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2007/2 New Library World – Was gibt es Neues in den schweizerischen Bibliotheken?

Migration und öffentliche Bibliotheken in der Schweiz: Angebote für einen Viertel der Schweizer Bevölkerung

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Im Einwanderungsland Kanada ist klar: «Wenn die Immigration erfolgreich sein soll, müssen Institutionen wie Bibliotheken für ihre Umsetzung sorgen.» (Jane Pyper, Toronto Public Library, zitiert in: Kulturelle Vielfalt, Konzepte und Erfolgsfaktoren multikultureller Bibliotheksarbeit, hrsg. von Jens Ingemann Larsen, Deborah L. Jacobs, Ton van Vlimmeren, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2004, S. 8). Dass Immigration erfolgreich sein muss, darüber sind sich heute auch in der Schweiz Politiker, Soziologen und Pädagogen einig. Immerhin ist jeder vierte Erwerbstätige hierzulande ausländischer Herkunft. Offenkundig sind aber auch die volkswirtschaftlichen Folgekosten einer missglückten Integrationspolitik am Ende des vergangenen Jahrhunderts. 13% der fremdländischen Schulabgänger haben zwei Jahre nach Ende der obligatorischen Schulzeit noch keine Anschlusslösung und weitere 8% befinden sich in Zwischenlösungen (Gesamtdurchschnitt 5%). Das Risiko eines «Dropouts» ist folglich für diese Bevölkerung hoch (Thomas Meyer, Risiken junger Migrantinnen und Migranten auf dem Weg zu einer Berufsqualifikation, Ungebildet in die Wissensgesellschaft? in: terra cognita 3, 2003, S. 27).

In Nordamerika berichtet das Urban Institute, dass in den Vereinigten Staaten 66 Prozent aller Kinder von Immigranten, die in den USA geboren wurden, des Englischen nur beschränkt mächtig sind. Da Schulen oft nicht in der Lage sind, die Defizite zu beheben, sind Orte des täglichen Lebens wie zum Beispiel Bibliotheken wichtige Knotenpunkte im Literalisierungsprozess Heranwachsender1.

Und in der Schweiz? Einen Schulabschluss auf Sekundarstufe II schafften 23% der Jugendlichen aus Migrantenfamilien Ende der 90er Jahre nicht (Schweizer Familien 8%). In mehreren Expertisen und nationalen Studien seit 1988 wird auf die Bildungsdefizite dieser Familien hingewiesen und regelmässig die Bedeutung der familienergänzenden und öffentlichen Institutionen bei der Entwicklung sprachlicher und kognitiver Fähigkeiten betont. Insbesondere der vorschulischen Erziehung wird grösste Bedeutung zugemessen. Ob Familien die Dienste solcher Institutionen beanspruchen, hat jedoch mehr mit dem lokal vorhandenen Angebot und den Kosten zu tun als mit ethnisch-kultureller ZugehörigkeitZusammenfassend in: Forum für Interkulturelle Erziehung und Bildung, Integrationsförderung im Vorschulalter, insbesondere durch familienergänzende Einrichtungen. Bericht und Empfehlungen, gutgeheissen durch den Bildungsrat des Kantons Zürich am 8. April 2003, hrsg vom Volksschulamt des Kt. Zürichs, Zürich 2003, S. 4f.. «Integration braucht Bildung!»So der Titel des Policy Papers der Bertelsmann Stiftung zur gesellschaftspolitischen Herausforderung «Integration». Download bei www.bertelsmann-stiftung.de.und «Freier Zugang zu Informationen» sind deshalb die Leitmotive, mit denen sich zahlreiche öffentliche Bibliotheken und bibliotheksnahe Institutionen seit dem Jahr 2000 aufmachen, ihren Beitrag für eine bessere Integration von Migrantinnen und Migranten in die schweizerische Gesellschaft zu leisten. «Die Bibliothek ist – nach Eltern, Kameraden und Schule – die vierte Säule der Leseförderung.»Interview-Aussage Priska Bucher in: Barbara Sträuli Arslan, Leseknick – Lesekick. Leseförderung in vielsprachigen Schulen, Zürich 2005, S. 9. 

