Commentaires Résumé
2009/4 Bewertung als Kernaufgabe der I&D-Welt

«Soyez réalistes, demandez l’impossible»: Überlieferungsbildung im Verbund – ein Denkanstoss

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Bewertungsentscheide werden in der Regel innerhalb eines Archivs getroffen. Jeder Entscheid ist in der Regel gut durchdacht und begründet. Aber ist es wirklich nötig, dass jedes Archiv für sich dieselben Aktenkategorien bewertet? Und dies in vielen Fällen ohne das Wissen, wie die anderen Archive mit den gleichen Akten umgegangen sind? Müssten Bewertungsfragen nicht zunehmend im Verbund gelöst werden?

«Il faut cultiver notre jardin»

Viele werden den Roman «Candide» von Voltaire kennen. Der Titelheld ist auf der Suche nach seiner Geliebten. Nach einer Reise durch die halbe Welt kauft er ein Landgut, um sich dort endgültig niederzulassen. Candides Resümee am Ende des Romans lautet, dass er die Übel der Welt nicht erklären kann. Er erkennt aber eine Notwendig- keit: «Il faut cultiver notre jardin.»

Doch was ist eigentlich der Garten (sprich der Horizont) eines Archivs?

Die deutsche Sprache kennt dafür den Begriff des Archivsprengels, das ist der geografische Zuständigkeitsbereich eines Archivs, historisch gewachsen und Grundlage der räumlichen Abgrenzung. Auf Französisch gibt es keinen ähnlich schönen Ausdruck. Im Glossar des VSA wird Archivsprengel mit «Ressort de compétence d’un service d’archives» übersetzt.

Die politische Struktur der Schweiz in Bewegung 

Die politische Struktur der Schweiz auf Kantonsebene hat sich – mit Ausnahme der Gründung des Kantons Jura – seit dem frühen 19. Jahrhundert kaum verändert. Jeder Kanton hat ein eigenes Staatsarchiv, ein Kanton entspricht einem Archivsprengel. Doch die politische Gliederung der Schweiz wird zunehmend infrage gestellt. Der Thinktank «Avenir Suisse» kommt in seiner Studie «Baustelle Föderalismus» aus dem Jahr 2005 zum Schluss, dass die Schweiz das dezentralisierteste und zugleich kleinräumigste Land der Welt sei. Fragmentierung ist die zentrale Eigenschaft des schweizerischen Föderalismus, so «Avenir Suisse».

Tabelle 1 zeigt einen Vergleich der Bevölkerungszahlen aus der Schweiz und aus angrenzenden Gebieten. Ein Schweizer Kanton hat im Schnitt rund dreissig Mal weniger Einwohner/innen als eine französische Region oder achtzig Mal weniger als ein deutsches Bundesland. Nur Vorarlberg ist bevölkerungsmässig etwa so klein wie ein durchschnittlicher Schweizer Kanton.

Doch nicht nur «Avenir Suisse», sondern auch Politikerinnen und Politiker stellen die föderative Struktur der Schweiz zunehmend infrage. Im Kanton Basel-Landschaft beispielsweise reichte die Landrätin Esther Maag eine Motion ein, in der die Gründung eines Kantons Nordwestschweiz verlangt wird, bestehend aus den beiden Basel sowie den angrenzenden Gebieten aus den Kantonen Aargau und Solothurn.

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Zusammenarbeit über die Kantonsgrenzen hinweg 

Die Diskussionen beschränken sich aber nicht auf Gebietsveränderungen. In immer mehr Bereichen findet bereits heute eine Zusammenarbeit über die Kantonsgrenzen hinweg statt. Das prominenteste Beispiel dafür sind die Fachhochschulen. Doch auch beim Un- terhalt von Nationalstrassen, der Spitalplanung oder der Polizeiausbildung arbeiten die Kantone grenzüberschreitend zusammen. Die Grundlage vieler Formen der Zusammenarbeit sind die über 780 Konkordate, die es mittlerweile in der Schweiz gibt. Das aktuell bekannteste Konkordat ist die «Interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule», genannt Harmos.

«Avenir Suisse» hat in seiner Studie die Schweiz in sechs Metropolitanregionen aufgeteilt. Vereinfacht gesagt handelt es sich dabei um funktionale Regionen, die durch die Arbeitsmärkte und Pendlereinzugsgebiete abgegrenzt sind. Sie stellen die Wirtschafts- und Lebensräume der Mehrheit der Schweizer Bevölkerung dar. Die Metropolitanregionen sind nicht nur grösser als die Kantone, sondern ihre Grenzen verlaufen auch mehr oder weniger diametral zu deren Grenzen. Metropolitanregionen sind jedoch mehr als nur statistische Gebilde. In Basel hat sich der Verein Metrobasel gebildet, um der Metropolitanregion eine Plattform und eine Stimme zu geben.

