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2023/2 Recht auf Zugang

Schmerzliche Lücken – Informationszugang für Betroffene von «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen»

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Fragen rund um Aktenzugang und die Rolle der öffentlichen Archive sind im Rahmen der gesellschaftlichen und gesetzgeberischen Auseinandersetzung mit fürsorgerischen Zwangsmassnahmen ganz speziell in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Dieser Beitrag beleuchtet das sensible Thema aus verschiedenen Perspektiven und exemplarisch für den Kanton Zug.

Zeitzeugenberichte, mediale Auseinandersetzungen und Forschungsergebnisse formten unser kollektives Bewusstsein, welch Unrecht von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffenen Personen geschehen ist. All diesen Zwangsmassnahmen waren der Umgang des schweizerischen Rechts- und Sozialstaats mit ökonomisch schlechter gestellten und «nonkonformen» Menschen gemein. Sie befanden sich nicht nur am unteren Ende der Entscheidungskette, sondern waren den Entscheidungsträgern gegenüber meist ohnmächtig. Dieses Machtgefälle machte auf eine verstörende Seite der schweizerischen Zeitgeschichte aufmerksam, die mit dem Selbstbild des Landes als Hort der direkten Demokratie, des sozialen Ausgleichs und des humanitären Völkerrechts wenig korrelierte. Umso mehr, als dass diese Einweisungen sogar noch in Zeiten umgesetzt wurden, als die Schweiz zu den wohlhabendsten Ländern zählte.1, 2

Für die betroffenen Personen waren die Entscheide aufgrund ihres noch jungen Alters oder des intransparenten Verfahrens kaum nachvollziehbar. Deren Konsequenzen trafen sie hart und stigmatisierten sie teilweise für ihr ganzes Leben. Die offizielle Schweiz, die Gesellschaft und die Forschung setzt sich vertieft mit diesem belastenden Kapitel der jüngeren Schweizer Sozialgeschichte auseinander. Die schweizerischen Archivträger leisten bei der Spurensuche nach der individuellen Geschichte mittels Informationszugangs, aber auch zur gesellschaftlichen Aufarbeitung einen wichtigen Beitrag.3

Aktenzugang als Voraussetzung für eine individuelle und gesellschaftliche Aufarbeitung

Die öffentliche Auseinandersetzung mündete vor gut zehn Jahren auf nationaler Ebene in zwei Gedenkanlässe und zur Bitte zweier Bundesrätinnen um Entschuldigung für das erlittene Unrecht. Im Anschluss wurde ein Runder Tisch geschaffen, an dem Vertreter von Betroffenenorganisationen, Behörden und Institutionen ins Gespräch kamen. Die Sicherstellung von Akten und der Zugang zu denselben wurden für individuelle Anfragen Betroffener, aber auch für die wissenschaftliche und gesellschaftliche Aufarbeitung der seinerzeitigen Vorkommnisse und Verhältnisse als zentral erachtet. Dies veranlasste die Schweizerische Archivdirektorenkonferenz ADK eine Reihe von Informationsschreiben zu verfassen, worin betont wurde, dass private Institutionen sowie kantonale und kommunale Stellen die Aktenüberlieferung nicht weiter ausdünnen dürften.4

2Akten spielten in Versorgungsverfahren eine entscheidende Rolle, denn gegenüber der aktenkundigen «Wahrheit» hatten Aussagen von Betroffenen einen schweren Stand. Oftmals «eilten» Akten wie Leumunds­zeugnisse, Vormundschaftsentscheide oder psychiatrische Gutachten voraus, noch bevor die betroffenen Personen einvernommen oder in Institutionen eingewiesen worden waren. Übergeordnete Verwaltungseinheiten bekräftigen teilweise unüberprüft Anträge von untergeordneten Stellen und Anstaltseinweisungen wurden vielerorts lediglich in Beschlussform dokumentiert. Akten waren keine neutralen Instrumente der Verwaltung und über die Jahre hinweg summierten sie ein scheinbar «kontinuierliches Versagen» der Personen. Die Dokumente galten ab dahin als objektive Belege für die «Liederlichkeit» oder «Arbeitsscheu» einer Person, begleiteten sie ein Leben lang und die darin enthaltenen diskreditierenden Aussagen entfalteten immer wieder neue Wirksamkeit.5

