Commentaires Résumé
2024/3 Accès aux archives - droit ou devoir?

Rechtliche Elemente zur Balance von Datenschutz und Forschungsfreiheit

Commentaires Résumé

Die staatlichen Archive der Schweiz verfügen über unterschiedliche Archivgesetzgebungen. Die darin geregelten Zugangsbestimmungen sind uneinheitlich und deshalb für die Nutzerinnen und Nutzer schwer nachvollziehbar. Wie sähen ideale Elemente für harmonisierte Archivgesetze aus?

Ausschnitt Salubra 3

Ein dreifaches Spannungsfeld

Die Synopse der Archivdirektorenkonferenz über das Informations-, Datenschutz- und Archivrecht verdeutlicht die Vielfalt und Uneinheitlichkeit der archivrechtlichen Grundlagen in der Schweiz. Zudem hat seit einigen Jahren die Europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) die Diskussionen in der Schweiz intensiviert.

Datenschutz, Wissenschafts- sowie Meinungs- und Informationsfreiheit sind Grundrechte, die in den Verfassungen und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankert sind. Grundrechte sind wesentliche Rechte, die Mitgliedern der Gesellschaft gegenüber Staaten als beständig, dauerhaft und einklagbar garantiert werden. In erster Linie sind sie Abwehrrechte der Bürgerin und des Bürgers gegen den Staat. Datenschutz schützt Personen vor dem Missbrauch ihrer Daten, muss jedoch im Kontext seiner gesellschaftlichen Funktion und im Einklang mit dem Verhältnismässigkeitsprinzip gegen andere Grundrechte abgewogen werden. Personendaten vermitteln nicht nur Informationen über die betroffenen Personen, sondern sind auch ein Abbild der sozialen Realität. 

In Bezug auf Archivdaten besteht ein dreifaches Spannungsfeld. Erstens werden Daten von Behörden im Rahmen ihrer Aufgabenerfüllung erstellt und bearbeitet. Zweitens haben die betroffenen Personen ein Recht auf Schutz vor Missbrauch ihrer Daten, was als informationelle Integrität bezeichnet wird. Drittens nutzen Archivnutzerinnen und -nutzer diese Daten für die Öffentlichkeit, beispielsweise in der Geschichtsschreibung.

Das Spannungsfeld zwischen Datenschutz, Wissenschaftsfreiheit und Meinungs- und Informationsfreiheit gilt es sinnvoll auszutarieren. Es bedarf gesetzlicher Grundlagen, um die unterschiedlichen Interessen gleichwertig zu behandeln. Staatliche Archive, obwohl Teil der Verwaltung, spielen eine besondere Rolle, da sie an der Schnittstelle zwischen Verwaltung, Betroffenen und Nutzenden agieren. Es ist entscheidend, dass Archive und ihre Mitarbeitenden ihre Unabhängigkeit innerhalb der Verwaltung bewahren, um die Rechte der Betroffenen und der Nutzerinnen und Nutzer zu schützen.

Die Grundrechte auf Information und informationelle Integrität stellen Partizipation und Kontrolle von Macht in einer demokratischen Gesellschaft sicher. Der Staat übt Macht aus, und Bürgerinnen und Bürger müssen in der Lage sein, diese Macht zu kontrollieren. Auch zum Beispiel in Bezug auf Vorgänge, in denen der Staat subjektiv oder objektiv nicht richtig gehandelt hat oder sich die Bewertung darüber gewandelt hat. Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen etwa müssen wissen können, wie staatliche Akteure mit ihnen umgegangen sind, und die Gesellschaft hat ein Recht darauf, die Rolle des Staates in solchen Fällen zu erfahren.

Datenschutz darf besonders in solchen Fällen nicht als Schutz der Behörden missbraucht werden. Historische Forschung ermöglicht es, staatliches Handeln im Nachhinein nachzuvollziehen, und hierfür sind Daten, auch sensible Personendaten, unerlässlich. Wären die Daten über fürsorgerische Zwangsmassnahmen aus Datenschutzgründen gelöscht worden, könnten heute weder die Betroffenen noch die Forschung darauf zugreifen.