Die verschiedenen Formen der Zusammenarbeit haben dieselben Gründe: 

– Der Kleinräumigkeit der Schweiz soll entgegengewirkt werden. 

– Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklungen nehmen keine Rücksichten auf Kantonsgrenzen.

Zusammenfassend: Die scheinbar so klaren politischen Strukturen überlagern sich mit anderen Strukturen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art. Welche Konsequenzen können/sollen/ müssen Archivarinnen und Archivare daraus ziehen?

Tabelle 2 zeigt den Stand der archivischen Überlieferungsbildung in der Schweiz am Beispiel der Personendossiers der kantonalen Migrationsämter, der früheren Fremdenpolizei. Das Vorgehen, mit dem ich zu den Angaben gekommen bin, ist symptomatisch: Ich habe die Empfehlungen der Koordinationskommission des VSA angeschaut und in unseren eigenen Unterlagen gesucht, ob ich weitere Bewertungskonzepte finde. Die Liste ist also rein zufällig entstanden und sicher nicht voll- ständig. Gewiss haben auch noch andere Archive Bewertungskonzepte für diese Personendossiers erstellt.

Die Migrationsämter vollziehen in erster Linie Bundesrecht. Die Personendossiers bestehen überall aus den gleichen Dokumententypen (Bewilligungen, Kopien von Ausweisen, Korrespondenz etc.). Trotzdem hat jedes Archiv für sich ein Bewertungskonzept ausgearbeitet. Jedes dieser Bewertungskonzepte ist bestimmt gut durch- dacht und begründet. Aber ist es wirklich nötig, in 26 Kantonen 26 Mal dieselben Dossierkategorien zu bewerten? Und dies in vielen Fällen erst noch ohne das Wissen, wie die anderen Archive mit den gleichen Akten umgegangen sind? Ist dies – auch vor dem Hintergrund der oben erwähnten Strukturveränderungen – noch zeitgemäss?

Die Dossiers der Migrationsämter sind aber nur ein Beispiel unter vielen. Um auf der kantonalen Ebene zu bleiben: Die Polizei, die Spitäler, die Gerichte, die Regionalen Arbeitsvermittlungen arbeiten in allen Kantonen genau gleich. Die Dossiers in den Bereichen Straf- und Massnahmenvollzug oder Zivilrecht sehen überall praktisch gleich aus. Wieso werden sie denn nicht auch überall archivisch gleich bewertet?

Archiv                                                Sampling

Staatsarchiv Luzern                             Initiale S

Staatsarachiv Waadt                            Dossiers mit der Endzahl 00

Staatsarchiv Uri                                   Jedes 50. Dossier

Staatsarchiv Basel-Landschaft              Zufallszahlen (Quote 5%)

Bundesarchiv                                       Dossiers mit der Endzahl 00

Tabelle 2: Quantitatives Sampling von Personendossiers der Migrationsämter (Fremdenpolizei) in verschiedenen Staatsarchiven

Überlieferungsbildung im Verbund

Eine gleichförmige Bewertung von gleichartigen Serien ist aber nur eine Möglichkeit der Zusammenarbeit unter den Archiven. Noch einen Schritt weiter geht das Konzept «Überlieferungsbildung im Verbund», das vor rund zehn Jahren in Deutschland entwickelt wurde. Anstoss war die Beobachtung, dass Archivarinnen und Archivare bei der Bewertung von Unterlagen immer nur «ihren» Teil im Auge haben. Dadurch fehlt ein Gesamt- überblick, und es kommt zu Mehrfachüberlieferungen. Ausdrücklich mit einbezogen in das Konzept wurden auch nichtstaatliche Archive.

Das Verfahren für eine Überlieferungsbildung im Verbund tönt zuerst einmal sehr einfach: Es müssen alle Stellen ermittelt werden, die an der Erfüllung einer Aufgabe beteiligt sind. Im Beispiel der Personaldossiers der Migrationsämter ist dies der Vollzug des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer. Anschliessend werden eine vertikale und eine horizontale Bewertung vorgenommen, zwischen Bund und Kantonen einerseits und zwischen den Kantonen andererseits. Zudem müssen Archive nicht-staatlicher Stellen wie beispielsweise der Flüchtlingshilfe oder Beratungsstellen für Ausländer/innen in die Überlieferungsbildung mit einbezogen werden.

Ein mögliches Vorgehen: Die Archive sprechen untereinander ab, von welcher Dienststelle oder Organisation welche Unterlagen wo archiviert werden. Statt einer einzelnen Überlieferung entstehen so eigentliche Überlieferungslandschaften.

Es kann sich dabei die Frage stellen, ob sich – um auf Kantonsebene zu bleiben – eine 26-malige Archivierung derselben Unterlagenkategorien überhaupt lohnt. Sind die Unterschiede zwischen den Kantonen so gross? Und wäre es in letzter Konsequenz nicht sogar möglich, dass aufgrund der verschiedenen Dokumentationsprofile der beteiligten Archive gewisse Akten nur in bestimmten Archiven aufbewahrt werden, in allen anderen Archiven aber vernichtet werden können?

