Commentaires Résumé
2006/3 Erschliessung – Kernaufgabe der Archive und wichtiges Thema für die gesamte I+D-Welt

Das neue Weiterbildungsprogramm der Universität Bern und die Anforderungen der Berufspraxis

Commentaires Résumé

Erschliessung als Teil des Informationsmanagements ist eine Fachkompetenz mit zunehmender Komplexität und in dynamischer Entwicklung. Erschliessung gehört darum selbstverständlich zum neuen Master of Advanced Studies in Archival and Information Science (MAS AIS) der Universität Bern, dessen Aufbau und universitäre Situierung einleitend vorgestellt werden.

Der MAS AIS ist eine gesamtschweizerische, mehrsprachige, berufsbegleitende Aus- und Weiterbildung auf universitärem Niveau. Sie verbindet das herkömmliche Ausbildungsprofil von ArchivarInnen mit den Anforderungen moderner Technologie und befähigt die AbsolventInnen, archivische und bibliothekarische Kernkompetenzen zukunftsgerichtet weiterzuentwickeln und einzusetzen.

Archiv- und Informationswissenschaft an der Universität

Thematische wissenschaftliche Auseinandersetzung und der Arbeitsalltag in einem Archiv, einer Bibliothek oder einem anderen Informationszentrum scheinen sich aufs Erste diametral entgegenzustehen. Archiv- und Informationswissenschaft basieren auf historischer Herleitung und theoretischer Grundlagenforschung; die wissenschaftlichen Resultate fliessen aber in die Praxis ein und dienen dazu, theoriegestützt Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln und Forschungsergebnisse umzusetzen.

Der neue, gesamtschweizerische MAS AIS verbindet als universitäres Weiterbildungsprogramm die beiden Pole, Theorie und Praxis, miteinander. Ausgangspunkt ist die theoretische Auseinandersetzung mit den Grundlagen und den wichtigsten Erkenntnissen von Archiv-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft. Der wissenschaftliche, methodische Ansatz dient dann dazu, eine Brücke zwischen den Anforderungen der Wissenschaft und der Berufspraxis zu bauen.

Aufbau des Studiengangs

Das Weiterbildungsprogramm ist zweistufig aufgebaut und wird mit dem Master of Advanced Studies in Archival and Information Science abgeschlossen, die Grundstufe kann aber auch schon mit einem Certificate of Advanced Studies in Archival and Information Science beendet werden.

Der MAS AIS ist über die klassische Archiv- und Bibliothekswissenschaft hinaus integral und interdisziplinär informationswissenschaftlich konzipiertDas Weiterbildungsprogramm und aktuelle Informationen sind in deutscher und französischer Sprache unter www.archivwissenschaft.ch oder www.archivistique.ch abrufbar. , Zum integrierten Ansatz siehe auch das Editorial der Herausgeber (Eric Ketelaar, Theo Thomassen, Peter Horsmann) in: Archival Science – International Journal on Recorded Information, Vol. 1, No. 1, 2001, S. 1.. Die vermittelten Archiv- und Informationswissenschaften beinhalten alle Etappen im Lebenszyklus oder im Kontinuum von mehrheitlich prozessgebundenen Informationen.

Ein Schwerpunkt liegt auf Informations- und Wissensmanagement, insbesondere auf der digitalen Informationsverarbeitung und dem vorarchivischen Records Management. Die Kernfächer umfassen aber auch die traditionellen Aufgaben und Funktionen von Archiven, Bibliotheken und andern Informationszentren.

Um im Informationsmanagement eines staatlichen oder privatwirtschaftlichen Arbeitgebers eine hochqualifizierte Tätigkeit auszuüben oder eine Führungsfunktion wahrnehmen zu können, ist ein breites Kontextwissen nötig. Darum werden auch die Stellung und Funktion der Archive, Bibliotheken und anderer Informationszentren in ihrem gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontext behandelt. Als weitere Fächer kommen Historische Grund- oder Hilfswissenschaften, Management von Informationszentren sowie ausgewählte Gebiete der Geschichte und anderer Geistes- und Sozialwissenschaften mit ihrem jeweiligen Bezug zur Arbeit in ABD-Institutionen dazu.

