Commentaires Résumé
2013/2 Etudes de genre et I+D

Was kann man mit Gender in der Bibliothek anfangen?

Commentaires Résumé

Dieser Text reflektiert die persönlichen Erfahrungen des Autors, der gleichzeitig Bibliothekswissenschaft und Gender Studies studierte und jetzt versucht, das komplexe Denken der Gender Studies über die Diskurseffekte der Geschlechter auf die Praxis in Bibliotheken, Archiven und Dokumentationseinrichtungen anzuwenden. Das ist eine komplexe Fragestellung.

In den frühen Jahren dieses Jahrtausends habe ich an der Humboldt-Universität zu Berlin Bibliothekswissenschaft und Gender Studies studiert. Das war damals und ist auch heute keine grosse Besonderheit: In meinem Jahrgang waren wir rund 20 Personen mit dieser Fächerkombination, nach uns kamen viele andere. Es gibt mehr Orte, wo dies passiert. Beispielsweise lehrt gerade Judith Butler in Berkeley, wo es auch eine School of Information gibt.

Eine Frage, die sich bei diesem Studium immer wieder stellte, war, ob die beiden Fächer überhaupt etwas miteinander zu tun haben. Eindeutig lässt sich diese Frage nicht beantworten. Sicherlich ist die Arbeit in Frauen- und genderspezifischen Bibliotheken und Archiven immer möglich. So arbeiten in der Genderbibliothek der Humboldt Universität fast schon traditionell Studierende mit «meiner» Fächerkombination. Gleichzeitig ist diese Bibliothek im Netzwerk der One Person Libraries in Berlin/Brandenburg dahingehend wirksam geworden, die Reflexion über die Möglichkeiten und Sinnhaftigkeiten geschlechtergerechter Sprache voranzutreiben. Schauen Sie einmal in Dokumente der kleinen Bibliotheken in Berlin und Brandenburg, sie werden fast keine finden, die sich mit Formulierungen wie «mit männlichen Wortformen sind auch Frauen mitgemeint» zu behelfen versucht, sondern vor allem solche, die mit verschiedenen Formen des diskriminerungsfreien Sprechens arbeiten.

Durchschütteln: Ein Parforceritt durch die Grundfragen der Gender Studies 

Die letzten Sätze klingen für schweizerische Ohren vielleicht verschrobelt. Vielleicht sind sie es vor allem aus einem Grund: Weil die Gesellschaft und die Ungleichheitsverhältnisse so kompliziert sind.

Die Gender Studies sind gerade nicht einfach nur ein Feminismus, der es an die Universität geschafft hat, sondern ein ernsthaftes Forschungsfeld, dass sich mit der Konstitution von Ungleichheitsverhältnissen beschäftigt. Es geht in den Gender Studies nicht darum, ob die Frauen gleich viel Lohn für die gleiche Arbeit bekommen sollen (das sollte keine Frage sein), sondern darum, wie es überhaupt kommt, dass Menschen aufgrund von welchen Merkmalen überhaupt in der Gesellschaft zu mehr oder minder distinkten Gruppen werden, als Angehörige dieser Gruppen verstanden werden und sich auch selber verstehen.

Eine einfach Frage in diesem Zusammenhang lautet: Warum eigentlich wird die Welt unterteilt in Frauen und Männer und weshalb werden an diese Unterteilung alle möglichen Urteile, Vorstellungen, Identitätsbildungen gebunden? Was ist eigentlich wirklich der Unterschied zwischen diesen Menschengruppen? Dass die einen Kinder bekommen können und die anderen biologisch die Personen, die Kinder bekommen können, schwanger machen können? Ist das wirklich ein Fakt, um Menschen in zwei Gruppen einzuteilen? Bestimmt der Fakt einer potenziellen Schwangerschaft den gesamten Menschen bis hin zu Essgewohnheiten und Denken? Was ist mit Menschen, die als Frauen verstanden werden, aber keine Kinder bekommen können oder wollen? Was mit Männern, die niemand schwanger machen können oder wollen? Warum bestimmt eigentlich ein so privater Akt so viel in der Gesellschaft? Und: Warum reden wir eigentlich von zwei distinkten Gruppen? Kann man Schwangerschaft einfach als «irgendwie gleich» verstehen? Müsste man die nicht auch unterteilen? Oder sind es die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale, nach denen Menschen unterschieden werden können? Nur wieso sollte der Penis besser zur Arbeit auf dem Bau befähigen, die Vagina zur Arbeit in der Primarschule?