Eine ganze Reihe neuer Integrations- und interkultureller Bibliotheken öffnet in der Folge ihre Türen.

Bibliotheken für fremdsprachige Zuwanderer

Die Gründungswelle von Bibliotheken in der Schweiz, die als ihre Kernzielgruppe Migrantinnen und Migranten definieren, ist nicht die erste.

1988 lanciert eine private Gruppe in Renens, einem Lausanner Vorort, einen Verein mit dem Ziel, eine multikulturelle Bibliothek zu betreiben. Der Gedanke wird in den frühen 90er Jahren in etlichen grösseren Städten rezipiert.

Nach der Gründung in Renens entstand 1991 in Basel auf Initiative des Kinderbuchfonds Baobab die zweite Bibliothek für Fremdsprachige. Lehrpersonen gründeten in Zürich und Thun Bibliotheken für Schulkinder aus Familien mit Migrationshintergrund, während in der Romandie oft Organisationen aus dem Flüchtlings- und Asylbetreuungsbereich den Anstoss gaben.

Wenn auch die Gründung von unterschiedlichen Gruppen forciert wurde, war die Motivation weitgehend identisch: Durch Literatur in unterschiedlichen Sprachen lassen sich Verbindungen zur verlassenen Heimat halten, und der schwindende Bezug zum Geburtsland lässt sich ein Stück weit kompensieren. Wer sich seiner Wurzeln bewusst ist, tut sich leichter damit, Neues anzunehmen. Insoweit leisten diese Bibliotheken auch einen wichtigen Beitrag zur IntegrationCarole Gürtler, Literatur als Mittel der Integration, in: Neue Zürcher Zeitung vom 11. Mai 2004, S. 69..

1993 gründeten die damaligen interkulturellen Bibliotheken ihren Dachverband «Verein Bücher ohne Grenzen Schweiz» (VBOGS). Ihm sind heute 16 Bibliotheken in der ganzen Schweiz angeschlossenInterkulturelle Bibliotheken, Verein Bücher ohne Grenzen – Schweiz, Bern (ohne Jahr), S. 8ff.. Die Bibliotheken funktionieren eigenständig und unterscheiden sich in Bestand, Organisation, Grösse und Budget erheblich. Es gibt Bibliotheken, die Literatur in 200 Sprachen anbieten und andere, die lediglich zehn Sprachen pflegen. Einzelne bieten ausschliesslich Kinderbücher an, andere sind spezialisiert auf Alltagsratgeber und wieder andere haben sich auf elektronische Angebote konzentriert.

Mitte der 90er Jahre ebbt die Gründungswelle ab. Zwischen 1995 und 1999 öffnet lediglich die mit einem Bestand von 500 Medien sehr kleine Bibliothek «Le Polyglotte» in Biel.

Die zweite Gründungswelle eröffnet 1999 die Bibliothek L’Ardoise in Sion, bei deren Initiierung die Kantonsbibliothek Wallis nicht unbeteiligt war. Dass eine öffentliche Bibliothek als Geburtshelferin fungiert, ist signifikant für den eingangs geschilderten Wandel in der integrationspolitischen Meinungsbildung.

Es folgten Bibliotheken in Freiburg, Winterthur, Bellinzona, St. Gallen und Chur, bei deren Eröffnungen offizielle Integrationsstellen und öffentliche Bibliotheken entscheidend mitwirkten.

Augenfällig ist, dass sich die Gründungen der ersten Welle auf einen breiten Sprachenkanon einliessen und sich auch aktuell vor allem als Treffpunkt für Migrantinnen und Migranten verstehen, während jene aus der Zeit nach 2000 in der Regel schmale Sprachsegmente führen, ergänzend aber Lernmaterialien und Sprachkurse ausleihen. Hinter dem Profilwandel verbirgt sich ein Paradigmenwechsel hinsichtlich der gesellschaftlichen Rolle der, wie sie sich nun übergreifend nennen, «interkulturellen Bibliotheken».

