozesse der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit langfristig weiterzuführen im Bewusstsein, dass diese Arbeit nie definitiv abgeschlossen sein wird.
- 1 Vgl. Abiti Adebo Nelson und Thomas Laely, Towards a Renewed Concept of Museum in Africa – and in Europe*, «Zeitgeschichte-online» [online], 2021, <https://zeitgeschichte-online.de/themen/towards-renewed-concept-museum-africa-and-europe>, Zugriff: 14.4.2024
- 2 Vgl. Molemo Moiloas Kritik, dass der allergrösste Teil aller Publikationen zur Restitution von Afrikas Kulturerbe von europäischen oder US-amerikanischen Forschenden verfasst wurde. Siehe: Moiloa Molemo, Reclaiming Restitution. Centering and Reflecting the African Narrative, «Open Restitution Africa» [online], 2022, <https://openrestitution.africa/wp-content/uploads/2022/09/ANF-Report-Main-Report.pdf>, Zugriff: 14.4.2024
- 3 Umgang mit sensiblen Inhalten im Archiv Himmelheber, «Africa Art Archive» [online], 2023, <https://africa-art-archive.ch/explore-the-archive/disclaimer>, Zugriff: 14.4.2024.
Résumé
- Deutsch
- Français
Wie sollten Kulturinstitutionen mit ihrer kolonialen Geschichte umgehen? Diese Frage ist aktuell für zahlreiche Schweizer Museen und Archive höchst relevant. Zentral ist dabei, das eigene Denken und Handeln zu hinterfragen und sich auf einen offenen Veränderungsprozess einzulassen. Es geht darum, die koloniale Vergangenheit kritisch zu reflektieren und die eigenen Sammlungen und Archive aus dieser Perspektive zu beforschen, besser zugänglich zu machen und neu zu präsentieren.
Comment les institutions culturelles doivent-elles aborder leur histoire coloniale ? Cette question est actuellement très pertinente pour de nombreux musées et archives suisses. Il est essentiel de remettre en question ses propres pensées et actions et de s'engager dans un processus de changement ouvert. Il s'agit de réfléchir de manière critique au passé colonial et d'explorer ses propres collections et archives dans cette perspective, de les rendre plus accessibles et de les présenter différemment.