Vier Mechanismen um eine Balance herzustellen

Um eine Balance zwischen den zur Debatte stehenden Grundrechten herzustellen, stehen vier Mechanismen zur Verfügung. Erstens, der Funktionswandel der Daten und der Wechsel der Datenhoheit hin zum Archiv, inklusive Rückkoppelungsverbot. Zweitens, die Anbietepflicht, die sicherstellt, dass Daten dem Archiv angeboten werden. Drittens, die Umwidmung der Zweckbindung, die es ermöglicht, Daten für Archivierungs- und Forschungszwecke zu nutzen. Viertens, die Festlegung von Schutzfristen und die Möglichkeit, diese zu unterschreiten.

Wechsel der Datenhoheit

Sensible Daten dürfen nur bearbeitet werden, wenn eine gesetzliche Grundlage dafür existiert. Datenschutzgesetze schreiben vor, dass sensible Daten nur für den Zweck verwendet werden dürfen, zu dem sie erhoben wurden, und dass sie nach Erfüllung dieses Zwecks gelöscht werden müssen. Da Forschung immer eine Zweckänderung darstellt, muss gesetzlich festgelegt werden, dass Daten für Archivzwecke eine Zweckänderung erfahren können.

Der Wechsel der Datenhoheit schützt die Betroffenen davor, dass die datenproduzierende Stelle die Daten unrechtmässig weiterverwendet. Um diesen Wechsel klar zu vollziehen, wird eine Frist vereinbart, während der die Dienststelle die Daten gemäss dem Primärzweck nutzt. Danach werden die Daten dem Archiv angeboten und von diesem übernommen. Durch die Festlegung der Gebrauchsfrist wird auch die Möglichkeit geschaffen, die Daten bei der Übernahme zu bewerten. So müssen beispielsweise massenhafte Einzelfallakten nur in Auswahl langfristig erhalten werden. Hierbei steht der sekundäre Zweck der Forschung im Vordergrund, die oft am Prozess und nicht an einer bestimmten Person interessiert ist. Nach der Bewertung und teilweisen Aussonderung und Kassation ist keine Forschung am spezifischen Einzelfall mehr möglich. Auf diese Weise trägt die Bewertung zur informationellen Integrität der betroffenen Personen bei.

Rückkoppelungsverbot

Das Rückkoppelungsverbot stellt sicher, dass die Dienststelle denselben Zugriff auf archivierte Daten hat wie die Nutzerinnen und Nutzer. Betroffene sollen immer Zugang zu den Daten haben, die über sie erhoben wurden, sowohl während diese im Gebrauch sind als auch wenn sie sich im Archiv befinden. Das Rückkoppelungsverbot verhindert, dass Behörden sich selbst einen privilegierten Schutz gewähren und den Zugang zu den Daten nach eigenen Interessen erlauben oder verwehren können. Es ist zudem ein starkes Argument in der Debatte um das Recht auf Vergessen. Für Betroffene kann es schwer zu ertragen sein, dass eine Behörde, die sie subjektiv oder objektiv missbräuchlich behandelt hat, weiterhin Zugriff auf entsprechende Unterlagen hat. Ein Recht auf Vergessen schützt die Rechte der Betroffenen nur vordergründig, da die Vernichtung von Akten späteres Nachvollziehen staatlichen Fehlverhaltens unmöglich macht. Durch das Rückkoppelungsverbot kann das Archiv seine Rolle als verwaltungsunabhängige Institution ausspielen.

Ein Archivgesetz sollte den Betroffenen auch ein Recht auf Gegendarstellung und Berichtigung einräumen.

