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2009/3 Digitale Dienstleistungen als Herausforderung in I&D

Was ist der Nutzen digitaler Bibliotheken für die Handschriftenforschung? Erfahrungen und Zukunftsperspektiven von e-codices, der «Virtuellen Handschriftenbibliothek der Schweiz»

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Als e-codices, die «Virtuelle Handschriftenbibliothek der Schweiz», im Januar 2005 mit einem Pilotprojekt anfing, Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen auf dem Internet zu publizieren, war ein grösseres Handschriftendigitalisierungsprojekt eigentlich keine Neuheit mehr. Schon 2003 hat zum Beispiel CEEC, das Digitalisierungsprojekt der Dom- und Diözesanbibliothek in Köln, den Beweis erbracht, dass es möglich ist, zu einem vertretbaren Preis Handschriften einer umfangreicheren Handschriftensammlung in einer kompromisslosen Qualität auf dem Internet zu präsentieren.

Neue Wege hat das Digitalisierungsprojekt des Mediävistischen Instituts der Universität Freiburg erst im Frühjahr 2006 beschritten, als mit der Gründung des Kuratoriums für die Digitalisierung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Handschriften der Schweiz (CeCH) das Ziel ins Auge gefasst wurde, auf dem Internetportal e-codices alle mittelalterlichen und eine Auswahl von frühneuzeitlichen Handschriften aus der ganzen Schweiz verfügbar zu machen.

Nach einer längeren Vorlaufzeit bekam e-codices zwei Jahre später Unterstützung von E-lib.ch, der «Elektronischen Bibliothek der Schweiz», die das Freiburger Projekt beauftragte, durch die Digitalisierung von 100 mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Handschriften aus verschiedenen schweizerischen Sammlungen ein nationales Handschriftenportal aufzubauen. E-lib.ch ist ein Innovations- und Kooperationsprojekt, das von der Schweizerischen Universitätskonferenz CUS getragen und von der Konferenz der Universitätsbibliotheken der Schweiz (KUB/CBU) begleitet wird. Strategisches Ziel ist es, E-lib.ch – und damit auch e-codices für die Handschriften – als das führende und zentrale nationale Portal im Sinne eines «Single Point of Access» für die wissenschaftliche Informationsrecherche und Bereitstellung in der Schweiz aufzubauen und nachhaltig zu etablieren. E-lib.ch funktionierte für e-codices sozusagen als Anstossfinanzierung und hat eine ganze Reihe von weiteren Drittmittelprojekten ermöglicht. Das ursprüngliche Ziel von 100 Handschriften konnte bald übertroffen werden.

In den ersten 18 Monaten der Unterstützung durch E-lib.ch ist es uns gelungen, Kooperationen mit insgesamt 25 Handschriftenbibliotheken aufzubauen. Zurzeit (Stand: 30. Juni 2009) werden auf e-codices 404 Handschriften aus insgesamt 17 Sammlungen bereitgestellt, und das Angebot wird in den nächsten Monaten weiter wachsen. 

Ende Jahr planen wir, 600 Handschriften aus 24 Sammlungen bereitzustellen, und die derzeitige Unterstützung von verschiedenen Stiftungen lässt uns hoffen, bis Ende 2011, was auch gleichzeitig den Projektabschluss von E-lib.ch markieren wird, über 1000 Handschriften aus mindestens 30 Sammlungen der Scientific Community bereitzustellen.

Die qualitätsvolle Präsentation von erlesenen Handschriften aus den bedeutendsten Handschriftensammlungen der Schweiz hat e-codices schnell internationale Anerkennung gebracht. Wir müssen uns aber kritisch die Frage stellen, was der Nutzen dieser virtuellen Bibliothek für die eigentliche Handschriftenforschung ist. Können wir schon jetzt etwas darüber sagen, wie e-codices wissenschaftlich benützt wird? Oder kritisch nachgefragt: Ist der Erlös einer solchen virtuellen Bibliothek unter dem Strich nur eine grössere, vielleicht nur scheinbare Effizienz? Ist der Nutzen einer solchen digitalen Bibliothek nur eine Erleichterung der wissenschaftlichen Arbeit, oder kann eine virtuelle Handschriftenbibliothek mit neuen Darstellungsformen auch neue Fragestellungen und neue methodische Zugänge ermöglichen und dadurch die Handschriftenforschung nachhaltig verändern?

