Commentaires Résumé
2015/1 Associations I+D

Von der «persönlichen Fühlung» zum Berufsverband: Bibliothek Information Schweiz und seine Vorläufer

Commentaires Résumé

Gegründet 1897 als Freundeskreis, gelang es dem BIS in seinen ersten drei Jahrzehnten, unter Führung der Direktoren der grossen wissenschaftlichen Bibliotheken effiziente Instrumente für die Informationsversorgung der Schweiz aufzubauen. Die Öffnung zur Basis erfolgte zögerlich, und die Ausbildung wurde während vier Jahrzehnten vernachlässigt. Seinen «Höhepunkt» erlebte der BIS wohl um 1990: Er war bestimmend bei der Formalerschliessung, Ausbildung und Fernleihe. In der Folge verlor er diese Kerngebiete mehrheitlich. Die Bibliotheksverbünde gewannen an Gewicht und parallel dazu zogen sich die einst dominierenden Bibliotheksdirektoren aus dem Vorstand zurück. Eine Mitgliedererosion setzte ein. Der Verband zeigte Mühe, sich neu als Serviceorganisation zu etablieren (Der Artikel beruht i. W. auf Barth, Robert. Bibliotheken, Bibliothekarinnen und Bibliothekare in der Schweiz. Hundert Jahre bibliothekarischer Branchenverband 1897–1997. Bern 1997. Nur Hinweise auf andere Publikationen werden mit Fussnoten belegt).

Die kargen Statuten der Vereinigung Schweizerischer Bibliothekare (VSB) von 1897 enthalten keinen Zweckartikel1. Sie dienten einem Freundeskreis von Direktoren grosser wissenschaftlicher Bibliotheken, der seine weiteren Mitglieder kooptierte. Durch vermehrte «persönliche Fühlung» wollte er den fachlichen Austausch fördern. Auch wenn die ersten Zielsetzungen bescheiden waren, so kann der BIS für sich in Anspruch nehmen, der erste bibliothekarische Berufsverband mit ununterbrochener Kontinuität auf dem Kontinent zu sein2.

Die Ausgestaltung zum professionalistischen Verband nach H.-E. Tenorth3., wie dies mustergültig z.B. dem Kaufmännischen Verein gelungen ist, dauerte beim BIS vergleichsweise lange. Dazu gehört die:

– Etablierung einer Berufsvereinigung und Entwicklung eines Standesbewusstsein,

– Anerkennung des Berufs mit Laufbahnregelungen im öffentlichen Dienst,

– Definition der Zulassungsbedingungen und der Ausbildung,

– Schaffung eines Berufsbilds, – Ausarbeitung eines spezialisierten Berufswissens, – Kodifizierung spezifischer (hier: bibliothekarischer) Regeln, – Reflexion der Praxis – durch Weiterbildung und Fachzeitschriften.

Auf der Grundlage dieser Bedingungen zeichne ich einige Entwicklungszüge des BIS nach.

Die Etablierung einer Berufsvereinigung erfolgte langsam. Der Verband war ursprünglich elitär, und nur schrittweise öffnete er sich der Basis. Für die Gründer diente er der Wahrung der Interessen der Bibliotheken und der Entwicklung bibliothekarischer Arbeitsinstrumente. Erst die Statuten von 1940 sahen auch die Interessenvertretung des Personals vor. Bedingung dafür war eine Aufspaltung der Mitgliedschaft in juristische und natürliche Personen. Weitere Schritte zur Demokratisierung erfolgten 1976 und 1991 mit der vorübergehenden Einführung einer Delegiertenversammlung. Manchen dauerte dies zu lange. Ab 1947 vertrat eine «Personalkommission» und ab 1989 die «Vereinigung der Diplombibliothekare» («DiBi») gewerkschaftliche Interessen. Einen Professionalisierungsschub kann man ab 1992 erkennen, als eine vollamtliche Verbandsmanagerin das traditionelle nebenamtliche Sekretariat ablöste. Das bedeutete aber keineswegs das Ende einer ausgeprägten Milizkultur4, die sich in verschiedensten Arbeits- und Interessengruppen fortsetzte.