Zentrale Rolle der Schutzfristen

Schutzfristen spielen eine massgebliche Rolle im Kontext des Rechts auf Vergessen. Schutzfristen können absolut oder relativ ausgestaltet sein. Absolute Schutzfristen legen fest, ab wann ein Dossier nach Abschluss der Unterlagen oder dem jüngsten Zuwachs frei zugänglich wird. Relative Schutzfristen hingegen orientieren sich an den Lebensdaten der betroffenen Personen, wodurch Dossiers oft früher der Forschung zugänglich gemacht werden können, und trotzdem die schutzwürdigen Interessen der Betroffenen gewahrt bleiben. Diese relativen Fristen fördern den Grundsatz „So lange wie nötig – so kurz wie möglich“.

Beispielhaft werden hier die Schutzfristen des Archivgesetzes des Kantons Basel-Stadt angeführt. Publikationen benötigen keine Schutzfrist, während Sachakten 30 Jahre lang geschützt sind. Diese Dauer wird in fast allen Kantonen der Schweiz für Sachakten angewendet. Personenbezogene Unterlagen sind bis 10 Jahre nach dem Tod der Betroffenen geschützt. Ist das Todesdatum unbekannt, dauert der Schutz bis 100 Jahre nach der Geburt. Wenn weder das Todes- noch das Geburtsdatum feststellbar sind, können die Unterlagen 80 Jahre nach Abschluss genutzt werden. Die Schutzfristen für personenbezogene Unterlagen variieren deutlich zwischen den Kantonen und dem Bund. Diese Unterschiede können Forschenden Schwierigkeiten bereiten, da sie je nach Archiv unterschiedliche Fristen vorfinden.

Lange Schutzfristen stellen je nach Forschungsthema ein Hindernis dar. Hier kann mit einer Unterschreitung der Schutzfrist gezielt ein Fenster geöffnet werden. Mit Massnahmen werden dennoch die Interessen der Betroffenen gewahrt. Eine dieser Maßnahmen ist der Einsatz eines “Revers”. Ein Revers ist eine schriftliche Zusage einer Verpflichtung, die Informationen zum Umgang mit den Daten und bestimmte Auflagen enthält. Diese Verpflichtung wird vom Nutzer oder der Nutzerin unterzeichnet und ist mit einem instruierenden Gespräch verbunden. Übliche Auflagen in einem Revers sind die Einschränkung der Nutzung der Quellen auf den genannten Forschungszweck, die Anonymisierung oder Pseudonymisierung der Daten, die Verwendung der Daten nur in aggregierter Form und das Verbot der Weitergabe der Daten. In manchen Fällen wird auch vereinbart, dass die Daten nur für wissenschaftliche und nicht für journalistische Publikationen verwendet werden dürfen.

In Zusammenhang mit der Unterschreitung von Schutzfristen wird der Begriff «Forschungsprivileg» diskutiert. Der Begriff bezieht sich auf die Möglichkeit, dass nur Personen im akademischen Kontext universitärer Forschung eine Unterschreitung der Schutzfrist erhalten. Befürwortende argumentieren, dass die Bindung an eine Universität und einen Lehrstuhl eine erhöhte Sicherheit bietet, da nicht nur die forschende Person, sondern auch die Institution eingebunden ist. Zudem hätten Doktorierende oder Habilitierende ein höheres Interesse daran, ihren guten Ruf nicht zu gefährden. Gegner des Forschungsprivilegs erachten es als problematisch, ein solches Privileg gesetzlich zu verankern.

Ein zentraler Aspekt bei der Unterschreitung von Schutzfristen ist die Frage der Autorisierung. Das Archiv sollte zwingend die Unterschreitung bewilligen und nicht die aktenbildende Stelle (Rückkoppelungsverbot). In vielen Kantonen ist das Rückkoppelungsverbot nicht realisiert. Hier besteht Potential, dass es auszuschöpfen gälte.

