Commentaires Résumé
2019/1 Publics cibles

Sinus-Milieus helfen Zielgruppen zu definieren und zu verstehen

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Was bewegt die Menschen? Und wie werden sie bewegt – zum Beispiel in die Bibliothek? Das Sinus-Modell fasst Personen und deren Werte in Milieus zusammen. Diese haben sich als Element für die Zielgruppendefinition etabliert und werden oft von öffentlichen Bibliotheken genutzt, sind aber auch für Spezialbibliotheken nützlich.

Im Prinzip ist eine allgemein öffentliche Bibliothek für alle offen. Dieser hehre Grundsatz birgt aber mehrere Schwierigkeiten. So entspricht er zuerst einmal nur theoretisch der Realität; lange nicht alle Menschen benutzen eine Bibliothek – allein durch ihre Natur scheint sie viele Menschen auszuschliessen. Zudem wäre eine Bibliothek mit Angeboten für alle nicht zu finanzieren. Ohne Fokussieren auf einzelne Zielgruppen geht es darum nicht. Wenn eine Bibliothek eine neue Veranstaltungsreihe plant oder ein neues Vermittlungsangebot konzipiert, definiert sie zuerst die anvisierten Zielgruppen. Neben demografischen Indikatoren, wie Alter, Wohnort oder Einkommen, sind auch die verschiedenen Lebenswelten unserer Gesellschaft interessant und relevant. Hier können die Sinus-Milieus hilfreich sein.

Lebenswelten

Das Sinus-Modell beruht auf der Lebensweltanalyse unserer Gesellschaft. In den Sinus-Milieus werden Menschen zusammengefasst, die eine ähnliche Lebensauffassung und Lebensweise haben und sich in einer vergleichbaren sozialen Lage befinden; es sind also Gruppen Gleichgesinnter. Diese Menschen teilen ähnliche grundlegende Wertorientierungen und Alltagseinstellungen in Bezug auf Familie, Arbeit, Freizeit, Medien, Geld und Konsum. Entwickelt wurde diese Zielgruppentypologie für bis dato mehr als 40 Länder vom namensgebenden Sinus-Institut, einem Unternehmen für sozialwissenschaftliche und Marktforschung und Beratung. Der Begriff «Sinus-Milieu» ist eine eigene Marke – es gibt also wirklich nur jene, die das Institut definiert. Und: Das Institut erhebt und pflegt umfangreiche Daten zu jedem einzelnen Milieu, die für Marketing und Kommunikation genutzt werden können, aber natürlich gekauft werden müssen.

Das Härdöpfel-Chart

Die Sinus-Milieus für die Schweiz existieren seit 2002. Da sich die Gesellschaft und die Werte der Menschen durch Treiber, wie Globalisierung, Digitalisierung und Wirtschaftsverlauf, verändern, werden die Sinus-Milieus von Zeit zu Zeit aktualisiert; das Schweizer Modell zuletzt 2013. Die Landkarte der Sinus-Milieus ist landläufig als «Kartoffelgrafik» oder auch «Härdöpfel-Chart» bekannt. Die zehn «Kartoffeln», eine für jedes Milieu, ergeben ein modellhaftes Abbild der sozialen Schichtung und der Wertestruktur der Schweizer Gesellschaft in ihrer Wechselwirkung. So dient die Kartoffelgrafik als eine «strategische Landkarte», auf der Produkte, Marken und Medien oder eben auch Bibliotheksdienstleistungen positioniert werden.

Die Sinus-Milieus in der Schweiz 2016 (Quelle: Sinus-Institut)

Die ganze Schweiz in zehn Milieus

Im Sinus-Modell verteilen sich die «Kartoffeln» in einer Matrix, welche die soziale Lage auf der y-Achse verteilt (Oberschicht/Obere Mittelschicht, Mittlere Mittelschicht, Untere Mittelschicht/Unterschicht) und die Grundorientierungen anhand von Einstellungen und Wertorientierung auf der x-Achse (Tradition, Modernisierung, Neuorientierung). Dabei gehört es zum Konzept, dass sich die Milieus teilweise überlappen. Die Grösse der «Kartoffeln» entspricht ihrem prozentualen Anteil an der Gesamtgesellschaft.

  • Arrivierte: mittleren Alters, überwiegend verheiratet, höchstes Bildungsniveau, selbstbewusst, führt ein genussbetontes Leben, denkt wirtschaftlich modern, gehobener Lebensstil.
  • Gehoben-Bürgerliche: leistungs- und anpassungsfähig, Wunsch nach gesellschaftlicher und sozialer Etablierung, schätzen Ordnung und Disziplin, Familienmenschen, klare Rollenverteilungen.
  • Genügsame Traditionelle: Nachkriegsgeneration, sparsam, sehr anpassungsfähig.
  • Postmaterielle: Familienmenschen, musikalisch begabt, gute Bildung, kritisch gegenüber Leistungsgesellschaft, mittleren Alters.
  • Bürgerliche Mitte: häuslich, aktiv in ihrem sozialen Umfeld, Arbeit, Familie und Partnerschaft ist für sie wichtig, strebt keine Veränderungen an.
  • Konsumorientierte Basis: Tiefes Bildungsniveau, mittleren Alters, häufig Existenzängste, Angst vor Modernisierungsprozessen.
  • Performer: Hohes Bildungsniveau, jung und mittleren Alters, Einsatzbereitschaft, ehrgeizig, keine Lebensplanung, exklusiver Lebensstil, Networker, enger Bezug zu neuen Medien.
  • Eskapisten: jung, häufig ledig, tiefes oder noch kein Einkommen, spassorientiert, Abwehr von Verpflichtungen und Verantwortung, wenig bis keine Zukunftsplanung.