Das ganze Lehrangebot ist auf die exemplarische Vertiefung und praktische Umsetzung theoretischer Erkenntnisse ausgerichtet. Dieser Zielsetzung dienen auch die Masterarbeit und ein Praktikum. Das Lehrangebot ist interkulturell und international; es berücksichtigt europäische und angelsächsische Traditionen und Kompetenzen. Der universitär verankerte Studiengang orientiert sich am neuesten Stand der wissenschaftlichen Forschung und Technologie und an den Bedürfnissen der staatlichen und privatwirtschaftlichen Informationszentren und Arbeitgeber und bezieht diese bewusst mit ein.

Die Programmleitung, in der die Universitäten Bern und Lausanne sowie der VSA-AAS mit seinem Präsidenten vertreten sind, sichern die wissenschaftliche Qualität des Studiengangs, der organisatorisch dem Historischen Institut der Universität Bern angegliedert ist. Der Beirat mit einer Beteiligung der drei Berufsverbände (VSA-AAS / BBS / SVD-ASD) begleitet die fachliche Programmentwicklung.

Die Studienleitung entwirft das detaillierte Studienprogramm und sorgt für die inhaltliche Kohärenz des Studiengangs, der modulweise strukturiert ist. Sie unterstützt die ModulleiterInnen administrativ und inhaltlich. Die Fachdidaktik ist auf die hohen Erwartungen berufstätiger Studierender mit abgeschlossener universitärer Vorbildung ausgerichtet.

Die Zusammenarbeit mit universitären Kompetenzzentren im In- und Ausland führt zu einem spannenden Dialog zwischen hoch qualifizierten Lehrpersonen aus der Praxis sowie aus Forschung und Lehre und den Studierenden. Blockseminare an der Archivschule in Marburg (zu Bewertung und Erschliessung) und ein gemeinsames Seminar mit den Archives de France (zur digitalen Langzeitarchivierung) runden das Profil ab.

Zielpublikum

Zielpublikum sind UniversitätsabsolventInnen historisch-sozialwissenschaftlicher oder anderer Studienrichtungen, Berufstätige aus dem I+D- Bereich mit Hochschulausbildung, UmsteigerInnen mit entsprechender Vorbildung sowie die AbsolventInnen des Zertifikats in Archiv- und Informationswissenschaften, das in den MAS AIS integriert wurde. Die Zulassungen zum ersten, vollbesetzten Studiengang zeigen, dass die neue universitäre Weiterbildung für UniversitätsabsolventInnen und für in einem breiten Spektrum von staatlichem, kommunalem oder privatwirtschaftlichem Informationsmanagement tätigen Personen eine Herausforderung darstellt. Damit spricht sie ein weitgefächertes Berufsspektrum an, das über die traditionellen Berufsbilder des wissenschaftlichen Archivars oder der wissenschaftlichen Bibliothekarin hinausweist.

Grundlagenfächer im MAS AIS

Die Grundfunktionen und Aufgaben von Archiven, Bibliotheken und anderen Informationszentren werden jeweils auf Zertifikats- und Masterstufe unterrichtet.

Der Akzent liegt auf der Vermittlung der wissenschaftlichen Grundlagen (Modul 1c mit 44 Präsenzlektionen), insbesondere von Normen und Standards, und der theoretischen Vertiefung und praktischen Anwendung (Modul 2c mit 50 Präsenzlektionen und Blockseminar an der Archivschule Marburg). Ziel ist es, die übergreifenden theoretischen Prinzipien kennenzulernen sowie Divergenzen und Konvergenzen zwischen den beteiligten Wissenschaften und Methoden sichtbar zu machen. Gilbert Coutaz, Direktor des Staatsarchivs des Kantons Waadt, leitet beide Module, Gaby Knoch-Mund unterstützt ihn von Seiten der Studienleitung.

Erschliessung im Kontext

Archivische Erschliessung bzw. bibliothekarische Katalogisierung behalten als Kernkompetenzen ihren Stellenwert; die praktische Erschliessungsarbeit befindet sich aber im Wandel und muss sich neuen Herausforderungen stellen:

–  Erschliessung wird zu einer Querschnittsfunktion zwischen Records Management und Information Retrieval.

–  Erschliessung ist ohne Qualitäts- und Ressourcenmanagement nicht mehr denkbar.

–  Erschliessung muss den hohen Be- nutzerInnenerwartungen gerecht werden.