Harmonisierung der Regelungen als Ziel

Die Ausführungen verdeutlichen die wesentlichen Aspekte einer idealen Archivgesetzgebung. Diese umfassen den Schutz der Betroffenen vor Verletzungen ihrer informationellen Integrität, die Ermöglichung zeitgeschichtlicher Forschung und die klare Festlegung der Rollen der unterlagenbildenden Stelle und des Archivs. Alle Teile greifen ineinander und schaffen so ein ausgewogenes System.

Abschliessend lässt sich sagen, dass der Gesetzgebungsprozess ausserhalb des Einflussbereichs der Archive liegt. Viele verschiedene Stellen mit unterschiedlichen Perspektiven, Interessen und Wissensständen sind daran beteiligt. Gesetzesrevisionen sind selten und erfolgen nicht auf Bestellung.

Die eingangs erwähnte Synopse über die Regulierung der Thematik in den Kantonen und beim Bund zeigt, dass die Zugangsbedingungen mit 27 unterschiedlichen Regeln für Forschende und die Öffentlichkeit kaum verständlich sind. Kein Wunder, dass sie den Archivnutzenden subjektiv willkürlich erscheinen. Eine Harmonisierung der Regelungen sollte daher ein übergeordnetes Ziel sein.

Verwendete Literatur:

  • Zwicker Josef, Grundrechte und archivarisches Selbstverständnis. Benutzungs-Rechtspraxis in der Schweiz am Beispiel Kanton Basel-Stadt, In: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Das Dienstleistungsunternehmen Archiv auf dem Prüfstand der Benutzungsorientierung. Stuttgart Verlag W. Kohlhammer, 2002, S. 69-74
  • Simitis Spiros, Programmierter Gedächtnisverlust oder reflektiertes Bewahren: Zum Verhältnis von Datenschutz und historischer Forschung, In: Fürst Walther et al. (ed), Festschrift für Wolfgang Zeidler, Berlin Walter de Gruyter, 1987, S. 1475-1506; Rudin Beat, Kollektives Gedächtnis und informationelle Integrität. Zum Datenschutz im öffentlichen Archivwesen, Aktuelle Juristische Praxis, Heft/Nummer 3, 1998, S. 247-260.
  • Boettticher von, Eike Alexander et al., Die Anpassung des rheinland-pfälzischen Landesarchivgesetzes an die DSGVO, Recht und Zugang, Heft/Nummer 2, 2020, S. 230-242.
  • Urteil (des Bundesgerichts) 2C.1024/2021 vom 2. November 2022.
  • Urteil (des Bundesgerichts) 1C.117/2021 vom 1. März 2022.
Amstutz Irene

Irene Amstutz

Seit 2009 Leiterin des Schweizerischen Wirtschaftsarchivs und der Universitätsbibliothek Wirtschaft in Basel. Mitglied der AG Archive der privaten Wirtschaft und des Bildungsausschusses des VSA. Zwischen 1999 und 2009 im Staatsarchiv Basel-Stadt vorarchivisch und in der Erschliessung tätig, ab 2008 als Leiterin Vorarchiv.

Résumé

Der Text erläutert die Grundprinzipien, mit denen das Spannungsfeld von Datenschutz und Forschungsfreiheit im Archivrecht sinnvoll austariert werden kann. Erläutert werden das Spannungsfeld und die für die Ausbalancierung sinnvollen Elemente, die ein ideales Archivgesetz enthalten sollte. Damit werden Archivmitarbeitende in Archivrecht qualifiziert und Nutzende können besser verstehen, welche Bedingungen den Zugang zu Archivgut strukturieren.

Le texte explique les principes de base qui permettent d'équilibrer judicieusement les tensions entre la protection des données et la liberté de recherche dans le droit des archives. Il explique le champ de tension et les éléments utiles à l'équilibre qu'une loi idéale sur les archives devrait contenir. Les collaborateurs et collaboratrices des archives seront ainsi qualifiés en matière de droit des archives et les utilisateurs pourront mieux comprendre les conditions qui structurent l'accès aux documents d'archives.