Der digitale Wandel erfordert unsere Kompetenzen und bietet neue Chancen
Die Entwicklung der Informationstechnik hat einen direkten Einfluss auf die Kompetenzen, über die Mitarbeitende von Informationsinstitutionen verfügen müssen. Aber welche sind das genau, und vor allem: In welchem Umfeld und durch welche Art der Weiterbildung lassen sich diese Kompetenzen am besten erlangen? Erkenntnisse aus einem Forschungsprojekt der Fachhochschule Potsdam.
Mittlerweile scheint es einen Konsens zu geben, dass die Entwicklung der Informationstechnik zu einem dramatischen gesellschaftlichen Wandel führen wird. Manche sprechen sogar von Transformation der Gesellschaft1. Telematik und Vernetzung, Mobilität und Ubiquität von digitalen Informations- und Freizeitangeboten haben entsprechend dem Mooreschen Gesetz exponentiell zugenommen. Gesellschaftsbeschreibungen, kritische Analysen und Zukunftsempfehlungen haben Konjunktur2. Daniel Pink spricht dabei von der Entwicklung vom Informationszeitalter zum «Konzeptzeitalter», weil Informationsarbeit und alles, was auf logischen Entscheidungen beruht, inzwischen von Maschinen und Algorithmen übernommen werden kann, grundlegende, kreative Entscheidungen und konzeptuelle Entwicklungen aber nicht.
Spätestens seit der Welle der Fachinformationspolitik in den 1970er-Jahren definierten sich alle Sparten unserer Branche als Informationsdienstleister. Dokumentare wandten sich zunehmend dem Endnutzer zu, Bibliothekare verstanden sich als «spezielle Informationsdienstleister» und auch Archivare entdeckten die digitale Langzeitarchivierung und historische Bildungsarbeit als Thema (auch wenn sie sich selbst in Potsdam noch nicht zur «historischen Informationswissenschaft» im Namen durchringen konnten).
Erst seit wenigen Jahren kommt es zur Wiederentdeckung abstrakterer Themen in unseren Disziplinen wie bei der Beschreibung der redocumentarisation du monde durch die französische Forschergruppe Pédauque3 oder die zunehmende Erkenntnis der Notwendigkeit von Informationsethik4 und archivischer Bewertung5.
Umdenken in der Ausbildung
Ein tief greifender Prozess des Umdenkens zur Frage der in unserer Gesellschaft notwendigen Kompetenzen hat nun auch in der deutschsprachigen ABD-Ausbildung begonnen. Gefördert wird dies seit einiger Zeit durch Massnahmen der Etablierung von Modellen und Frameworks zur Messung und Beschreibung von Kompetenzen. Noch vor der Etablierung des Europäischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen6 war das European Council of Information Agencies angetreten, die Kompetenzstruktur von Informationsspezialisten so deutlich und klar strukturiert zu beschreiben, dass auch Personen, die keine formalen Abschlüsse hatten, ihre Informations(management)kompetenzen offiziell zertifiziert bekommen konnten7.
Offensichtlich sind die formalen Strukturen der Karrierebildung immer noch so stark, dass von dieser Möglichkeit der externen Zertifizierung nur relativ wenig Gebrauch gemacht wurde. Offizielle Abschlüsse an etablierten akademischen Institutionen gelten auf dem Arbeitsmarkt (natürlich besonders im Archiv- und Bibliotheksbereich) immer noch als Garant für Kompetenzerwerb, trotz allen Diskurses über lebenslanges Lernen und gesellschaftlichen Wandel.
Nach- und Weiterqualifikation für den öffentlichen Dienst
An der Fachhochschule Potsdam wird praktisch seit Gründung von Hochschule und Fachbereich vor 25 Jahren in diesem Sinne Nach- bzw. Weiterqualifikation betrieben. Primäres Ziel der meist berufsbegleitenden Weiterbildungsangebote ist stets die Erlangung eines akademischen Grades, der befähigt, entsprechende Positionen im öffentlichen Dienst zu bekleiden. Bis vor wenigen Jahren erleichterte das Brandenburgische Hochschulgesetz einen solchen Quereinstieg strukturell durch die Option einer sogenannten Externenprüfung, mit der ähnlich wie bei einer Zertifizierung Einzelleistungen aus dem Curriculum abgeprüft oder anerkannt werden konnten.
Im Zuge des Bologna-Prozesses der europäischen Vereinheitlichung der Studienstrukturen wurde dieser Weg zunehmend erschwert, weil die Inhalte und der Ablauf immer kleinteiliger geregelt wurden. Zusätzlich öffnete das Land Brandenburg (wie mittlerweile andere Länder auch) den Hochschulzugang für beruflich Qualifizierte auch ohne klassische Hochschulreife (Abitur). Im Ergebnis wurde in Potsdam eine der berufsbegleitenden Ausbildungen in ein regelrechtes Masterstudium (Archivwissenschaft, M.A.) überführt, dessen Zugang ein absolviertes Studium und mehrjährige Praxiserfahrung voraussetzt. Im «undergraduate»-Bereich sieht dies anders aus, und die Teilnehmer an den berufsbegleitenden «Fernweiterbildungen» zur Vorbereitung auf den Bachelorabschluss kommen zunehmend via Personalentwicklungsmassnahmen aus der Praxis, die vorhandenes Personal weiter qualifizieren und auf höherwertige Stellen befördern möchte.