Milieus im Wandel

Bei der letzten Anpassung 2013 haben die Sozialforscher ein Auseinanderdriften der Lebens- und Wertewelten beobachtet: Gesellschaftliche Modernisierungsprozesse verunsichern und führen zu Entwurzelung, gleichzeitig nehmen Freiheit und Wahlmöglichkeiten zu, was die Lebensqualität erhöhen kann. Die Fähigkeit zu Autonomie und Selbstbestimmung wächst, dafür ist aber ein Preis zu zahlen, in Form von einem höheren Entscheidungsdruck. Parallel vergrössert sich die digitale Spaltung. Aus diesen Gründen haben die Forschenden vom Sinus-Institut zwei Milieus entfernt und zwei neue eingeführt: «Das Milieu der Adaptiv-Pragmatischen reagiert auf die unsicherer gewordenen Lebensperspektiven mit verstärkter Anpassungsbereitschaft an die Anforderungen der modernen Gesellschaft. Pragmatismus und Nützlichkeitsdenken haben zugenommen, ebenso wie der Wunsch nach materieller und emotionaler Sicherheit. Man ist zielstrebig und leistungsbereit im Beruf und sucht sich seine hedonistischen Nischen in der Freizeit. Dieses junge Milieu der Mitte strebt nach Verankerung und Zugehörigkeit. Entgegen dem althergebrachten Klischee von Jugend geht es den meisten Adaptiv-Pragmatischen mehr darum, bald anzukommen statt stets aufzubrechen.»1 Im Kontrast dazu stehen die Digitalen Kosmopoliten. Das sei die experimentierfreudige, weltoffene, digital geprägte Avantgarde, definiert das Sinus-Institut: «Die Grundmotive der Digitalen Kosmopoliten sind Selbstverwirklichung, Freiheit und Individualismus. Ihre Lebenswelt ist geprägt von Neugier, Entdeckergeist und Kreativität. Sie sind offen gegenüber anderen Lebensformen und Kulturen, sie wenden sich gegen jegliche Form von Fundamentalismus, Intoleranz und Bevormundung, und sie sind digital weltweit vernetzt.»2

Wie können Bibliotheken Sinus-Milieus nutzen?

Bibliotheken kommen heute nicht mehr umhin, sich am Prinzip der Kundenorientierung auszurichten. Und so entwickeln sie neue Angebote oder Services, um den Bedürfnissen ihrer Kunden gerecht zu werden. Doch wenn Informationen fehlen, wie diese Bedürfnisse denn tatsächlich aussehen, ist das ein Lotteriespiel. Der Auftrag, eine Informations-, Bildungs- und Kulturstätte für alle Bürgerinnen und Bürger zu sein, macht es nicht einfacher, im Gegenteil. Beim Versuch, die Bedürfnisse genauer zu eruieren, stossen Bibliotheken bald an Grenzen, es mangelt an Know-how respektive Finanzen, um solche Marktforschungsabklärungen – denn um solche handelt es sich – zu treffen. Was vorhanden ist, sind die wenigen demografischen Daten, welche die Nutzerinnen und Nutzer beim Einschreiben hinterlassen. Kundenbefragungen können zusätzliche Informationen liefen, allerdings holt man mit ihnen nur diejenigen Leute ab, welche die Bibliothek ohnehin schon nutzen. Hier können die Sinus-Milieus weiterhelfen. Wer weiss, für welche Milieus er einen Bestand pflegt oder ein Angebot entwickelt, kann die entsprechenden Einstellungen von Anfang an mitberücksichtigen und auf die spezifischen Interessen eingehen, z. B. das Streben des Zielmilieus nach Individualität oder einem Erlebnisfaktor. Und umgekehrt können gewisse Milieus ausgeschlossen und dadurch Ressourcen gespart werden. Diese Mehrwerte können dann zielgruppenrelevant, das heisst in einer angemessenen Sprache und über die passenden Kanäle, kommuniziert werden. Statt nach dem Giesskannenprinzip «alles für alle», besser: «Das Richtige für Bestimmte». So ist das kartoffelige Milieumodell ein durchaus praxisnahes Instrumentarium für die strategische durchdachte Bestands- und Kommunikationsplanung in Bibliotheken.

Weiterführende Literatur:
Georgy, Ursula; Schade, Frauke (Hrsg.): Praxishandbuch Bibliotheks- und Informationsmarketing, Berlin, München, De Gruyter Saur, 2012.

Marty Sara 2014

Sara Marty

Sara Marty ist wissenschaftliche Archivarin und Projektleiterin bei archivsuisse in Kehrsatz/Bern. Von 2011 bis Ende 2020 arbeitete sie im Dokumentationszentrum doku-zug.ch, das sie ab 2017 als Geschäftsführerin leitete und 2020 in die Stadt- und Kantonsbibliothek Zug überführte. Von 2015 bis 2022 war sie Chefredaktorin von arbido.

Elle a étudie à Lausanne et obtenu sa Licence ès Lettres en 2004. Quoi qu'elle soit rentrée en Suisse alémanique peu après, elle profite toujours de chaque occasion qui se présente pour aller en Romandie. Après avoir travaillé quelques années en marketing et puis comme journaliste, elle a trouvé sa vocation dans le champ professionnel de l'information documentaire. Von 2012 bis 2014 hat sie das Weiterbildungsprogramm in Archiv-, Bibliotheks- und Informationswissenschaften der Universitäten Bern und Lausanne absolviert und den Titel Master of Advanced Studies in Archival, Library and Information Science (MAS ALIS) erhalten. Ihre MAS-Masterarbeit trägt den Titel «Schweizer Dokumentationslandschaft im Wandel: die Suche nach einem Berufsverständnis».