Von der Ausbildung eines gemeinsamen Standesbewusstseins nach aussen kann man hingegen kaum sprechen: Zu verschieden waren die fachliche Herkunft und die Tätigkeitsfelder des bibliothekarischen Personals. Es ist eher von einem Leiden am Berufsimage zu sprechen; das Arbeiten in einer Bibliothek war zu keiner Zeit mit Prestige verbunden.

Bibliothekarische Funktionen fanden Eingang in die Gehaltssysteme von Kommunen, Kantonen und Bund. Aber eine einheitliche Laufbahnregelung gab es im föderalen System natürlich nicht. Auffallend ist die Flexibilität, die es tüchtigen Berufsangehörigen ohne akademische Ausbildung möglich machte, auch in Positionen aufzurücken, die in Deutschland oder Frankreich einen Hochschulabschluss bedingten.

Eine Ausbildung, die über ein Volontariat, also eine praktische Einarbeitung in einer Bibliothek hinausging, hielt man in den ersten vier Jahrzehnten für überflüssig. 1939 fanden erstmals verbandseigene Prüfungen statt. Es dauerte gar 90 Jahre bis 1987 in Zürich und in Genf Kurse für den wissenschaftlichen Nachwuchs angeboten wurden5. Und erst nach 101 Jahren (1998) gelang es, die Grundausbildung (Berufslehre und Bachelorstudium) auf eine vom Staat anerkannte Basis zu stellen6. Allerdings sollte sich zeigen, dass die Berufslehre für den Verband weiterhin eine beträchtliche personelle und finanzielle Belastung darstellte, da die Anforderungen der Bildungsverordnung des Bundes eingehalten werden mussten7.

Lange Zeit war auch die Weiterbildung dürftig: Noch in den 1980er-Jahren bestanden landesweit nur ein bis vier Kurse pro Jahr. Die Bibliotheksverbünde waren mit internen Schulungen aktiver. Und nach der Jahrhundertwende kamen Angebote der Fachhochschulen Genf und Chur dazu. Der Ausbau erfolgte beim BIS schrittweise: In den Jahren zwischen 2008 und 2011 waren es jeweils 15 bis 20 Kurse, wobei die Teilnehmerzahl nie die Zahl von 300 Personen überstieg. Dank neuem Engagement erreichte der Verband ab 2012 mit gut 30 Kursen über 500 Personen und 2013 sogar deren 7348. Damit ist es dem BIS gelungen, sich auf dem Weiterbildungsmarkt erfolgreich zu positionieren.

Bei der Schaffung eines Berufsbilds stellt man ein Paradox fest: Meldeten sich um 1980 auf die Ausschreibung eines Ausbildungsplatzes für einen Diplombibliothekar in einer grossen Stadtbibliothek ohne Weiteres 20 Maturanden, so ist es heute schwierig, aus der ganzen Deutschschweiz die gleiche Anzahl junger Leute frisch von der (Berufs-) Matur für ein Bachelorstudium zu finden. Natürlich rankten sich (auch) in früheren Jahrzehnten falsche Vorstellungen um die Tätigkeit der Bibliothekare, doch gelang es im letzten Dezennium immer weniger, die breiten und innovativen Tätigkeitsfelder von Informationsspezialisten nach aussen zu vermitteln. Den Nachwuchs stellen vermehrt Quereinsteiger nach einem anderen Studium oder nach der Tätigkeit in einem anderen Beruf.

Die Reflexion der Praxis vor allem im Sinne der Theoriebildung blieb im ganzen 20. Jahrhundert ein Problem. Die Diplomarbeiten der verbandseigenen Ausbildung bis 1998 waren stark praxisorientiert. Zwar gaben Studienreisen der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken (SAB) namentlich nach Skandinavien den öffentlichen Bibliotheken mehrfach neue Impulse. Forschung zum schweizerischen Bibliothekswesen setzte aber erst richtig mit den Bachelor- und Masterstudiengängen ein. Die seit 1915 erscheinenden Vorgängerorgane von arbido können nur bedingt als wissenschaftliche Fachorgane gelten. Dies hat sich mit arbido (seit 1986) und v.a. in den letzten Jahren geändert.

