One step beyond – Ergänzungs- und Gegenüberlieferung zu Privatarchiven
Die Sicherung der Überlieferung der Privaten (Einzelpersonen, Familien, Vereine, Verbände, Firmen, Genossenschaften etc.) basiert in der Schweiz auf Freiwilligkeit. Sie geschieht dezentral und auf verschiedenen Ebenen, und die Zuständigkeiten sind genau so zahlreich und vielfältig wie die Bestände. Mehr oder weniger in der Pflicht sehen sich das Bundesarchiv, die Staats- und die Stadtarchive. Spezialarchive betrachten die Sicherung der privaten Überlieferung als ihr Kerngeschäft.
Folgende Spezialarchive seien ohne Anspruch auf Vollständigkeit genannt: Archiv für Agrargeschichte, Archiv der Basler Mission, Archiv zur Geschichte der Schweizerischen Frauenbewegung, Archiv für Zeitgeschichte, Cejare Centre jurassien d’archives et de recherches économiques, Glarner Wirtschaftsarchiv, die Handschriftenabteilungen der wissenschaftlichen Bibliotheken, Hotel-archiv Schweiz, Schweizerisches Literaturarchiv, Schweizerisches Sozialarchiv, Schweizerisches Wirtschaftsarchiv und selbstverständlich die zahlreichen Archive, die von Firmen und Körperschaften selbst geführt werden.
Die Überlieferung privater Quellen ist lückenhaft, und Forschende haben da mit zu rechnen, für ein konkretes Forschungsvorhaben nicht auf privatarchivische Quellen zugreifen zu können. Aus diesem Grund beschäftigen sich Historikerinnen und Archivare schon seit Langem mit der Frage, welche Quellen neben den klassischen Archiv beständen zur Verfügung stehen. Unter klassischen Archivbeständen werden interne oder private Unterlagen, die als Begleiterscheinung bei der Erfüllung einer Aufgabe entstehen und nicht als bewusste Berichterstattung erstellt wurden, verstandenSpannend sind die Überlegungen etwa von Buchholz zur Frage, inwieweit Archivarinnen und Archivare wertfrei «Überreste» sichern oder mittels Bewertung bereits «Überlieferungsgestalter» sind. In seiner Arbeit zur Bewertung von Massenakten stellt er dar, wie repräsentative Auswahlen gebildet werden können und führt im Anschluss dazu aus, dass neben den schriftlichen Quellen (Bsp. «Janusköpfige Sozialhilfekaten») Oral History zusätzliche Dimensionen eröffnet. Buchholz, Matthias: Archivische Überlieferungsbildung im Spiegel von Bewertungsdiskussion und Repräsentativität. Köln, 2. Aufl. 2011. S. 70ff. und S. 287ff. . Im Gegensatz dazu stehen u.a. Dokumentationen, deren Inhalt meist zu Publikationszwecken angelegt wurde und die Traditionsquellen mit Überlieferungs absicht sind.
Der vorliegende Text skizziert das Feld, welches sich hier öffnet. Der thematische Schwerpunkt liegt auf der Ergänzungs und Gegenüberlieferung im Wirtschaftsbereich. Viele der genannten Quellentypen lassen sich beispielhaft verstehen und für andere Themen verallgemeinern.
Selbstredend verlangen die unterschiedlichen Quellen in der historischen Forschung adäquate Techniken der QuellenkritikBedauerlicherweise finden viele der hier angeführten Quellen in einschlägigen Handbüchern der historischen Hilfswissenschaften wenig bis keine Beachtung. Vgl. etwa jüngst Beck, Friedrich et. al.: Die archivalischen Quellen. 5. Auflage, Köln 2012. . Darauf kann im hier zur Verfügung stehenden Textumfang nicht eingegangen werden.
Dokumentationen
Die einleitend geschilderten Rahmen bedingungen der privaten Überlieferungssicherung bestehen seit Langem. Aus diesem Grund haben viele Spezial archive schon bei ihrer Gründung begonnen, Dokumentationen anzulegen. Diese unterscheiden sich von den klassischen Archivbeständen dadurch, dass die gesammelten Unterlagen meist zur Publikation erstellt wurden und deshalb bewusst auf Aussenwirkung hin gestaltet sind. Zudem weisen sie keinen Unikatcharakter auf. Jedoch sind sie nicht selten nur in einem oder wenigen Exemplaren in Gedächtnis institutionen archiviert.
Gute Beispiele für Dokumentationen sind jene des Schweizerischen Sozialarchivs und des Schweizerischen Wirtschaftsarchivs. Sie enthalten Studien, Forschungsberichte, Amtsdrucksachen, Statistiken, Flugblätter, Zeitungs ausschnitte etc. Häufig sind in Wirtschaftsdokumentationen Firmenfest schriften vorhanden. Sie sind Traditionsquellen und besitzen damit einen «doppelten Boden». Neben dem Faktenwissen (das gezielt auf Lücken hingelesen werden muss) enthalten sie eine Fülle von repräsentativselbstdar stellerischen Informationen.