Sie sehen: Eine einfache Frage, die in weite Felder des Weiterfragens führt. Die Gender Studies wollen zuvörderst verstehen, wie es zu diesen Teilungen, Identitätsbildungen, Bewertungen etc. kommt. Sicherlich: Weiss man es, folgen daraus Forderungen an die Realität. So ist zum Beispiel sehr schnell klar, dass die ganzen Behauptungen, Frauen seien so und so oder Männer seien so und so, keine biologische Basis haben. Sie sind vollständig gesellschaftlich determiniert. Es gab und gibt genügend Gesellschaften, in der dritte und vierte Geschlechter vorkommen, deshalb ist es offenbar eine gesellschaftliche Konvention, ob es zwei Geschlechter gibt, die an der potenziellen Schwangerschaft unterschieden oder drei Geschlechter und mehr, bei denen weitere Faktoren miteinbezogen werden.

Schauen Sie in diese Gesellschaften, fällt schnell auf, dass die Einteilung der Gesellschaft immer biologisch begründet wird. Aber es ist selbstverständlich unlogisch: Wie kann die gleiche Natur in Europa zwei Geschlechter hervorbringen, in Indien aber drei? Ebenso fällt im historischen Vergleich auf, dass die gesamten Zuschreibungen an Geschlechter sich wandeln und zwar nicht nur in krassen Fällen, bei denen wir uns heute an den Kopf fassen. Wenn Sie den Blick nur weit genug in die Geschichte schweifen lassen, werden Sie fast jede Eigenschaft mal dem einen oder dem anderen Geschlecht (und wieder: nicht nur zwei Geschlechtern) zugewiesen finden. Aber: Wie kann es sein, dass die Sorge für die Kinder mal als angeborenes Empfinden der Mütter verstanden wird, mal als angeborenes Empfinden der Väter, mal als angeborenes Empfinden aller Beteiligten, wen es biologisch determiniert sein soll?

Aber es gibt doch Frauen

Eine gewichtige Überzeugung, die in- nerhalb der Forschungen der Gender Studies erarbeitet wurde, lautet, dass die gesamten Geschlechter und die gesellschaftlichen Zuteilungen an diese gesellschaftliche Konventionen sind. Damit gehen die Gender Studies über den Feminismus als politische Bewegung hinaus. Insbesondere in den 1990er-Jahren gab es zum Teil heftige Auseinandersetzungen, als ältere Feministinnen, die zum Beispiel forderten, Frauen sollten für die Reproduktionsarbeit entlohnt werden, auf jüngere Feministinnen und Feministen trafen, die zuvörderst davon ausgingen, dass jedes Geschlecht per se gesellschaftlich konstruiert ist, und die forderten, dass die Idee der Einteilung der Menschheit in Geschlechter an sich aufzuheben sei. Aber wurde unter an- deren ein Problem der Gender Studies offenbar: Zwar mag man zeigen können, dass die Einteilung der Menschheit in Geschlechter ein gesellschaftlicher Prozess ist; aber das heisst noch lange nicht, dass er rein virtuell wäre.

So kann man zeigen, dass das Familienmodell «bürgerliche Kleinfamilie» tatsächlich erst mit dem Aufkommen des Bürgertums gesellschaftlich relevant wurde und diskursiv andere Beziehungs- und Familienmodelle verdängte. Das heisst aber nicht, dass dieses Familienmodell nicht doch in der Gesellschaft wirkt und es in vielen Schweizer Schulen zum Beispiel – im Gegensatz zu ostdeutschen – weiterhin normal ist, dass es lange Mittagspausen gibt, damit die Kinder zu Hause essen können. Gleichzeitig gibt es Menschen, die sich als Frau oder Mann begreifen, auch wenn sich immer mehr als Männlichkeitsidentität durchsetzt, als Mann die gleichen Rechte und Pflichten zu haben wie die Frauen. Dennoch: Es sind Männer.

Gerade bei dem Problem fangen die Gender Studies an zu fragen. Verkürzt gesagt: Offenbar ist in unserer Gesellschaft aktuell nur das Leben in dem einen oder dem anderen Geschlecht möglich. Der Mensch, so Judith Butler in Das Gewissen macht Sub- jekte aus uns allen1 , ist von früh auf in einem Denksystem verortet, das sofort die Verortung männlich oder weiblich vornimmt. Wir prägen unsere Identität daran aus und beginnen in der Subjektbildung – also wenn wir uns als Menschen erfinden, entwerfen und entdecken – uns in diesem Denksystem zu verorten. Diese gesellschaftliche Situation wird uns als natürlich präsentiert, auch weil sie als natürlich gilt. Wieder: Wir können zeigen, dass sich das, was eine Frau, ein Mann, ein drittes Geschlecht ist, historisch verändert hat; aber für unsere Umwelt und damit auch für uns gilt es als natürlich, schon immer da gewesen etc. (Wobei wir gerne die Geschichte mit unserem Weltbild wahrnehmen und dann dort vor allem unsere gesellschaftlichen Konventionen finden, zum Beispiel bürgerliche Kleinfamilien als normale Beziehungsform in der mittelalterlichen Stadt oder der Antike.)