Direktstudium vs. berufsbegleitendes Studium
Dazu stellte sich die Frage, inwieweit die vorwiegend im Distance-Learning-Modus lernenden Kursteilnehmer tatsächlich akademische Kompetenzen erlangen können, die – so wurde vermutet – in grossem Ausmass durch die weichen Faktoren der Lebenswelt Hochschule im direkten persönlichen Kontakt mit den Professoren vermittelt werden. Vor diesem Hintergrund wurde von 2012 bis 2014 ein vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziertes Forschungsprojekt8 durchgeführt, das u. a. zum Ziel hatte, genauer zu klären, welches die Unterschiede im Kompetenzerwerb zwischen Direktstudierenden und nebenberuflich studierenden Weiterbildungsteilnehmern sind und wie diese Unterschiede ausgeglichen werden können.
Diese «Akademischen Kompetenzen in den Informationsberufen», so der Titel des Forschungsprojektes, (abgekürzt: AKIB) wurden in mehreren Analysephasen gesucht und identifiziert9. In mehreren Workshops mit Vertretern aus der Praxis der Archive und Bibliotheken wurden typische Tagesabläufe von Personen auf entsprechender Hierarchieebene definiert sowie deren Kompetenzanforderungen benannt und einer Priorisierung unterzogen. Der Fokus lag auf den sog. Schlüsselkompetenzen «überfachlicher Art», da Fachkompetenzen starr durch das Curriculum geregelt sind und anderen Steuerungsmechanismen unterliegen. Aus den Analysen mit den Praxisvertretern ergaben sich recht klare Charakterisierungen der Informationsberufe. Deutlich wurde vor allem der explizite Dienstleistungscharakter unserer Berufe, aber auch, vor allem für Archivare, die Bedeutung wirtschaftlichen Denkens in der Praxis.
Die im weiteren Sinne der Grounded Theory10, der unvoreingenommenen Herangehensweise an das zu erforschende Objekt, geschuldete Vorgehensweise des Projektes ermöglichte die Benennung von Kompetenzen direkt aus dem Aufgabenfeld heraus, ohne dass ein Kompetenzrahmen oder spezifische Begrifflichkeiten vorgegeben wurden. In einem iterativen Verfahren wurden 30 grundlegende Kompetenzen als die wesentlichen für beide Berufsfelder herauskristallisiert. Zu diesen wurden die Studierenden und Weiterbildungsteilnehmer aufgefordert, Selbsteinschätzungen vorzunehmen, deren Ergebnisse schliesslich einer Faktorenanalyse unterzogen wurden, die diese kategorisieren half. Die Ergebnisse sind in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen bestätigen sie die in der Literatur anerkannten Kompetenzmodelle einer Aufteilung der Kompetenzkategorien in Sozial-, Selbst-, Methoden- und Sachkompetenzen (neben den «Fachkompetenzen»).
Das bedeutet, dass die Ergebnisse der Kompetenzbeschreibungen der Praktiker in den vorausgehenden Workshops valide waren. In den Differenzen jedoch ergeben sich zum anderen gerade die Spezifika der Informationsberufe einerseits und der berufsbegleitenden Lernsituation andererseits. Bei Letzterer wurde deutlich, dass den Weiterbildungsteilnehmern die praktischen Konsequenzen des Lernens vor Ort in der Hochschule wie etwa konkrete Übungen am Computer oder vermehrte Projekt- und Gruppenarbeit im Studium fehlen. Als Spezifika für die Informationsberufe allgemein – und das über die Kohorten und Sparten hinweg – identifizierten wir Kompetenzen wie «strukturiertes Denken», «Analysefähigkeit» und «schriftliche Ausdrucksfähigkeit», die wir aufgrund des klaren Ergebnisses der Faktorenanalyse unter der Bezeichnung «Kognitionskompetenzen» gruppieren konnten. Zusätzlich ergab sich ein weiterer isolierter Cluster aus der Faktorenanalyse als bedeutsam für das Berufsfeld: «Kreativität».
Reflexionsfähigkeit als zentrale überfachliche Kompetenz
In der weiteren Diskussion der For- schungsergebnisse wurde die These entwickelt, dass «Reflexion» und eine grundsätzliche reflektierende Haltung, sozusagen eine ständige Metaposition, wie wir sie zum Beispiel beim Metadatenmanagement praktisch erleben, besonders charakteristisch ist für Informationsberufe. Nicht, dass andere Berufe nicht auch reflektiert handeln, aber die Forschungsergebnisse könnten darauf hindeuten, dass dies doch ein herausragendes Merkmal ist.
Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Situation des gesellschaftlichen Wandels erscheint Reflexion als eine ganz wesentliche überfachliche Kompetenz. Sie entspricht nur begrenzt dem allgemein «stillen» Cliché, das unserem Berufsfeld entgegengebracht wird. Der Moment der digitalen Transformation, wie wir ihn zurzeit erleben, erfordert in der Tat eine reflektierte Haltung und ein strukturiertes, analytisches Denken hin zum Konzep- tuellen, wie es sich in der oben erwähnten Renaissance einzelner abstrakterer Themengebiete in unseren Fachdisziplinen schon äussert. Aber auch die Praxis macht deutlich, dass unsere Institutionen trotz Einbindung in die starren Strukturen des öffentlichen Dienstes konzeptuelles Denken und Handeln entwickeln, ganz wie Dan Pink dies voraussagte. Die Aufnahme der Maker-Space-Bewegung in den Bibliotheken oder die Entwicklung gänzlich neuer Bibliothekskonzepte wie die Idea Stores in London oder die jüngst eröffnete Bibliothek im Urban Media Space in Aarhus (Dänemark) sind schlagkräftige, besonders offensichtliche Beispiele im Bibliotheksbereich. Aber auch in der «normalen» Praxis ist immer wieder zu erleben, wie kreativ unsere Branche mit der Wandelsituation umgehen kann und manchmal zu einem agent of change werden kann. Wenn denn zum reflektierten Denken noch etwas Mut zur Kreativität hinzukommt, die ja in unserem Kompetenzraster durchaus bedeutsam ist.
- 1 Cole, Tim: Digitale Transformation: Wie Digitale Technologien die Zukunft vieler Unternehmen bedrohen. München: Vahlen, Franz, 2015.
- 2 Um nur zwei Beispiele zu nennen: Pink, Daniel H.: Unsere kreative Zukunft: warum und wie wir unser Rechtshirnpotenzial entwickeln müssen. München: Riemann, 2008. Floridi, Luciano et al.: The Onlife Manifesto: Being Human in a Hyperconnected Era. Wiesbaden: Springer Open, 2015.
- 3 Pédauque, Roger T.: La redocumentarisation du monde. Toulouse, France: Cépaduès- Editions, 2007.
- 4 Vallotton Preisig, Amélie; Rösch, Hermann; Stückelberger, Christoph (eds.): Ethical Dilemmas in the Information Society: How Codes of Ethics Help to Find Ethical Solutions. Geneva: Globethics.net, 2014.
- 5 Im Potsdamer ABD-integrierenden Masterstudiengang «Informationswissenschaften» wird Letzteres in einem Modul «Informationsbewertung» im Teamteaching weiterentwickelt.
- 6 Europäisches Parlament und Europäischer Rat (23.04.2008): Empfehlung zur Einrichtung des Europäischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen. EQR. In: Amtsblatt der Europäischen Union C 111 (6.5.2008), S. 1–7.
- 7 European Council of Information Associations (ECIA): Euroguide. Handbuch für Informationskompetenz (BID). 2 Bände. Frankfurt (Main): DGI Verlag, 2004.
- 8 Vgl. die Projektwebsite: http://akib.fh-potsdam.de.
- 9 Zu den primären Ergebnissen und Schlussfolgerungen, vgl. den Beitrag des Projektes im Abschlusssammelband von ANKOM: Hobohm, Hans-Christoph; Pfeffing, Judith; Imhof, Andres; Groeneveld, Imke: Reflexion als Metakompetenz. Ein Konzeptbegriff zur Veranschaulichung akademischer Kompetenzen beim Übergang von beruflicher zu hochschulischer Qualifikation in den Informationsberufen. In: Walburga Freitag, Regina Buhr, Eva-Maria Danzeglocke, Stefanie Schröder und Daniel Völk (Hg.): Übergänge gestalten. Durchlässigkeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung erhöhen. Münster: Waxmann, 2015, S. 173–191.
- 10 Glaser, Barney G.; Strauss, Anselm L.; Paul, Axel T. (2010): Grounded theory. Strategien qualitativer Forschung. 3., unveränd. Aufl. Bern: Huber.
Résumé
- Français
La transformation numérique a posé des défis particuliers à tous les groupes professionnels. De nouveaux concepts sont demandés pour répondre à l’informatisation toujours plus grande de la société. Les bibliothèques et les archives ont adapté depuis longtemps leurs programmes de formation face aux exigences des techniques de l’information. Cet article constate pourtant une renaissance des approches conceptuelles et théoriques dans notre domaine professionnel, selon les résultats d’un projet de recherche en analyse des compétences pour les professions de l’information. Ainsi, cette recherche montre que la pensée structurée et abstraite reste une compétence centrale des métiers de l’information documentaire. En conclusion, les institutions du domaine ABD (archives, bibliothèques, centres de documentation) sont particulièrement bien placées pour accompagner la transformation numérique par des actions réfléchies pertinentes, à condition toutefois d’être proactif et créatif.