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Memopolitik – vom Umgang mit dem Gedächtnis der Gesellschaften

2006 / 1
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2006 / 1 Table des matières

Spannender Kaminfeuerabend hier im endlosen Winter 05/06. Ich erzähle unseren Gästen vom Thema des nun vorliegenden ersten arbido print. Die Gäste: der weltgereiste weise 84-jährige Schweizer Geologe Dr. H., der Ältere, und sein Sohn Dr. H., der Jüngere, der in Pasadena (USA) beim Mars Exploration Rover Project als Deputy Project Scientist wirkt.

Dr. H., der Ältere, berichtet von seinen lebenslang gesammelten, geordneten, gepflegten Schätzen, die er in einem eigens dafür umgebauten heizbaren Hühnerhaus hütet und – bis jetzt erfolglos – der Öffentlichkeit unentgeltlich zur Verfügung stellen möchte, statt sie in die Schuttmulde zu werfen. arbido hat ihn anschliessend besucht und beraten.

Dr. H., der Jüngere, auf der Durchreise zwischen geheimnisvollen archäologischen Entdeckungen in Ägypten und dem Jet Propulsion Laboratory der NASA in Kalifornien, hat viel zu sagen zur Frage, wie das «Gedächtnis der Menschheit» komprimiert ins All spediert wird für unbekannte Adressaten. Er verspricht, für arbido bald einmal einen Bericht darüber zu schreiben.

Vom «private memory» eines einzelnen und damit einzigartigen Bürgers aus unserer Gegend bis zum alltauglich konditionierten Menschheitsgedächtnis – welch ein Spektrum tat sich da auf ! Wir diskutierten noch in andere Sphären weiter – was wird hienieden in 1000, gar 10 000 Jahren aus unserer Gegenwart von wem überhaupt noch verstanden? Was könnte Gedächtnis in solchen Dimensionen konkret bedeuten, wie wäre es auf solche Dauer für Nachfolgende überhaupt erhalt- und kommunizierbar?

Dokumentierte Vergangenheit hilft da als Ratgeber zuhanden der Zukunft nur teilweise weiter. Denn schliesslich müssen wir uns immer wieder bewusst sein, dass wir im Rückwärtsgang auch relativ schnell an Grenzen stossen, was menschliche Überlieferungen betrifft.

Die spannenden Thesen des Soziologen und Bestsellerautors Ulrich Beck und des Naturwissenschafters und ebenfalls best-verkaufenden Schriftstellers Gregory Benford zur «deep future» kamen zur Sprache. Dabei wurden sich die beiden ungleich gleichen Gäste, Vater und Sohn, immer wieder einig, wie zentral schlussendlich doch die «oral history» bleibt: Was wirklich erhalten, längerfristig kommuniziert werden soll, müsse so ungefähr alle 100 Jahre mündlich an die aktive Generation weitergegeben werden.

Zurück aus All, tiefer Vergangenheit und «deep future» auf den Boden der Realität anno 2006.

Noch nie habe ich in meiner arbido-Zeit seit 1997 anfänglich so sehr um Beiträge kämpfen müssen, wie diesmal: Mit meinen Bitten um Texte zur Memopolitik, um Artikel über den Umgang mit Nachlässen, Schenkungen usw. kam ich mir z.T. tagelang richtig blöd vor. Auch Fachleute fragten mich, was denn unter «Memopolitik» eigentlich genau zu verstehen sei. Einige sagten beschwörend, ich komme zu früh mit diesem Thema, andere fanden das bestenfalls eine langweilige Angelegenheit für Gleichmacher, Weltfremde und PolitikerInnen. Die Ambivalenz gegenüber dem Begriff Memopolitik zeigte sich symbolhaft schon daran, dass die einen ihn mit, die andern ohne Anführungszeichen schreiben (... da gehts der Ökopolitik heute schon etwas besser).