02 Abb 2 Heimeli Innenaufnahme Veranda2

Am 21. März 2014 verabschiedete das Parlament das Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen, zwei Jahre später wurde es in das weiter gefasste Bundesgesetz über die Aufarbei­tung fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981, kurz AFZFG, vom 30. September 2016 integriert. Darin wurde die Ausrichtung eines Solidaritätsbeitrags festgehalten. Über 9‘400 Gesuche von betroffenen Personen trafen beim Bundesamt für Justiz ein.6, 7Die Staatsarchive wurden gemäss Bundesgesetz zu offiziellen Anlaufstellen für Betroffene und unterstützten sie sowie ihre Angehörige bei der Suche nach Akten. Die Archive hatten dabei nicht die Aufgabe, Gesuche zu überprüfen und Anträge zu bewilligen, sondern die Aktenrecherche nach Kräften zu unterstützen. Bundes- und Kantonsbehörden sowie Gemeinden wurden zur Aufbewahrung ihrer Unterlagen verpflichtet, die Aussagen über fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen zuliessen. Private Institutionen unterstanden ab dahin kantonalen Informations-, Datenschutz- und Archivgesetzgebungen. Alle Archivträger hatten für die fachgerechte Sicherung, Bewertung, Erschliessung und Aufbewahrung ihrer Akten zu sorgen und den Betroffenen zugänglich zu machen. Betroffene konnten die in ihren Augen strittigen oder unrichtigen Akteninhalte mit einer Gegendarstellung ergänzen, es bestand indes kein Anspruch auf Herausgabe, Berichtigung oder Vernichtung von Akten.8 Kernanliegen des Bundesgesetzes war die Verankerung des Rechts Betroffener auf einen einfachen und kostenlosen Zugang zu den sie betreffenden Akten; dieses geht nach ihrem Tod auf ihre Angehörigen über. Dies stellt – zumindest für den zugerischen Archivgesetzrechtsrahmen – eine Sonderbestimmung dar: Kennt das hiesige Archivgesetz doch drei Einsichtsrechte, dasjenige von betroffenen Personen, dasjenige der Organe und dasjenige «Dritter». Mit dem erwähnten Passus im Bundesgesetz wurde somit eine Spezifikation für die Angehörigen geschaffen, die zu einer privilegierten Akteneinsicht «Dritter» führte, die faktisch derjenigen der Betroffenen selbst gleichkommt, sofern diese verstorben sind.9

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Wie in anderen Kantonen wurde auch in Zug eine Aufgabenteilung zwischen Opferberatungsstelle und Staatsarchiv beschlossen. Die Beratung der Opfer und die Unterstützung bei der Gesuchstellung wurde der Fachstelle übertragen, das Staatsarchiv übernahm die Koordination der Aktensuche. Im Schnitt dauerte die Bearbeitung eines Akteneinsichtsgesuchs zwei Arbeitstage, die Durchlaufzeit betrug oft mehrere Wochen. Altersmässig am stärksten vertreten sind die 1940er und 1950er Jahrgänge, gefolgt von den 1930er Jahrgängen und den 1960er Jahrgängen. Rund 60% der Betroffenen sind männlich, 40% weiblich. Der älteste Gesuchsteller hat Jahrgang 1918, die jüngste Gesuchstellerin Jahrgang 1970. Fast die Hälfte der Gesuche wurde von anderen Staatsarchiven eingereicht (Luzern, Zürich, Aargau und Bern). Von den kantonalen Opferberatungsstellen kamen rund ein Drittel der Gesuche. Knapp ein Fünftel der Betroffenen oder Angehörigen richteten ihr Begehren um Akteneinsicht persönlich ans Staatsarchiv Zug. Die Mehrzahl der Gesuche bezog sich auf die Erlebniszeit der Kindheit der Betroffenen, insbesondere den Zeitraum der Fremdplatzierung bei Verwandten oder Pflegefamilien, in Heimen und in einigen Fällen auch der Verdingung. Die Dauer der Fremdplatzierungen variierte von einem bis über zehn Jahre, je nachdem in mehreren Institutionen oder Familien und über Kantonsgrenzen hinweg. Bei rund vier Fünftel der Anfragen wurden Akten gefunden, beim restlichen Fünftel blieb die Suche bedauerlicherweise ergebnislos.10

