Gesellschaftlicher Wandel als Sammelauftrag: Das Schweizerische Sozialarchiv
Wie dokumentiert man «gesellschaftlichen Wandel»? Das Schweizerische Sozialarchiv in Zürich ist auf dieses Thema spezialisiert und muss seine Sammelstrategie kontinuierlich anpassen.
Das im Jahre 1906 gegründete Schweizerische Sozialarchiv dokumentiert gemäss seinem Leitbild «den gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Wandel vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart mit Fokus auf der Schweiz». Es ist vom Bund als die führende Forschungsinfrastruktur in diesem Bereich anerkannt und seine Sammlung figuriert im Inventar der Kulturgüter von nationaler Bedeutung. Nur: Wie sammelt man etwas so Abstraktes wie die «Gesellschaft» und ihren Wandel?
Kontinuitäten und Wandel im Sammelprofil
Gemäss aktuellem Sammelprofil ist das Sozialarchivs bemüht, «die Vielstimmigkeit gesellschaftlicher Diskussionen abzubilden und ein möglichst breites Meinungsspektrum einzufangen und zu dokumentieren.» Ein besonderer Fokus liegt dabei auf zivilgesellschaftlichen Akteuren wie Parteien, Verbänden, sozialen Bewegungen, NGOs und Komitees. Die drei Abteilungen Bibliothek, Dokumentation und Archiv sammeln dazu koordiniert und systematisch unterschiedlichste, einander ergänzende Informationsträger und Dokumentformate zu den thematischen Schwerpunkten wie Arbeitswelt, Geschlechterverhältnisse, Zusammenleben der Generationen, Wohnen, Umwelt und Verkehr, Migration, Krieg und Frieden. Daraus ergibt sich in doppelter Hinsicht die Aufgabe, Kontinuitäten und Veränderungen gegeneinander abzuwägen: inhaltlich und medial.
Alte und neue Themen und Akteure...
Auf der einen Seite erfordert gerade die Funktion als Gedächtnisinstitution eine längerfristige und kontinuierliche Sammlung in den traditionellen Themenschwerpunkten wie Arbeit und «soziale Frage» und zu den dabei wichtigen Gruppierungen (etwa gemeinnützigen Organisationen und Gewerkschaften). Auf der anderen Seite kommen neue Akteursgruppen als zugleich Indikatoren und Motoren des gesellschaftlichen Wandels kontinuierlich zum Sammelprofil hinzu. Zu nennen sind etwa die Neuen Sozialen Bewegungen, die seit den 70er-Jahren Themen wie Ökologie, Geschlechtergleichstellung, Menschenrechte, LGBT, Frieden, Migration und Entwicklung auf die politische Agenda setzen, die Jugendbewegungen der frühen 80er-Jahren, deren Bestände im Sozialarchiv besonders intensiv genutzt werden, nach der Jahrtausendwende beispielsweise Occupy oder die Klimastreikbewegung.
Zunehmend weisen solche Bewegungen andere Organisationsformen auf als traditionellere zivilgesellschaftliche Akteure, was zu deren Dokumentation neue Sammelstrategien erforderlich macht. Auch gesellschaftliche Themen wie Drogen, Stadtentwicklung, Sport oder Epidemien haben das Sammelprofil in den letzten Jahrzehnten erweitert.
Hinzu kommen Übernahmen abgeschlossener thematischer Sammlungen (wie dem Frauen-/Lesben-Archiv, dem Russlandschweizer-Archiv und jüngst dem umfangreichen Panoptikum zur Sozialgeschichte von Roland Gretler) sowie Kooperationen mit fortlaufenden Sammlungen (wie dem Schwulenarchiv Schweiz, den auf die Schweizer Rock- und Popgeschichte spezialisierten Swiss Music Archives und dem im Aufbau befindlichen digitalen Corona-Archiv), für die das Sozialarchiv als Endarchiv fungiert und die dessen thematisches Profil bereichern.
... und neue gesellschaftliche Artikulationsformen
Traditionelle und neue Akteursgruppen in den Feldern des Sammelprofils verändern im Laufe der Zeit auch ihre Artikulationsformen, was wiederum Rückwirkungen auf die Sammelaktivitäten hat. Der Aufbau der Archivabteilung Bild+Ton seit der Jahrtausendwende trägt dem Umstand Rechnung, dass verschiedene audiovisuelle Artikulationsformen die Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Akteure stark mitgeprägt haben; beispielsweise das politische Plakat seit dem frühen 20. Jahrhundert, der Film und die Schallplatte seit der Zwischenkriegszeit, das Video und die Piratenradios in den 70er- und 80er-Jahren. 1
Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert werden digitale Artikulations- und Organisationsformen immer wichtiger.2 Das Sozialarchiv hat zu deren Archivierung in den letzten Jahren Infrastrukturen aufgebaut für die Übernahme elektronischer Archivablieferungen und zur Sammlung und online-Präsentation «grauer» e-Zeitschriften sowie von Broschüren, Communiqués und Stellungnahmen politischer und gesellschaftlicher Organisationen, die nur noch digital erscheinen. 3Auch beteiligt sich das Sozialarchiv am «Webarchiv Schweiz», einem von der Nationalbibliothek geleiteten Projekt zur Archivierung landeskundlich wichtiger Websites, sowie an digitalen Vermittlungsprojekten wie «Neue Frauenbewegung 2.0» und dem «Digital Swiss Sport History Portal».
- 1 Vgl. Schweizerisches Sozialarchiv, Datenbank Bild+Ton. URL: www.bild-video-ton.ch (Zugriff am 10.05.2020).
- 2 Vgl. Koller Christian, «Digitales Sozialarchiv: Was bisher geschah», Sozialarchiv Info, Heft 1, 2018, S. 12-15. URL: https://www.sozialarchiv.ch/2018/03/12/digitales-sozialarchiv-was-bisher-geschah/ (Zugriff am 10.05.2020).
- 3 Vgl. Schweizerisches Sozialarchiv, Datenbank Sachdokumentation. URL: www.sachdokumentation.ch (Zugriff am 10.05.2020).
Résumé
- Français
Les Archives sociales suisses sont spécialisées dans le domaine du «Changement social», qui est documenté par des activités de collecte coordonnées et complémentaires par les services de bibliothèque, de documentation et d'archives. Le profil des collections doit constamment tenir compte de l'émergence de nouveaux acteurs de la société civile et de l'émergence de nouvelles formes d'articulation audiovisuelles et numériques, sans négliger les espaces de collecte traditionnels.