Aktuelle Aufgaben und Herausforderungen von Wirtschaftsarchiven
Überlieferungsbildung, Zugangsregelung und Finanzierung bedeuten zentrale Herausforderungen für (Wirtschafts-) Archive. Ist der Grundsatzentscheid zugunsten eines Archivs gefällt, erschwert die Spannung zwischen Zugangsrecht auf der einen Seite und Kontrollrecht über Privateigentum auf der anderen Lösungen, die alle Interessen angemessen berücksichtigen. Und wo das Kosten-Nutzen-Kalkül oberstes Prinzip ist, stehen Institut und Personal des Unternehmensarchivs unter stetigem Rechtfertigungsdruck.
Erkundigen sich Griechen im Begrüssungsritual gegenseitig interessiert, was es Neues gibt, lautet die Antwort nicht selten: «das Alte». Dieses Heft zeigt, dass auch viele der in Wirtschaftsarchiven und vergleichbaren I+DInstitutionen in der Schweiz tätigen Fachleute darin geübt sind, dieselbe lakonische Auskunft zu erteilen. Zumindest, wenn sich die Frage auf die zentralen Herausforderungen ihrer Betriebe bezieht. Altbekannten, aber weiterhin akuten Handlungsbedarf orten die Autorinnen und Autoren in auffallender Übereinstimmung in den drei Bereichen der Überlieferungsbildung, der Zugangsregelung und der Finanzierung.
Privatunternehmen sind hierzulande – von den Vorgaben hauptsächlich des Obligationenrechts abgesehen – bekanntlich grundsätzlich frei, historische Archive zu führen. Tun sie dies, geschieht es im Idealfall, weil sich die Akteure ihrer gesellschaftlichen Verantwortung im Sinne einer nachvoll ziehbaren und damit transparenten Geschäftsführung bewusst sind. Im Regelfall ist allerdings der messbare Mehrwert gut organisierter Firmeninformation im Dienst von Compliance, Marketing und Kommunikation für professionell unterhaltene Unternehmensarchive ausschlaggebend (vgl. dazu «Digitale Nutzbarhaltung auf Jahrzehnte», Steigmeier/Wildi).
Was sich bei Sonnenschein mit Überzeugung und Gewinn intern und extern nutzen lässt, kann nach Strategieänderung, Fusion oder gar Konkurs in der Eigenwahrnehmung schnell zum Ballast mutieren. An die Stelle des Verwertungsgedankens tritt dann nicht selten der negativ besetzte der Entsorgung. Und der Blick richtet sich anschliessend erwartungsfroh auf die Auffangnetze der öffentlichen Archive. Nur in Glücksfällen kommt es dabei zu nachhaltigen Archivierungslösungen, welche private und öffentliche Hand gemeinsam und zu gleichen Teilen tragen.
Überlieferungsdefizite und Sensibilisierungsauftrag
Sensibilisierung lautet deshalb die Maxime. Der Beruf der Archivarin und des Archivars – nicht nur im Wirtschafts bereich! – ist von dieser Aufgabe geradezu durchdrungen. Dies spiegeln Überblicks und Praxisberichte in unterschiedlichen Aspekten (etwa «Archive von Non-Profit-Organisationen», Kälin, «Wirtschaftsinformationseinrichtungen von Finanzdienstleistern», Duc oder mit Blick auf die Fotografie «Visuelles Kulturgut in Wirtschaftsarchiven», Länzlinger).
Sensibilisierung möglichst vieler Stakeholder ist seit der Gründung der Arbeitsgruppe Archive der privaten Wirtschaft des VSA im Jahr 1994 auch der Kern von deren Mandat. Die Überlieferungssituation privater Wirtschaftsarchive diskutierte ein von der Arbeitsgruppe veranstalteter Roundtable1, der darauf angelegt war, Strategien und Massnahmen zur Verbesserung zu prüfen. Dessen Einschätzung, die Forderung nach Legiferierung sei nicht zielführend, teilen die Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe. Als Erfolg versprechend für die Sicherung von wirtschaftshistorischem Kulturgut erachten sie auch aus internationaler Perspektive nicht den Weg der Gesetzgebung, sondern «consent and persuasion» («Business Archives in the UK», Ritchie) bzw. «Konsens und Freiwilligkeit» («Das Archiv der Hoechst AG», Metternich).
Vor dieser Ausgangslage skizzierte die Arbeitsgruppe einen Modellentwurf zur Sicherung und Inwertsetzung von Wirtschaftsarchiven, der auf Koordination und Mittelbeschaffung fokussiert («Überlieferungssituation der Wirtschaftsarchive in der Schweiz», Amstutz). Den geeigneten Rahmen zur Präsentation dieser Überlegungen bot anlässlich des zwanzigjährigen Jubiläums des Gremiums die von ihm programmierte Fachtagung des VSA vom 23. Mai 20142.
Angesichts beträchtlicher, aber erklärbarer Überlieferungsdefizite («La sauvegarde des archives d’entreprises en Suisse», Christeller) erfüllt die Arbeitsgruppe mit dem Beständeverzeichnis arCHeco im Weiteren ein wichtiges, schon bei ihrer Einsetzung formuliertes Desiderat. Seit dem Jahr 2000 online, schafft arCHeco einen Überblick über die privaten Wirtschaftsarchive in der Schweiz und in Liechtenstein. Die Realisierung ihres Modellvorschlags wäre ein wichtiger Schritt hin zur Schliessung empfindlicher Lücken.