Interkulturelle Bibliotheken

Die Bezeichnung «interkulturelle Bibliothek» wird heute als zusammenfassende Formel für Bibliotheken mit Zielgruppe «fremdsprachige Bevölkerung» unterschiedlichen Zuschnitts verwendet. Sie hat in sich so verschiedene sozialpolitische Strömungen wie den Multikulturalismus oder die Integration aufgenommen. Die «Multikulturelle Bibliothek» beruht auf dem in Kanada entwickelten Konzept des gleichberechtigten Nebeneinanders unterschiedlicher Ethnien in einer Gesellschaft. Keine der Kulturen soll ihre Identität aufgeben. Multikulturelle Bibliotheken wollen allen Minderheiten gleichermassen Materialien in ihren Sprachen anbieten. Seinen Niederschlag findet dieses Modell in den IFLA-Guidelines «Multikulturelle Gemeinden – Richtlinien für Bibliotheksdienstleistungen»Zweite revidierte Auflage, 21. Mai 2002, publiziert bei IFLANET, www.ifla.org (Activities & Services).und im UNESCO- Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen.

«Integration» beschreibt im Gegensatz zum Modell des befruchtenden Nebeneinanders der Kulturen den Prozess der Eingliederung der Individuen und Gruppen in eine gesellschaftliche Gesamtstruktur. Sie bedingt die minimale Übereinstimmung bezüglich eines Kanons für alle verbindlicher Normen im jeweiligen Gemeinwesen.

Da ein solches Normenbewusstsein nur sprachlich erzeugt werden kann, steht für die Bibliotheken, die sich dem Integrationskonzept angeschlossen haben, die Sprachförderung im Mittelpunkt der bibliothekarischen Aktivitäten. Dass darunter in der Schweiz nicht ausschliesslich die Förderung der Sprachkompetenz in den Landessprachen gemeint ist, ist allerdings bereits Interpretation des Modells.

Um sich nicht in der grundsätzlichen Debatte über die Kompatibilität der beiden Ansätze zu verlieren, sind die beteiligten Kreise stillschweigend zum Modell der «interkulturellen Zusammenarbeit» übergegangen. Der Begriff ist prozessorientiert und besagt, dass aus jeglicher Interaktion von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen ein Mehrwert für die gesamte Gesellschaft entsteht. Die Formel vermag auch politisch divergente Meinungen zu subsumieren, und es ist deshalb sicher auch nicht zufällig, wenn der Verein VBOGS sich in seinen Druckschriften explizit zum Modell der «interkulturellen Bibliotheken» bekennt.

Die Diskussionen der letzten Jahrzehnte bezüglich Umfang und Ausgestaltung des Service Public in den Kommunen waren oft von den öffentlichen Debatten über die Marschrichtung in der Integrationspolitik begleitet. In den wirtschaftlich guten 1980er Jahren war die Zuwanderung eine Selbstverständlichkeit, es gab genügend Arbeit für alle und das soziale und schulische Netz trug alle Beteiligten. Das kulturelle Miteinander wurde als positiver und bereichernder Prozess wahrgenommen.

In den späten 1990er Jahren verschlechterten sich die wirtschaftlichen Verhältnisse und damit die Lebensbedingungen dieser Zuwanderer. Die sprachlichen und schulischen Anforderungen wuchsen, Lehrstellen wurden Mangelware und der öffentlichen Hand fehlten die Mittel, hier korrigierend einzugreifen. Bund, Kantone und Kommunen verabschiedeten integrationspolitische Leitbilder, in denen die Chancengleichheit von Migrantinnen und Migranten in Bildung und Beruf postuliert und deren Partizipation am öffentlichen Leben gefordert wird.

Interkulturelle Bibliotheken geht diese Diskussion deshalb im Besonderen etwas an, weil sie wie kaum andere Institutionen in der Lage sind, Brücken zwischen Sprachen und Kulturen quer durch alle sozialen Schichten und Altersgruppen zu bauen und aus Tradition Bildungsinstitutionen sind.