Wider das Vergessen

Das eingangs genannte Bundesgesetz bezweckt die Anerkennung und Wiedergutmachung des Unrechts, das den Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981 zugefügt worden ist. Es stiess neben Impulsen für Forschung, auch solche für Informationssicherung und Informationszugang aus, die bis heute nachwirken. Diesem starken Zeichen kam beispielsweise auch der Kanton Zug mit dem 2022 abgeschlossenen Forschungsvorhaben «Fürsorgen, vorsorgen, versorgen» nach. Darin wird das vielschichtige Gebilde zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Trägern erstmals für einen Kanton gesamtheitlich rekonstruiert. Diese breite Herangehensweise fasste anhand eines überschaubaren Gemeinwesens, wie es der Kanton Zug darstellt, soziale Fürsorge als komplexes, sich im Verlauf von 170 Jahren veränderndes Dispositiv von Nachfrage und Angeboten, von Akteurinnen und Akteuren und Handlungsoptionen.11 Die gesellschaftliche und gesetzgeberische Auseinandersetzung mit fürsorgerischen Zwangsmassnahmen rückte im Bereich des Aktenzugangs auch die öffentlichen Archive und deren Bedeutung in den Fokus. Sie leisteten einen Beitrag, dass eine schmerzhafte Lücke bezüglich individuellen Informationsbedürfnissen, kollektivem Gedächtnis und – gerade im Bereich der privaten Institutionen – fragmentarischer Überlieferung, verringert wurde.

  • 1 Germann, Urs; Odier, Lorraine: Synthesebericht; Unabhängige Expertenkommission (UEK) administrative Versorgungen, Band 10, Zürich 2019. 
  • 2
  • 3 Schweizerische Archivdirektorinnen- und Archivdirektorenkonferenz (ADK): Erinnerung. Recht und Pflicht!, Zürich 2020. 
  • 4 Empfehlungen der Schweizerischen Archivdirektorenkonferenz ADK an Behörden und Institutionen vom 29.10.2013; vgl. auch Schlussbericht des Runden Tisches: Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement EJPD (Hg.): Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981, August 2014, S. 30–34.
  • 5 Germann, Urs; Odier, Lorraine: Synthesebericht; Unabhängige Expertenkommission (UEK) administrative Versorgungen, Band 10, Zürich 2019.
  • 6 «Solidaritätsbeiträge: Beratende Kommission wird zu ausserparlamentarischer Kommission», Medienmitteilung des Bundesamts für Justiz vom 18.11.2020
  • 7 .
  • 8 Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG) vom 30.09.2016 (Stand am 1. April 2017), SR 211.223.13.
  • 9 Archivgesetz des Kantons Zug vom 29.01.2004, BGS 152.4.
  • 10 Guggisberg, Ernst; Schmid, Brigitte: Auseinandersetzung mit «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen» aus Archivsicht, in: TUGIUM. Jahrbuch des Staatsarchivs des Kantons Zug, des Amtes für Denkmalpflege und Archäologie, des Kantonalen Museums für Urgeschichte Zug und der Burg Zug, Band 35 (2019), S. 7–12.
  • 11 Thomas Meier, Sabine Jenzer, Martina Akermann, Birgit Christensen, Judith Kälin, Valérie Bürgy: Fürsorgen, vorsorgen, versorgen. Soziale Fürsorge im Kanton Zug von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, Zürich 2022. Vgl. auch: Gehrig, Regina; Guggisberg, Ernst: Begleitung des Forschungsprojekts «Soziale Fürsorge im Kanton Zug. Historische Untersuchung», in: TUGIUM. Jahrbuch des Staatsarchivs des Kantons Zug, des Amtes für Denkmalpflege und Archäologie, des Kantonalen Museums für Urgeschichte Zug und der Burg Zug, Band 38 (2022), S. 7–16.

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Aktenzugang ist eine wichtige Voraussetzung für eine individuelle und gesellschaftliche Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, die von schweizerischen Behörden während Jahrzehnten angewandt wurden und mit deren Folgen Betroffene bis heute leben. Entsprechend kommt öffentlichen Archiven bei der Aufarbeitung eine wichtige Rolle zu, die Dr. Ernst Guggisberg eindrücklich und anhand des Fallbeispiels Zug darlegt.