Ein zweites mögliches Vorgehen: Die Archive sprechen sich untereinander ab, die Archivierung wird aber zentral geregelt. Dieses Verfahren wird in Zukunft durch die digitale Vernetzung immer wichtiger.

Sehr viele Stellen auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene geben Daten in ZEMIS ein oder können diese abfragen. ZEMIS ist aber nur ein Beispiel. Es gibt immer mehr Systeme und Datenbanken, die miteinander vernetzt sind, so beispielsweise Infostar, das elektronische Zivilstandsregister, die Applikationen der regionalen Arbeitsvermittlungszentren oder die Datenbanken der Veterinärämter. Doch wer entscheidet über die Archivierung von solchen Daten? Wer archiviert sie? Und wie steht es mit der Datenhoheit?

Für eine Überlieferungsbildung im Verbund ist es unabdingbar, dass sich die Archive in ihrer Gesamtheit als ein Netzwerk verstehen. Dadurch werden die Dokumentationsprofile der einzelnen Archive geschärft.

Eine Überlieferungsbildung im Verbund ist jedoch an Voraussetzungen geknüpft: 

– Die Archive müssen ihren Horizont über den eigenen Archivsprengel hinaus erweitern. Dies erfordert Zeit und personelle Ressourcen.

– Wie weit geht die Kooperationsbereitschaft zwischen den Archiven? Wie weit sind sie überhaupt bereit und wie weit ist es überhaupt möglich, Vereinbarungen mit anderen Institutionen einzugehen und einzuhalten? Ist am Schluss nicht jedes Archiv sich selbst das nächste?

– Entscheidungen, die im Verbund getroffen werden, können nicht per se für verbindlich erklärt werden.

Erster Schritt: eine gemeinsame Plattform 

Die Arbeitsgruppe Bewertung des VSA arbeitet daran, eine Plattform im Internet einzurichten, damit die Archive ihre Bewertungsentscheide anderen Archiven bekannt machen können.

Dies ist natürlich noch keine Überlieferungsbildung im Verbund, sondern nur ein erster Schritt hin zu einem Informationsaustausch. Aber immerhin ein erster Schritt. Wir erhoffen uns, dass Übersichten wie die Tabelle 2 nicht mehr in mühevoller Kleinarbeit zusammengestellt werden müssen. Dabei sind wir aber auf die Mitarbeit der Archive angewiesen.

Zum Schluss noch einmal die Frage: Was ist eigentlich der Garten eines Archivs? Wo fängt er an, wo hört er auf? Es ist offensichtlich, dass sich die Schweiz verändert. In vielen Bereichen findet eine Zusammenarbeit über die territorialen Grenzen hinaus statt. Die Archive müssen sich in diese Prozesse einbringen. Eine verbindliche Überlieferungsbildung im Verbund wird wohl kaum rasch zu realisieren sein. Es wäre schon viel gewonnen, wenn sich die Archive – in welchen Gärten auch immer – als Netzwerk verstehen und ihre Strategien und Entscheidungen in Fragen der Überlieferungsbildung miteinander austauschen. So könnte aus vielen Gärten doch noch so etwas wie eine Landschaft entstehen.

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Patrick Moser

Staatsarchiv Basel-Landschaft, Präsident der Arbeitsgruppe Bewertung des VSA

Résumé

A l’exception de la fondation du Canton du Jura, la structure politique des cantons suisses n’a pas changé depuis le début du XIXe siècle. Par contre, le développement des structures économiques, sociales et culturelles dépasse les frontières territoriales des cantons. De plus en plus la coopération est pratiquée dans un nombre croissant de domaines comme, par exemple, les hautes écoles spécialisées, la planification hospitalière, la formation policière. La coopération est aujourd’hui à la base de concordats intercantonaux. On constate en outre une interconnexion de plus en plus prégnante entre Confédération, cantons et communes à travers des banques de données électroniques partagées pour gérer les dossiers.

L’évaluation archivistique est en général sous la responsabilité du seul service des Archives. Toutefois, les Archives doivent être attentives et prendre en considération des développements qui ne se cantonnent pas à leur seul ressort territorial. Pour mieux répondre aux défis des transformations administratives, les services d’archives doivent imaginer une organisation interconnectée pour la constitution des archives. Au lieu de constituer des archives isolément, les archivistes ont à travailler dans un réseau et à coopérer pour disposer d’un paysage archivistique commun. La constitution des archives en interconnexion doit évidemment respecter certaines conditions préalables. Les archivistes doivent élargir leur horizon en dépassant leur compétence territoriale pour arriver à une coopération collective.

Un premier pas qui ferait déjà beaucoup de bien, consisterait à publier les décisions de l’évaluation archivistique et à échanger des informations entre services d’archives.