Dokumentationen sind meist nach bibliothekarischen Gesichtspunkten erschlossen und werden häufig in den entsprechenden Katalogen angezeigt. In den letzten Jahren haben einige Institutionen begonnen, sie zusätzlich auf spezifischen Suchoberflächen recherchierbar zu machen. Dies zeigen die Beispiele des Sozialarchivs und des Wirtschaftsarchivs (www.sozialarchiv.ch und www.wirtschaftsarchiv.ch)Im Falle des SWA wird dabei auf die Daten, die in der Bibliotheksdatenbank gespeichert sind, zugegriffen. .
Zeitungsausschnittsammlungen
Seit dem 19. Jahrhundert ist die Zeitung das Leitmedium. Den Zeitungsausschnitten eigen ist ihre diskursive Aussagekraft. Sie kommt besonders gut zum Tragen, wenn die Ausschnitte in thematischen Dossiers zur Verfügung gestellt werden. Debatten zu einzelnen Themen können damit mühelos über längere Zeiträume nachvollzogen werden. In den letzten Jahren wurden aufgrund des technischen Wandels in der Medienwelt (Internet, Newsportale, Onlinezeitungen) und aufgrund knapper Ressourcen viele Sammlungen einge stelltDas Sozialarchiv hat dafür mit Presse-Dox den Zugang zur Schweizer Mediendatenbank geschaffen. . Eine Ausnahme bildet hier das SWA, welches seine Zeitungsausschnittsammlung zu wirtschaftlichen Sachfragen, Firmen und Verbänden sowie Personen der Wirtschaft seit Anfang 2013 elektronisch führt und die elektronisch abgelegten Ausschnitte online zur Verfügung stellen wird. Damit soll den Benutzerinnen und Benutzern weiterhin ein Informationsprodukt hoher Qualität zugänglich sein. Denn die Ausschnitte werden wie bis anhin intellektuell selektiert und einem (elektronischen) Dossier zugeordnet. Sie bleiben damit dem bestehenden Dossierzusammenhang erhalten (Vermeidung eines Medienbruchs). Die Abspeicherung der einzelnen Artikel im PDF-Format erlaubt zudem den Erhalt der ursprünglichen Form (Authentizität).
Neben den Zeitungsausschnitt sammlungen eignen sich vollständig archivierte Zeitungen oder Medienarchive hervorragend als Quelle zu verschiedensten FragestellungenSiehe dazu auch den Zugang zu digitalisierten Zeitschriften und Zeitungen auf der Website der Schweizerischen Nationalbibliothek (http://www.nb.admin.ch/dienstleistungen/online_katalog/00456/index.html?lang=de#sprungmarke0_52). .
Zeitschriften und Statistiken
Bezogen auf die Geschichte der Wirtschaft spielen die Branchenzeitschriften, die Verbandspresse und die Firmen oder Werkzeitungen eine massgebende Rolle als Informationsressource. In diesen Bereich fallen auch Statistiken, die meist in Form von Reihen oder Zeitschriften erscheinenNeben den analog vorhandenen Statistiken, von denen das Schweizerische Wirtschaftsarchiv einen grossen Bestand, der die gesamte Schweiz beschlägt, sichert, sei die online zugängliche Historische Statistik der Schweiz genannt (http://www.fsw.uzh.ch/histstat/main.php). .
Objekte
In der Wirtschaftsgeschichtsschreibung leisten Objekte hervorragende Dienste zur Informationsgewinnung. An Sammlungen von Maschinen, Geräten, Verpackungen, Textilien, Schuhen etc. lassen sich Produktionsprozesse verifizieren oder falsifizieren. Sie geben Auskunft über Design, Mode und GebrauchFür die Schweiz beispielsweise die Objektsammlung der Hanro AG oder auch von Bally. . Sammlungen solcher Art sind häufig in Museen zu finden, zudem aber auch in Firmenarchiven häufig vorhandenZu nennen sind etwa das Schweizerische Nationalmuseum, das Verkehrshaus der Schweiz, die zahlreichen Sammlungen der Universitäten, wie etwa die Pharmaziehistorische Sammlung in Basel, Bern und Zürich oder auch Sportmuseen und selbstverständlich die Historischen Museen. .
Oral History und audiovisuelle Quellen
Mit Personen können Zeitzeugenbefragungen (Oral History) durchgeführt werden. Methodisch sorgfältig angelegt und quellenkritisch ausgewertet ergeben sie eindrucksvolle QuellenDas Archiv für Zeitgeschichte organisiert regelmässig «Zeitzeugenbefragungen» mit Personen der Zeitgeschichte. Die Kolloquien werden integral aufgenommen aufgezeichnet und digital archiviert (http://onlinearchives.ethz.ch). Im Rahmen der Initiative Archimob wurden zwischen 1999 und 2001 555 Interviews über die Zeit des Zweiten Weltkrieg in der Schweiz geführt und archiviert (www.archimob.ch/arc/db). Interviews finden auch als Quellen Eingang in firmenhistorische Publikationen, jüngst etwa in Hero – seit 1886 in aller Munde, Baden, 2011..