Also ich weiss doch, was ich bin! Eine Frau/ein Mann 

Dieses Denken ist selbstverständlich eine Art Kränkung für die Menschen. Empfinden wir denn nicht sehr klar, dass wir Mann oder Frau sind und deshalb dieses oder jenes gut oder schlecht können? In gewisser Weise ergänzt die Gender Studies hier Sigmund Freud, der – historisch nicht ganz richtig – meinte, dass die Menschheit drei Mal gekränkt worden sei: Einmal durch Kopernikus (die Welt ist nicht die Mitte des Universums), dann durch Darwin (der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung), als Drittes durch Freud selber (der Mensch ist sich nicht vollständig über die eigenen Handlungen bewusst)2. Die Gender Studies fügen dem eine vierte Kränkung hinzu: Das Denken, Verhalten und die Identität der Menschen ist nicht natürlich, sondern Gesellschaft. Die Menschen sind selber mit dran Schuld, wie die Geschlechterverhältnisse und Beziehungen zwischen den Menschen eingerichtet sind. Niemand weiss wirklich vollständig, was er oder sie ist, niemand steht ausserhalb der Gesellschaft3.

Reflexion

Was also bringen die Gender Studies? Primär die Fähigkeit, die Wirkung gesellschaftlicher Rahmen und Vorgaben besser zu reflektieren. Deshalb auch das Insistieren auf die geschlechtergerechte Sprache. Sprache gilt in den Gender Studies gerade nicht als reines Kommunikationsmittel. Vielmehr bildet Sprache das Denken der Menschen und konstituiert die Realität sowie die möglichen Realitäten. Kann man in der Sprache zum Beispiel nur über Umwege sagen, dass eine Person des dritten Geschlechts (Wie sie kurz nennen?) sich immer entscheiden muss, welches öffentliche WC diese Person (welches Pronomen?) nutzt, dann zeigt sich, dass eine solche Identität offenbar gar nicht lebbar ist. Es müssen erst Räume und Sprachen geschaffen werden, die erstmal komisch klingen, um das zu ermöglichen. Allerdings: Diese Sprachen klingen komisch, weil sie ungewohnt sind, nicht weil sie falsch wären. Dabei gibt es solche Räume und Sprachen, vor allem in Grossstädten.

Macht-Wissen-Komplex

Trotz dem Namen Gender Studies geht es in dieser Forschungsrichtung nicht nur um das Geschlecht. In und bei diesem Fach finden sich weitere kritische Fächer: critical whiteness studies, gay studies, post-colonial studies etc. Allen gemein ist, die Ungleichheitsverhältnisse als eine Dikursformationen zu begreifen, die (a) historisch gewachsen und damit auch veränderlich sind, (b) direkt auf die Individuen, deren Subjektkonstitution und Möglichkeiten in der Gesellschaft wirken, (c) Opfer erfordern, zum Beispiel das Leben als ein drittes Geschlecht mehr oder minder verhindern, (d) als Diskurse vor allem über Sprache und Dokumente verstanden werden, aber wirkmächtig auf die Realität, die Körper und das Begehren sind.

Eine Denkfigur, auf die dabei immer wieder zurückgegriffen wird, ist der Macht-Wissen-Komplex, den Michel Foucault in Überwachen und StrafenFoucault, Michel: Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: suhrkamp, 9. Auflage, 2010.entfaltet. Macht und Wissen stehen dabei in einem komplexen Verhältnis, das gerade nicht als hierarchisch wirkend begriffen werden kann. Vielmehr verbreitet sich Wissen und Macht beständig in der Gesellschaft. Es wird in kleinen und kleinsten Einheiten interpretiert und in ständigen Interpretationskämpfen neu gefasst. Das Wissen, dass es zwei Geschlechter gibt, etabliert sich mit der Zeit, wird auch mit der Zeit in immer wieder neuen Formen gelebt oder unterlaufen. Es ist komplex.

Was bringen die Gender Studies?