Erschliessung ist kein isoliertes Teilfach und verlangt eine Vielfalt von KompetenzenSiehe internationale Kompetenzenkataloge wie die Guidelines der Society of American Archivists u.a. http://www.archivists.org/prof-education/ed_guidelines.asp, 1. Der MAS AIS vermittelt die dazu notwendigen Kompetenzen:

–  den Gegenstand, insbesondere die prozessgenerierten und prozessgebundenen Informationen zu kennen

–  den Gegenstand und seinen Kontext soweit analysieren zu können, dass alle fachlichen Funktionen ausgeführt werden können

–  aktuelle und künftige Informationssysteme mitgestalten zu können

–  die archivischen, bibliothekarischen und dokumentarischen Funktionen verstehen, implementieren und weiterentwickeln zu können

–  ein Informationszentrum oder einen Teil davon organisieren und erfolgreich führen zu können 

Erschliessung für die Zukunft

Erschliessung ist eine zentrale Aufgabe in einem dynamischen Veränderungsprozess, in dem einzig die konventionellen Informationsobjekte in Papierform stabil zu sein scheinen. Modernes Informationsmanagement entbindet nicht von Erschliessung. Erschliessung heisst darum, den Kern des Erschliessungsobjekts zu verstehen, die techno- logischen Möglichkeiten zu kennen und das Nutzungspotenzial zu erkennen.

Erschliessung findet in einem Beziehungsgefüge statt, das in seiner Komplexität gesteuert werden muss: Bewertung, Records Management und Vermittlung wandeln sich zusammen mit der Erschliessung, um den Anforderungen an die Langzeitarchivierung und den wachsenden Erwartungen der NutzerInnen entsprechen zu können. Darum gehört Erschliessung an zentraler Stelle des Weiterbildungsprogramms zu den Grundfunktionen I und II, kommt aber in allen Grundlagenmodulen, in den methodisch-informationswissenschaftlichen Modulen der Aufbaustufe sowie im Managementmodul zur Sprache.

Der MAS AIS als universitäre Aus- und Weiterbildung legt dabei besonderen Wert auf:

– den theoretischen, interdisziplinären Ansatz und die Vermittlung des Stands der Forschung

– die Bedeutung von Normen und Standards im internationalen Kontext

– die Erschliessung im Kontext von Archiv- und Ressourcenmanagement, Records Management und Vermittlung

– das Erkennen zukünftiger Herausforderungen, Divergenzen und Konvergenzen zwischen ABD-Institutionen

– die Möglichkeit zu persönlicher Schwerpunktsetzung mit einer Zertifikats- und Masterarbeit zu zentralen Fragen der Archiv- und Informationswissenschaft

– das Praktikum als Chance, Theorie umzusetzen und die (Arbeits-)Perspektive zu wechseln

– die Ausrichtung auf zukünftige ArbeitgeberInnen sowie auf eine bedarfs- und bedürfnisorientierte Ausbildung 

Schluss

Erschliessung ist im MAS AIS mit der ganzen Ausbildung vernetzt. Das neue, mehrsprachige Weiterbildungsprogramm der Universität Bern fördert damit die Analyse- und Kritikfähigkeit der AbsolventInnen, führt sie in die historische Dimension und die nationalen Traditionen der einzelnen Fächer ein. Ziel ist es, deren Potenzial für die Zukunft zu beurteilen und zu entwickeln und – dank der Diskussion von Fallstudien – in der Berufspraxis umsetzen zu können.

Die Integration in die Universität und die inneruniversitäre Zusammenarbeit sowie der Austausch mit DozentInnen aus dem In- und Ausland fördern den wissenschaftlichen Diskurs und die vertiefte Auseinandersetzung mit neuesten theoretischen Ansätzen und Methoden, ohne aber den persönlichen Dialog und das Lernen voneinander sowie den Praxisbezug zu vernachlässigen.

Der Studiengang startet im Oktober 2006 mit einer Einführung in die beteiligten Wissenschaften. Die zweite Auflage des Studiengangs ist aber schon in Vorbereitung und berücksichtigt noch mehr das Konvergenzstreben und den integrativen Ansatz zwischen Archiv-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft in einem gesamtschweizerischen Kontext. 

Avatar

Gaby Knoch-Mund

Dr. phil., Studienleitung MAS ALIS Universitäten Bern und Lausanne 

  • 1 .