Über diese, teilweise bewusst auf ein Forschungsprojekt ausgerichteten Tondokumente hinausstehen in den Archiven der Radios weitere Audioquellen zur Verfügung. In diesem Zusammenhang sind zudem audiovisuelle Zeugnisse, wie sie beim Fernsehen anfallen, oder Filme (im Bereich Wirtschaft v.a. Werbefilme) anzuführenSiehe dazu die Bestände der Schweizer Nationalphonothek (www.fonoteca.ch) und die Webseiten von Memoriav (http://de.memoriav.ch) und der Cinémathèque (www.cinematheque.ch). Memoriav bietet mit Memobase eine Suchoberfläche für audiovisuelle Dokumente an..
Als Quelle mit hohem Erkenntniswert etabliert hat sich die historische Fotografie, zu der bereits eine reiche Literatur betreffend Auswertungsmöglichkeiten zur Verfügung stehtEinige Archive verfügen über ausserordentliche fotografische Sammlungen, z.B. das Ringier-Archiv im Staatsarchiv Aargau. FotoCH informiert über historische Fotografie in der Schweiz und macht auf seiner Website ein Repertorium zu Fotobeständen zugänglich (www.foto-ch.ch/).. Zu dem zählen Bildquellen wie Drucke und Plakat1oder auch Pläne und Karte2zu ergiebigen Quellen.
Gegenüberlieferung
Existiert kein Archivbestand zu einer Person oder Körperschaft, ist es sinnvoll, nach Gegenüberlieferungen zu fragen. Gegenüberlieferungen können in Form von Gesuchen, Bewilligungen, Streitfällen etc. in staatlichen Beständen liegen (Unterlagen der Handelsregister, Gewerbeinspektorate, Arbeitsämter, Wirtschaftsförderungsstellen, Konkursämter, Gerichte etc.). Betreffend Firmen können bei Gewerkschaften, Anwälten oder Konkurrenten Unterlagen zu bestimmten Sachverhalten aufbewahrt worden sein. Privatpersonen führten vielfach Korrespondenzen, die beim Adressaten zu suchen wären.
Portale
Für die Vermittlung und Benutzung sind thematische Portale von grossem Wert. Im Bereich Wirtschaftsquellen verzeichnet das Onlineportal arCHeco die Wirtschaftsarchive der Schweiz (www.archeco.info). Die Portale erlauben eine Recherche unabhängig davon, in welcher Institution ein Bestand gelagert wird und listen zudem Bestände auf, die nicht in öffentlichen Archiven liegen. arCHeco bietet zudem die Möglichkeit, Bestände nach Branchen und geografisch zu recherchieren. Hierzu ist es nötig, die Archivbestände sachthematisch zu erschliessen.
Archive sind zum Teil selbst mit Sammlungen und Sonderbeständen befasst. Die obige Darstellung relevanter Quellengattungen dient dazu, in der Vermittlung Tätigen das Spektrum zu erweitern, um bei Bedarf auf solche Bestände und Findmittel hinweisen zu können. Es wurde angedeutet, dass der Umgang mit den genannten Quellen häufig über archivische Arbeitsweisen hinaus geht. Er reicht ins dokumentarische, bibliothekarische, museologische und ethnografische Spektrum. Das macht es auch für Archivare und Archivarinnen spannend. Abschliessend wird deutlich, dass die etwas pejorativen Begriffe «Ergänzungs und Ersatzüberlieferung» nur aus der Perspektive der Sicherung von Privatarchiven Gültigkeit haben. Die hier vorgestellten Quellen haben ihren spezifischen Wert und eine hohe eigenständige Aussagekraft, die vielgestaltige Erkenntnisinteressen abzudecken vermag.
- 1 Die Schweizer Plakatsammlung ist ein Rechercheportal, an dem verschiedene Institutionen beteiligt sind (http://opac.admin.ch/cgi-bin/gw/chameleon?skin=affiches&lng=de).
- 2 Das Kartenportal umfasst Bestände verschiedener Hochschulbibliotheken (www.karten-portal).
Résumé
- Français
Pour le secteur privé, à côté des sources classiques d’archives, des types variés de documents sont à disposition de la recherche historique: documentation, coupures de journaux, revues et magazines, objets, sources audiovisuelles. Ces sources sont donc présentées et analysées dans leur spécificité. Cela permet de mesurer une source de connaissance riche qui contrebalance les lacunes des versements qui ne sont pas à rechercher dans les seules institutions spécialisées, mais que les archives doivent aussi conserver et communiquer.