Interessenausgleich bei der Zugangsregelung
«Wenn wir uns mit Wirtschaftsarchiven beschäftigen, sind wir zwischen zwei fundamentalen demokratischen Rechten gefangen: dem Recht nach Zugang zu Information und dem Recht, Privatbesitz zu halten und zu kontrollieren»3.
Damit ist das Spannungsfeld abgesteckt, in dem die Interessen von Archivträgern, Öffentlichkeit und aktenkundigen Dritten oszillieren (vgl. dazu das Protokoll des Podiumsgesprächs «Forschung und Archive», Nerlich). Die Konzeption von Vermittlungsstrategien und nicht zuletzt die technische Ausgestaltung des Informationszugangs unter ständiger Güterabwägung zwischen diesen beiden Rechten gehört zu den schwierigsten Aufgaben im Firmenarchiv.
Die Unternehmen vertreten in die sem Punkt denn auch unterschiedliche Haltungen. Getroffene Lösungen leiten sich ganz zentral aus der innerbetrieblichen Anbindung und aus dem Auftrag des Archivs ab. So findet sich die ganze Bandbreite von der rein internen Dienstleistung bei I+D-Einrichtungen (vgl. etwa zur Swiss Re «Wissen als Grundlage des Versicherungsgeschäfts», Titschack) bis hin zur grundsätzlich allen Interessierten zugänglichen Informationsplattform für die Unternehmensgeschichte («Das Firmenarchiv der Novartis», Dettwiler) oder noch weiter gehend zur «Erlebniswelt», welche das Archiv bei der Kommunikation der Firmengeschichte inszeniert («Planung eines Besucherzentrums der Nestlé», Aenis).
Umgang mit Ressourcenknappheit
Viele (Wirtschafts)Archive sind mit notorischen Ressourcenproblemen konfrontiert. Nicht selten gesellt sich dazu – gewissermassen als komplementäre Schwesterdisziplin der Sensibilisierungsarbeit – die Notwendigkeit, die eigene Tätigkeit dauernd zu rechtfertigen. Dieser Druck kann zur Resignation führen oder aber zu einer Anpassung der Dienstleistungsangebote und Informationsprodukte an eine sich verändernde Nachfrage (wie etwa beim Dachverband economiesuisse, vgl. «Des archives papier au système de gestion de contenu d’entreprise», Brassel/Joos). Bestenfalls setzt er kreative Energien frei für die Beschaffung von finanziellen, personellen und Sachmitteln, die der Praxis den jeweiligen Rahmen setzen.
Das vorgeschlagene Sicherungsmodell der Arbeitsgruppe des VSA könnte den Weg zu einer Objektfinanzierung von Archivierungsprojekten weisen. Spezialarchive wie das Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich, das Glarner Wirtschaftsarchiv, das Schweizerische Wirtschaftsarchiv und verschiedene Firmen haben ihrerseits langjährige Erfahrung im Aufbau zweckgebundener Stiftungen. Diese privaten Förderungswerke tragen zwar in höchst unterschiedlichem Ausmass an die jeweiligen Gesamtaufwendungen bei. Sie unterstützen aber alle die Aufgabenerfüllung und erweitern da durch Handlungsspielräume. In Ergänzung zu den Früchten solchen Fundraisings hält der jüngste technologische Wandel Möglichkeiten zur Umsetzung innovativer und kooperativer Projekte bereit (zum Beispiel des Hotelarchivs vgl. «Archiviste aujourd’hui?», LüthiGraf/Borrelli).
Die neuen Herausforderungen von Wirtschaftsarchiven sind in zentralen Punkten also tatsächlich die alten. Wer den sie wie in den hier zur Diskussion gestellten Beiträgen mit selbstbewusstem Engagement und ideenreich angenommen, winken Erfolge auf einem trotz Brachen letztlich faszinierenden beruflichen Feld.
- 1 Vgl. zur Ausgangslage und den Resultaten des Roundtable-Gesprächs vom 13. Juni 2013 dessen Protokoll auf der Website der AG Archive der privaten Wirtschaft (www.vsa-aas.org/fileadmin/user_upload/texte/ag_eco/2013-06-13_NE_IA_Roundtable_Protokoll.pdf, Zugriff vom 15. August 2014).
- 2 Vgl. Detailprogramm der Tagung mit dem Titel «Wirtschaftsarchive und die Kernfragen der Archivistik: Memopolitik, Sicherung, Vermittlung» (www.vsa-aas.org/de/aktivitaet/ag-archive-der-privaten-wirtschaft/taetigkeit/, Zugriff vom 15. August 2014).
- 3 Von dieser Prämisse geht eine komparative Studie des Internationalen Archivrates ICA mit dem Titel «Business Archives in International Comparison» aus (www.ica.org/download.php?id=680, Zugriff vom 15. August 2014).
Résumé
- Français
La constitution du patrimoine, la réglementation de l’accès et le financement représentent encore et toujours des défis majeurs pour les archives (de l’économie). Entre, d’une part, le droit d’accès et, d’autre part, le droit de contrôle sur le patrimoine privé, les entreprises mettent en œuvre diverses solutions pour accéder à l’information, solutions qui tendent toutes à prendre en compte adéquatement les besoins de tous les intéressés. Les fournisseurs d’informations développent leurs offres en faisant souvent face à une pression constante tant sur le plan de la justification que sur celui des ressources, et ce, en faisant preuve de la flexibilité et de la créativité nécessaires.
Avec le travail de sensibilisation et l’inventaire arCHeco, le groupe de travail Archives d’entreprises privées de l’AAS contribue à améliorer la situation en matière de constitution du patrimoine. L’application du modèle de sauvegarde qu’il propose serait un pas important pour combler les lacunes les plus importantes.