Wir reden hier von einem anderen Wissensmodell als in der Informationswissenschaft und kommen damit zur Grundfrage des Artikels: Was bringt die Gender Studies eigentlich für die Praxis? Erst einmal wenig Konkretes. Die Vorstellung, es wäre möglich, irgendetwas aus den Gender Studies direkt auf die bibliothekarische Praxis zu übertragen, ist falsch. Es ist eine Wissenschaft, die Aufklärung bringen will. Sie kann uns zum Beispiel darüber aufklären, wie die Ordnungen des Wissens, die wir ständig vornehmen, wenn wir katalogisieren, verschlagworten, in Findbüchern zusammenfassen, Ontologien und Metadatenmodelle erstellen, auf die Gesellschaft und die Realität wirken. Und wie die Realität auf unsere Ordnungen wirken.

Darüber hinaus kann die Beschäftigung mit den Gender Studies Kompetenzen entwickeln helfen, die Ungleichheitsverhältnisse und ihre Wirkungen wahrzunehmen und zu interpretieren. Es ist heute wohl Usus, dass wir Nutzerinnen und Nutzer gleich behandeln wollen. Ob wir es wirklich tun, ob wir nicht zum Beispiel Geschlechtskonstrukte implizieren und damit anderes unmöglich machen, das ist eine Frage, die wir zu klären versuchen können. Wir werden auch in unseren Einrichtungen die Geschlechter nicht auflösen können, aber wir können sie sichtbar und damit veränderbar machen.

Denken!

Eines, was man in der Auseinandersetzung mit den Gender Studies sehr schnell lernt, ist das Achten auf die eigene Sprache. In diesem Text habe ich mich nur wenig zurückgehalten und einmal nicht so sehr Rücksicht darauf genommen, wer das lesen soll. Mag sein, dass diese Sprache schwieriger zu lesen ist, als eine direkte. Aber sie ermöglicht mehr mitzudenken, mehr im Kopf mitzuargumentieren und mehr darüber nachzudenken, wie eigentlich was gesagt wird. Vielleicht ist das anstrengend, aber gerade darum geht es: Die Gesellschaft, die Sprache, die Ordnung des Wissens sind komplex. Es gibt praktisch keine einfachen Aussagen, es gibt keine einfachen Wahrheiten, auf die wir uns zurückziehen können. Die Ordnungen des Wissens sind genauso gesellschaftlich wie die Geschlechter. Wir müssen auch so komplex denken, wie es die Welt ist.

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Karsten Schuldt

Dr. Karsten Schuldt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter (Projektleiter) am Schweizerischen Institut für Informationswissenschaft, HTW Chur und Redakteur der Zeitschrift LIBREAS. Library Ideas.

Résumé

Ce texte reflète les expériences personnelles de l’auteur, qui a suivi en parallèle une formation en sciences bibliothécaires et en gender studies, et qui se propose maintenant d’appliquer à la pratique des bibliothèques, des archives et des centres de documentation la pensée complexe que révèle ce type d’études. L’auteur rappelle d’emblée que les études de genre ne se réduisent pas simplement à un féminisme qui aurait vu le jour au sein de l’université, mais qu’il s’agit d’un domaine de recherche sérieux qui se penche sur la constitution des inégalités. Les études de genre ne portent pas sur la question de savoir si les femmes doivent avoir le même salaire pour le même travail (cela devrait aller de soi), mais plutôt comment se fait-il que des êtres humains, sur la base de certaines caractéristiques, appartiennent à des groupes sociaux plus ou moins distincts, comment les membres de ces groupes se comprennent et comment ils sont compris. L’auteur aborde d’emblée la question de l’utilité des études de genre pour la pratique. Il estime qu’il est faux de croire que l’on peut transférer directement dans la pratique bibliothécaire des connaissances tirées des études de genre. Ces dernières sont en effet une science qui a pour but d’expliquer par exemple comment nous formons les ordres de savoir que nous ne cessons de forger lorsque nous cataloguons, définissons les vedettes, établissons des ontologies et des modèles de métadonnées, comment ces ordres influent sur la société et la réalité. Et comment la réalité influe à son tour sur nos ordres de savoir.

Les études de genre peuvent ainsi contribuer à développer des compétences qui nous permettent d’appréhender et d’interpréter les rapports d’inégalité et leurs impacts. Il va de soi aujourd’hui que nous voulons traiter sur le même pied d’égalité les utilisatrices et les utilisateurs. Quant à savoir si nous le faisons vraiment, si nous ne faisons pas implicitement appel à des constructions sexuées, voilà une question que nous pouvons essayer de clarifier. Nous ne pourrons évidemment pas faire abstraction des sexes dans nos institutions, mais nous pouvons certainement les mettre en lumière et en prendre ainsi toute la mesure.