Die Ausarbeitung eines spezialisierten Berufswissens und konkret die Kodifizierung spezifischer (bibliothekarischer) Regeln stellte nur kurze Zeit eine wichtige Aufgabe dar. Es gelang 1979 bei der Formalerschliessung mit den «VSB- Regeln» vorübergehend, einen natio- nalen Standard zu etablieren, nachdem zuvor jede Bibliothek ihr eigenes Regelwerk gepflegt hatte. Im 21. Jahrhundert hatte er internationalen Regelwerken zu weichen. Bei der Sacherschliessung war dies nie der Fall, und ein wirklicher Einfluss des Verbandes auf die Bibliotheksautomatisierung ist nicht festzustellen.

Die Kriterienliste von Tenorth für einen professionalistischen Verband wäre zu ergänzen mit der Vertretung der Interessen nach aussen. Diese nahm der BIS z.B. beim Kampf um Rabatte bei der Medienbeschaffung wahr, der in der Verbandsgeschichte des 20. Jahrhunderts immer wieder auftaucht. Erfolgreicher war der BIS in den letzten 20 Jahren bei der Abwehr von belastenden Urheberrechtsabgaben (Bibliothekstantiemen).

In der zweiten Hälfte seiner Geschichte ist es dem BIS mehrheitlich gelungen, die Regional-, Standes- und Interessengruppen pragmatisch einzubinden. Durch mehrere Anpassungen der Mitgliedschaft und der Beitragsschlüssel suchte man einen Ausgleich zwischen den Anliegen von Personal und Institutionen. Weitaus die wichtigste Interessengruppe war die 1972 gegründete Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken (SAB). Sie ist ebenfalls zusammengesetzt aus Einzel- und Kollektivmitgliedern. Auch wenn heute die Sekretariate zusammengelegt sind, so führte die SAB, die auch kleinste Schul- und Gemeindebibliotheken vertritt, durchaus ein Eigenleben. Ihre Richtlinien, Publikationen und Aus- und Weiterbildungen waren anerkannt. Da die Mitglieder der SAB oft mit Teilzeitpensen in kleinen öffentlichen Bibliotheken arbeiteten, waren sie stärker auf die Unterstützung eines Verbands angewiesen. Der Rückhalt scheint dementsprechend bei der SAB grösser zu sein. Im Gegensatz zum BIS ist es der SAB allerdings nie gelungen, eine eidgenössische Anerkennung ihrer Ausbildungskurse zu erreichen.

Bilanz: Es sei die These gewagt, dass der BIS seinen Höhepunkt Anfang der 1990er-Jahre erreichte: Der Verband verfügte über ein quasiverbindliches Regelwerk für die Formalerschliessung, organisierte die Ausbildung der Diplombibliothekare (mit Kursen in Lausanne, Bern, Zürich, Locarno), war verantwortlich für die Fernleihe, die ihr beträchtliche Einnahmen bescherte und besass ein professionelles Sekretariat. In der Folge verlor der BIS sukzessive die Kontrolle über wichtige Domänen. Einzig bei der Berufslehre hat der Verband noch einen starken Einfluss. Folgende Faktoren waren entscheidend: Die Bibliotheken verzichteten bei der Katalogisierung auf einen nationalen Standard zugunsten internationaler Regelwerke; die Ausbildung der grössten Mitarbeitergruppen übernahmen die Fachhochschulen und Universitäten; die Fernleihe physischer Medien regelten die Verbünde, und bei der Bibliotheksautomatisierung liessen diese den BIS schon gar nicht mitreden. Der Verband musste sich mit bescheideneren Mitteln als Interessenvertreter nach aussen (etwa bei den Bibliothekstantiemen) und als Dienstleister für die Mitglieder (namentlich durch Weiterbildungsangebote) neu etablieren.