Die wachsende Bedeutung der Bibliotheken im Integrationsprozess spiegelt sich auch in der Anerkennung seitens der politischen und sozialen Institutionen. So unterstützt das Bundesamt für Kultur seit Jahren den Verein Bücher ohne Grenzen finanziell. Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft bedachte den Verein 2004 mit einem grosszügigen Legat von Fr. 200 000.–Verein Bücher ohne Grenzen – Schweiz, Jahresbericht 2004, S. 2.. Viele Städte gewähren ihren interkulturellen Bibliotheken Mietzinsnachlässe, übernehmen Personalkosten oder subventionieren die Trägervereine ganz allgemein. Einzelne Bibliotheken wurden für ihre Leistungen im Rahmen der Integration gewürdigt, zum Beispiel zeichnete der Kanton Zürich die Winterthurer Integrationsbibliothek 2004 mit dem kantonalen Bibliothekspreis aus.

Da die Anforderungen an die Professionalität der bibliothekarischen Mitarbeitenden mit den gestiegenen Erwartungen an die Bibliotheken ständig wachsen, erhöht sich auch der Weiterbildungsbedarf des meist ehrenamtlich arbeitenden Personals. VBOGS reagiert darauf, indem jährlich ein Seminar für die Mitarbeitenden in den dem Dachverband angeschlossenen Bibliotheken angeboten wird.

Da aber auch öffentliche Bibliotheken zunehmend auf die Bedürfnisse ihrer fremdsprachigen Kundinnen und Kunden reagieren, lancierte der Verband, zusammen mit dem Kinderbuchfond Baobab, der Bibliomedia Schweiz und der Hochschule für Soziale Arbeit Luzern ein Weiterbildungsangebot unter dem Titel «Mondomedia – Offene Bibliotheken», das alle Gemeinde- und Quartierbibliotheken anregen möchte, ein fremdsprachiges Angebot für die migrantische Bevölkerung bereit zu stellen und sich aktiv um die fremdsprachige Kundschaft zu bemühen.

Dass die öffentlichen Bibliotheken die Zeichen der sozialen Entwicklung richtig gedeutet haben, belegt nicht nur die aktive Rolle, die etwa die Bibliotheken von St. Gallen, Sion und Winterthur im schweizerischen Dachverband spielen, sondern dass sich Stadtbibliotheken wie etwa jene in Schlieren aktiv in der Integrationsarbeit engagierenHeidi Berri, Fremdsprachige Kindergartenkinder und ihre Eltern entdecken die Bibliothek, in: Sprachenvielfalt in Schule und Bibliothek, hrsg. Bibliomedia Schweiz, Solothurn 2005, S. 55f. Barbara Sträuli Arslan, Leseknick (wie Anm. 6), S. 36f.oder Integrationsabteilungen in Kantonsbibliotheken (zB. Liestal, BL) oder grossen Stadtbibliotheken (Pestalozzi-Bibliothek in Zürich) im Aufbau begriffen sindFranziska Höfliger, Konzept zur Schaffung einer Integrationsbibliothek in der Pestalozzi-Bibliothek Zürich, Churer Schriften zur Informationswissenschaft, Schrift 9, Chur 2005..

Bibliotheksarbeit mit Migrantinnen und Migranten

Interkulturelle Bibliotheken entstanden in den 1990er Jahren meist aus der Überlegung, Defizite der migrantischen Bevölkerung zu bewältigen. Die Angebote der öffentlichen Bibliotheken dienten damals in keiner Weise den Bedürfnissen der zuwandernden Gruppen. Sie konzentrierten sich auf die Sammlung und Erschliessung von Literatur in den Landessprachen und den globalen Hochkultursprachen.

Alltagsorientierung ist auch heute vielerorts noch ein Fremdwort. So besetzten die VBOGS-Bibliotheken kulturelle Nischen und dienten oft der ethnischen Identitätsstiftung.