Die Erfahrung, die Handschriftenforscher mit digitalen Bibliotheken wie e-codices gemacht haben, und das Feedback, das wir von Forschern weltweit erhalten haben, vermag zu zeigen, dass die Handschriftenforschung durchaus neue Impulse bekommen hat und die handschriftenorientierte Forschung grundlegend verändern wird.

Wir möchten vier Schwerpunkte hervorheben: 

1. Durch das Internet ist es viel einfacher, mit Bildern zu arbeiten, als je zuvor in der gesamten Kulturgeschichte. Dies erlaubt es, auch Handschriften in einer «paläografischen» Qualität ins Netz zu stellen. Waren Forscher und Dozenten bisher gezwungen, paläografische und kodikologische Besonderheiten mit grosser Raffinesse zu beschreiben, kann heute dasselbe viel leichter dargestellt werden oder noch besser: kann das sorgfältig Beschriebene unmissverständlich mit einer qualitätsvollen Abbildung belegt werden. Dies scheint vorerst nur auf eine Erleichterung der wissenschaftlichen Arbeit hinzuweisen. Wenn jedoch das Abbilden leichter gemacht wird als das Beschreiben, dann können auch die bildlichen Aspekte einer Handschrift stärker in den Vordergrund rücken. Dies kommt nicht zuletzt der aktuellen Handschriftenforschung sehr zugute, die schon seit Längerem das Verhältnis von Text und Bild in Handschriften erforscht. Onlinepublikationen, die auch in der Handschriftenforschung zunehmen werden, können dabei von frei zugänglichen digitalen Handschriftenbibliotheken im besonderen Masse profitieren.

2. Der Computer erlaubt neue Editionsformen, sogenannte digitale Editionen, die im Unterschied zu den historisch-kritischen Editionen in Buchform viel komplexer sind und die Varianz eines mittelalterlichen Textes viel präziser und anschaulicher darzustellen vermögen. Die Editionen der «Scholarly Digital Edition» (Birmingham) von Chaucer oder Dante oder die neue Teiledition von Wolfram von Eschenbachs «Parzival» des Parzival-Projekts (Basel – Bern) haben der Editionswissenschaft neue Impulse gegeben. Die klassische Textkritik, die die Editionswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert bestimmt, konnte durch neue Analyseverfahren, die zum Beispiel von der Biochemie übernommen werden, um stemmatische Verhältnisse zwischen den Handschriftenkopien besser zu verstehen, kritisch hinterfragt werden. Die Erforschung von Glossen hat durch die neuen digi- talen Darstellungsformen eine richtiggehende Renaissance erfahren. Das Buch war offensichtlich für die Erforschung der Glossen kein besonders geeignetes Medium. Digitale Handschriftenbibliotheken dienen nicht nur als Hilfsmittel für die Transkription oder Kollation von Textzeugen, sondern werden in die digitalen Editionen eingebunden werden. Digitale Editionen werden dadurch vernetzter und verweisen gleichzeitig mit einer qualitätsvollen Abbildung auf die Primärquellen, also die Handschriften.