Ein deutliches Zeichen der Gewichtsverschiebung vom BIS in die Verbünde ist der Rückzug der Direktoren der Universitätsbibliotheken aus den Verbandsgremien seit der Mitte der 1990er-Jahre. 1997 übernahm erstmals eine Vertreterin einer allgemeinen öffentlichen Bibliothek das Präsidium, und von 2006 bis 2013 sass kein einziger Direktor einer Universitätsbibliothek mehr im Vorstand.

Eine neue Profilierung ist noch nicht wirklich gelungen. Darauf lässt die Entwicklung der Mitgliederzahlen schliessen: 1992 zählte der BIS 1617 Kollektiv- und Einzelmitglieder, 2003 waren es 1890 und 2008 (nach der Fusion mit den Dokumentalisten) deren 1942. Seither fand eine Erosion auf 1554 Mitglieder (2013) statt9. Dabei wurden doch seit 2000 mehrere hundert Fachkräfte an den Berufsschulen, Fachhochschulen und Universitäten neu ausgebildet.

Barth Robert 2014

Robert Barth

Primarlehrerausbildung, Studium der Geschichte und Germanistik, Adjunkt an der Stadtbibliothek Winterthur, Leiter der Hauptbibliothek Zürich-Irchel, 1988–2005 Direktor der Stadt- und Universitätsbibliothek Bern, 2005–2012 Prof. für Bibliothekswissenschaft und Studienleiter Bachelorstudium Informationswissenschaft an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur.

  • 1 Im Folgenden wird «Bibliothek Information Schweiz» (BIS) verwendet. Zwischen 1992 und 2008 hiess der Verband «Verband der Bibliotheken, Bibliothekarinnen/Bibliothekare der Schweiz»(BBS), vorher Vereinigung Schweizerischer Bibliothekare (VSB).
  • 2 Älter sind die Vereinigungen in den USA, Grossbritannien, Japan und Österreich. Der letzte Verband ging aber vorübergehend im Verein Deutscher Bibliothekare auf.
  • 3 S. dazu: Tenorth, Heinz-Elmar. Professionen und Professionalisierung. In: Heinemann, Manfred (Hg). Der Lehrer und seine Organisation. Stuttgart 1977. S. 457–475
  • 4 D.h. freiwilliges, unbezahltes, nebenamtliches Engagement.
  • 5 Organisiert durch die Deutschschweizer Hochschulbibliotheken mit der Zentralbibliothek Zürich bzw. die Universität Genf (Certificat de spécialisation en information documentaire). Dieses stand auch Vertretern des mittleren Dienstes offen.
  • 6 Ab 1918 bot immerhin die Ecole d’études sociales pour femmes eine bibliothekarische Grundausbildung an.
  • 7 S. z.B. Jahresbericht 2005, S. 4 f.
  • 8 S. die jeweiligen Jahresberichte.
  • 9 Barth (1997), S. 167; Jahresbericht BIS 2011, S. 3 und 2013, S. 5. Die Werte einzelner Jahresberichte weichen allerdings z.T. stark von den Zusammenstellungen ab.

Résumé

Fondée en 1897 par un cercle d’amis, BIS est parvenue à développer durant les trois premières décennies, sous la conduite des directeurs des grandes bibliothèques scientifiques, des instruments efficients pour la fourniture d’informations en Suisse. L’ouverture vers la base s’est faite avec hésitation et la formation sera délaissée pendant quatre décennies. C’est vers 1990 que BIS connut son «apogée»: l’association déterminait en effet le catalogage formel, la formation et le prêt à distance. Elle perdit globalement par la suite son influence dans ces domaines-clés. Les réseaux de bibliothèques gagnèrent en importance, tandis que les directeurs de bibliothèques, qui dominaient autrefois le comité central, se retiraient. L’effectif des membres s’éroda. L’association eut de la peine à s’établir en tant qu’organisation de services.