Ein ausgewiesener Kenner der I+D- Welt nannte meine Idee, Nachlässe und Schenkungen in arbido 1/06 einmal grundsätzlich, breiter zu behandeln, schlicht einen «Furz», der niemanden interessiere. Aber, oh Wunder, der «F...», für den ich mich schon zu schämen begann, ist plötzlich förmlich explodiert. Und das, wie ich meine, mit durchaus positiven Folgen: Es meldeten sich nun auf einmal Leute, die gar nicht um Beiträge angegangen worden waren; andere, die zunächst eine Mitarbeit kategorisch verweigert hatten, sind jetzt mit hochinteressanten Artikeln vertreten. Wir verdanken dies jenen, die mit ihren spontan positiven, gewichtigen Zusagen die eigentliche Initialzündung gegeben haben. Mein grosses Merci geht jetzt aber natürlich uneingeschränkt an alle Mitwirkenden!

Ich hoffe also, wir kommen nun mit dem unglaublich vielschichtigen Thema «Memopolitik – vom Umgang mit dem Gedächtnis der Gesellschaften» weder zu früh noch zu spät, noch generell unpassend, sondern gerade richtig und rechtzeitig.

Es ist dabei zu bemerken, dass das Thema in den verschiedensten Institutionen und auf unterschiedlichsten Ebenen vielfältig verflochten vorkommt, willkommen und umstritten ist, lebhaft diskutiert oder verdrängt wird, bewusst vernetzt und ebenso bewusst individuell angegangen wird und schlussendlich doch überall, bewusst oder unbewusst, freiwillig oder unfreiwillig eine zentrale Rolle spielt und eine besondere Qualität, auch eine besondere Verantwortung in einer gemeinsamen I+D-Identität bilden kann – sodass es für mich letztlich schwierig wurde, die eingegangenen Beiträge in eine auch für Sie verständliche, einigermassen klar strukturierte Reihenfolge zu bringen.

Also denn – hier ein kurzer Überblick über das erste arbido print der neuen Gattung: Wir beginnen Teil 1 mit Geschichtlichem, Grundsätzlichem, Gemeinsamem, jeweils auch einzeln Prägendem auf nationaler, kantonaler und städtischer Ebene. Es folgen Nachforschungen zum Wort «Memo», Resultate einer in diesem Heft viel diskutierten Studie, Finanzierungsideen, Antworten zur Bedeutung einer Memopolitik auch für Wissenschaft und Forschung sowie ein Überblick zum Umgang mit dem Dokumentenerbe in Europa und der ganzen Welt. Der 2. Teil stellt die Bibliotheken in den Vordergrund, der 3. Teil die Archive verschiedenster Ebenen und Ausprägungen. Der 4. Teil geht speziell auch auf audiovisuelle Bereiche ein, der 5. Teil auf die Historischen Museen. Im 6. Teil präsentieren wir Beispiele und Überlegungen zum praktischen Um- gang mit Grafik, Handschriften usw. bis zurück zum Papyrus. Der 7. Teil behandelt das Thema «Schenkungen und Nachlässe» aus der Optik zweier Institutionen und bezüglich eines «private memory». Wie soll eine Memopolitik der Bevölkerung schmackhaft gemacht, wie kann das «Mémoire» dem Publikum lebendig präsentiert werden? Dieser Aspekt wird im 8. Teil anhand einiger Beispiele auch bildhaft dargestellt. Eine anregende Buchbesprechung und die eingangs erwähnten Zitate der Wissenschafter Benford und Beck runden diese satte Ausgabe ab. In fast alle Teile eingestreut sind konkrete Beschreibungen von aktuellen Projekten, lesenswerte Erfahrungsberichte, exemplarisch geschilderte Ist-Zustände.

So vielfältig die behandelten Themen und die Liste der AutorInnen, so wenig dürfen wir hier Vollständigkeit vortäuschen. So fehlen (in wiederum unvollständiger Auflistung ...) z. B. je einzelne Fachberichte aus dem Innern von Fotosammlungen, Kunstmuseen, Musikarchiven, kirchlichen Stellen usw. usf. Das Thema rief quasi selbständig aber nach so viel Durchmischung, gegenseitiger Erwähnung, Querbezügen, gemeinsamer Aktion, dass Sie bei der ausführlicheren Lektüre feststellen werden, dass die Vielfalt in dieser Ausgabe noch viel grösser ist, als Sie beim ersten Blick aufs Inhaltsverzeichnis erahnen können. Es gibt kaum einen grundsätzlichen Aufsatz in diesem Heft, der nicht – und das erstmalig in meiner arbido-Praxis – konkret, durchaus respektvoll, aufbauend, verbindend auch auf «die Andern» eingeht. Ein Zeichen, dass wir es hier wirklich mit einem Thema zu tun haben, an dem niemand in der «Gedächtnisbranche» (Andreas Kellerhals) vorbeikommt.