Mit der Formulierung des Integrationsleitbilds des Bundes und den daraus abgeleiteten Schwerpunkten der Integrationsförderung 2001–2003 änderte sich insbesondere für viele öffentliche Bibliotheken die Situation grundlegend. Dieses formulierte die Verbesserung der sprachlichen Kommunikationsmöglichkeiten und die Partizipation der Migranten am öffentlichen Leben als wesentliche Ziele der nationalen StrategieWalter Schmid und Christof Meier, Förderung der Integration von Ausländerinnen und Ausländern, Schwerpunktprogramm für die Jahre 2004 bis 2007, Erläuternder Bericht, hrsg Eidg. Ausländerkommission EKA, Bern 2003, S. 8f.. Mit dem Förderungsprogramm 2004–2007 setzt der Bund diese Politik mit gewissen Retuschen fort und schreibt insbesondere die Nachhaltigkeit und Prozessorientierung der Projekte fest. Wache öffentliche Bibliotheken nahmen die Argumente auf und realisierten Sprachbrücken, Angebote für Heranwachsende mit Migrationshintergrund und Sprachlern-Kompetenzzentren.

Mit dieser Reaktion haben die Bibliotheken in einem ersten Schritt die Forderungen der neuen Immigrationspolitik in einen konkreten Service Public umgesetzt. Wirklich neu bei diesem Schritt aber war die Einsicht, dass Angebote für Migrantinnen und Migranten diese nur erreichen können, wenn sie mit den Zielgruppen gemeinsam aufgebaut werden. Die neuen Modelle der Integrationsbibliotheken basieren deshalb auf den vom Bund vorgegebenen Partizipationsprinzipien. Gemäss diesem Modell arbeitet das für den Integrationsbestand verantwortliche Bibliotheksteam mit externen Fokusgruppen, lokalen Fach- und Beratungsstellen für Integration oder Dachverbänden interkultureller Arbeit zusammen. Wichtige Partner sind auch Lehrpersonen der Kurse in «heimatlicher Sprache und Kultur (HSK)»Zur Bedeutung des HSK-Unterrichts für eine erfolgreiche Integration vgl. Hava Shala- Gerguri, Potenziale für die Schule nutzen, Albanisch unterrichten, in: terra cognita, 10/2007, 76f., Vertreter von Schulen, die Deutschkurse anbieten und im Kanton Zürich Lehrkräfte an Schulen, die am Projekt «Qualität an multikulturellen Schulen (QUIMS)» teilnehmen.

Nur wenn die potentiellen Zielgruppen Einfluss haben auf die Gestaltung des Angebots, ist eine intensive Nutzung und eine gewisse soziale Nachhaltigkeit garantiert. Da Bibliotheksmitarbeitende in der Regel jener Fremdsprachen, die sie in den Integrationsbeständen anbieten, nicht mächtig sind, ist ein Einbezug externer Kontaktpersonen bei der Selektion und Erschliessung des Materials unabdingbar. Und ohne die Unterstützung dieser Personen bei der Vermittlung des Bestands bleiben die Integrationsbestände Ladenhüter. Damit ist implizit auch gesagt, dass ohne eine aktive Vermittlung der Angebote das Zielpublikum nicht erreicht wird. Auch wenn Direktkontakte zeitintensiv sind und oft schleppend von statten gehen, sind sie ein unverzichtbares Instrument der alltäglichen Bibliotheksarbeit mit Migrantinnen und Migranten.

Angebote

Interkulturelle Bibliotheken bieten ihrem Zielpublikum Angebote auf drei Ebenen an. Traditionellerweise ist die Medienausleihe das Kerngeschäft von Bibliotheken. Jüngere Dienstleistungskonzepte gehen jedoch von einer Angebotstrias aus: Medienausleihe, Lernzentrum mit einer Arbeitsplatzinfrastruktur und Leseförderungsveranstaltungen.