3. Auch Handschriftenbeschreibungen werden sich unter dem Einfluss digitaler Handschriftenbibliotheken wandeln. Die derzeitige Praxis von e-codices ist es, bestehende, meist gedruckte Handschriftenbeschreibungen in XML (TEI-P5) zu kodieren. Digitale Bibliotheken sind bezüglich Handschriftenbeschreibungen den gedruckten Fassungen weit überlegen, da sie einerseits die in der Beschreibung genannten Seiten mit der entsprechenden Handschriftenseite verlinken, andererseits die Suche durch verfeinerte Suchmaschinen laufend verbessern und bestehende Beschreibungen aktualisieren können. In Zukunft werden aber sicher auch neue Formen von Handschriftenbeschreibungen entstehen, die das digitale Medium voll auszuschöpfen versuchen werden. Beschreibungen können weiterhin kurz oder ausführlich sein. In einer ausführlichen Form dürften die Grenzen zwischen Handschriftenbeschreibungen und Editionen fliessend werden.

4. Und schliesslich wird die Handschriftenforschung unter dem Einfluss digitaler Handschriftenbibliotheken kollektiver werden. Die Bearbeitung von Handschriftenbeständen durch einen einzelnen Forscher oder eine einzelne Arbeitsgruppe ist zwar weiterhin ein bewährter Weg, dürfte aber in Zukunft wohl eher die Ausnahme bilden. Digitale Bibliotheken werden zum Ort werden, wo Handschriftenforschung generell stattfindet, wo Forschungsarbeiten im Austausch zwischen einzelnen Forschern entstehen und wo schliesslich kleine Forschungsergebnisse angekündigt, aber auch grössere Forschungsarbeiten publiziert werden. Handschriftenbeschreibungen, aber auch Editionen, werden also unter dem Einfluss von interaktiven Handschriftenbibliotheken zu kollektiven Unternehmungen. Dem Aufbau von internationalen Forschungsinfrastrukturen, die solches Forschen ermöglichen, wird deshalb entscheidende Bedeutung zukommen.

Wenn die Darstellungsformen und die Arbeitsmethoden sich grundlegend ändern, werden davon die Inhalte der Forschung nicht unberührt bleiben. Dabei dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass die primäre Quelle immer noch eine Handschrift aus Pergament oder Papier ist, kein digitales Surrogat. Eine Handschrift also, die vor vielen Jahrhunderten geschrieben wurde und die zu lesen und zu verstehen wirklich grundlegende Kenntnisse erfordert, wie die Kenntnis der Sprache und der Schrift, ohne die die modernen Kommunikationsformen hohl, ja geradezu sinnlos wirken. Eine wichtige Aufgabe wird somit nach wie vor bleiben, zuallererst diese Grundkenntnisse zu vermitteln.

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Christoph Flüeler

Professor Historische Hilfswissenschaften und Mittellatein Universität Freiburg 

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Anne-Marie Austenfeld

Wissen- schaftliche Mitarbeiterin e-codices, Universität Freiburg

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Lorsque e-codices, la «bibliothèque virtuelle suisse de manuscrits», a débuté en janvier 2005, en tant que projet pilote, la publication sur internet de manuscrits de la bibliothèque de couvent de St-Gall, un gros projet de digitalisation de manuscrits, n’était déjà plus une nouveauté. En 2003 déjà, par exemple, le CEEC, le projet de digitalisation de la bibliothèque du diocèse de Cologne, avait déjà apporté la preuve qu’il est possible de présenter sur internet, à un prix raisonnable, des manuscrits d’une collection importante, et cela dans une qualité sans compromis. Ce n’est qu’au printemps 2006 que de nouvelles voies ont été explorées, avec le projet de numérisation de l’Institut médiéval de l’Université de Fribourg; dans ce contexte, l’objectif était, avec la création du Curatorium pour la numérisation de manuscrits suisses moyenâgeux et du début de la Renaissance (CeCH), de rendre accessible sur le portail internet e-codices tous les manuscrits d’époque moyenâgeuse et une sélection de manuscrits de la Renaissance, provenant de toute la Suisse. L’auteur décrit les diverses étapes de ce processus, les enjeux et les exigences de cet ambitieux et nécessaire projet.