Dieser Eindruck wird verstärkt durch eine hier nicht direkt sichtbare Ebene mit Zukunft: Noch nie habe ich für arbido so viele Recherchen angestellt, derart breit Kontakte gesucht und gepflegt. Ich denke da z.B. dankbar an Gespräche und Korrespondenzen mit a. BR Ruth Dreifuss, mit der Politikerin, Professorin, Ex-Pro-Helvetia-Präsidentin Yvette Jaggi, mit VertreterInnen von BAKOM und vom Staatssekretariat für Bildung und Forschung, mit RegierungsrätInnen und StadtpräsidentInnen, mit Mitarbeitenden von Bibliotheken, Archiven, Dokumentationsstellen aller Ebenen und Arten, mit KonservatorInnen und KünstlerInnen, leitendem Personal von Medienunternehmen, Nonprofit-Organisationen, Stiftungen ... Auch wenn viele dieser z.T. intensiven Kontakte aus diversen Gründen hier für den Moment keinen schriftlichen Niederschlag finden, so lieferten sie doch Hintergrundwissen und werden bestimmt für die arbido-Zukunft – vielleicht sogar für die Memopolitik? – hilfreich und von Bedeutung sein. Eine Antwort hat mich allerdings überrascht: Nach mehrmaligem Nachfragen liess der neue Pro-Helvetia-Präsident Mario Annoni via Sekretariat ausrichten: «Da Pro Helvetia keine Memopolitik betreibt, können wir uns auch nicht mit einem diesbezüglichen Beitrag zu diesem Thema äussern.» Immerhin gibts dafür in diesem Heft mindestens ein konkretes Beispiel, welche wichtige Rolle Pro Helvetia «diesbezüglich» schon gespielt hat. Wer sucht, der findet.

Bei der Redaktion und Produktion dieser Nummer habe ich gar manches gelernt, z.B. auch betreffend Layout (grosses Merci an Thomas Wegner und Gerhard Blättler). Ich hoffe, für Sie wird die bevorstehende Lektüre besonders lehrreich – ein weiteres «Noch- nie» muss ich dazu unbedingt anfügen: Noch nie wurde in meiner bisherigen Amtszeit eine arbido-Ausgabe von derart vielen geradezu philosophischen Inhalten genährt. Tipp: Geniessen Sie arbido print ausnahmsweise einmal bewusst auch diagonal. Lesen Sie dabei die neu auf fast jeder Seite besonders hervorgehobenen Zitate – eine Goldgrube! Ich persönlich habe mir einige davon auf gelbe Klebezettel geschrieben und damit mein Büro dekoriert. Auch für andere Bereiche möge mir z.B. Christoph Reichenaus Satz helfen: «Was alle angeht, können nur alle lösen».

arbido-Frühlingserwachen: Am 21. März 2006 konnten die erste arbido website aufgeschaltet und der erste arbido newsletter verschickt werden (grosser Dank an Andreas Von Gunten und sein Team); die Reaktionen dazu sind bis jetzt durchwegs positiv, die erwünschten Anregungen und Verbesserungsvorschläge durchs Band aufbauend, klug, hilfreich. Heute nun liegt mit stattlichem Umfang das erste arbido print vor. Feedback ist auch hierzu natürlich willkommen!

Ich danke allen von ganzem Herzen, die mir in Hinter- und Vordergrund bei diesem dreifachen Kraftakt geholfen haben und beigestanden sind. Solches Engagement und kreatives Echo, die verbindliche Mitarbeit und auch die moralische Unterstützung sind arbido sowohl in gedruckter als auch elektronischer Form weiterhin zu wünschen, damit sich das gesamte arbido-Publikum immer wieder nicht nur auf den neuen Frühling, sondern auf den ganzen Jahrgang freuen kann.

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Chef du Service de la culture du Canton du Valais

Direktor Schweizerisches Bundesarchiv

Historiker / Berater Informationsmanagement

Beauftragter für Weiterbildung BIS und freischaffender Autor