Den IFLA-Richtlinien zufolge sollen «Bibliotheksleistungen allen ethnischen, linguistischen und kulturellen Gruppen auf gleichem Niveau und nach gleichen Massstäben zur Verfügung gestellt werden.» Die Erwerbung und Pflege des Bestands soll planmässig und zielgruppengerecht erfolgen. Während in öffentlichen Bibliotheken bis vor wenigen Jahren kaum Bestände in den klassischen Migrantensprachen wie Albanisch, Serbisch, Kroatisch, Tamil oder Portugiesisch zu finden waren, pflegten die interkulturellen Bibliotheken von Anfang an einen breiten Kanon von Sprachen. Jede Person, die die Bibliothek betritt, soll wenigstens ein Buch in ihrer Sprache finden. Diese Bibliotheken erfüllen im Gegensatz zu den meisten öffentlichen Bibliotheken die eben genannte IFLA-Richtlinie.

Neben den IFLA-Bestimmungen bilden die nationalen, kantonalen und kommunalen Integrationsrichtlinien weitere Vorgaben für einen gezielten Bestandsaufbau. Im Gegensatz zu den IFLA-Normen orientieren sich diese nicht am kulturellen Minderheitenschutz, sondern an der sprachlichen Integration der ethnischen Minoritäten. Entsprechend hohes Gewicht hat der Aufbau des sprachlichen Kompetenzzentrums in der Bibliothek. Neben den Beständen in den verschiedenen heimatlichen Sprachen sollen vor allem Sprachlehrmittel für den Deutschunterricht, vereinfachte Deutschtexte und mehrsprachige Bestände angeboten werden. Daneben hat die Ratgeberliteratur zu allen Fragen rund um die Migration und Integration, zum Beispiel zu Arbeit, Schule, Versicherungen und zu anderen alltagsrelevanten Themen, eine wichtige Funktion. Da Bücher zu diesen Themen schwer greifbar oder inexistent sind, bildet das Internet eine ganz entscheidende Ergänzung zum konventionellen Bestand.

Integrationsbibliotheken ohne Internetangebote sind heute schlicht nicht mehr denkbar. Wollen Bibliotheken Lernzentren sein, dann sollten sie die entsprechende Infrastruktur anbieten, die es allen Schichten ermöglicht, an der Wissensgesellschaft teilzunehmen. Ein Präsenzbestand an Lernmaterialien, Tagesarbeitsplätze und Personal, das in der Lage ist, Rat suchenden Personen Recherchehilfen und Unterstützung bei der Nutzung der gängigen Informationsmittel zu geben, gehören zwingend zum Angebot. Reservierte elektronische Arbeitsplätze für Sprachkurse, Workstations mit gängigen Officeprogrammen oder Räume für Kurse oder Leseveranstaltungen wären wichtige Ergänzungen eines aktuellen Selbstlernzentrums. Erfolgsentscheidend für das Lernzentrum Bibliothek sind aber unter allen Umständen angemessene Öffnungszeiten, denn die beste Infrastruktur ist nutzlos, wenn die Türen geschlossen bleiben. Leider kollidiert dieses Interesse sehr oft mit den bescheidenen finanziellen Möglichkeiten der Trägervereine.

Um aktiv das Integrationsnetzwerk zu knüpfen, bedarf es neben dem Ausleihbestand und einer Arbeitsinfrastruktur eines Leseförderungsprogramms. Gezielte Aktionen wie mehrsprachige Lesungen in der Bibliothek, Informationsveranstaltungen für fremdsprachige Neuzuzüger in der Bibliothek, regelmässige Klassenlektionen von HSK- und QUIMS-Schulen sind wichtige Bausteine der Alltagsarbeit. Einige Bibliotheken wie die Kanzbi Zürich führen Internet- und Computerkurse für Kinder und Eltern durchBarbara Sträuli Arslan, Leseknick (wie Anm. 6), S. 47. Auch die Bibliothek L’Ardoise in Sion lancierte 2006 ein Internetprojekt für Kinder, vgl. Verein Bücher ohne Grenzen – Schweiz, Jahresbericht 2005, S. 20.. Schulbesuche fördern die Selbstverständlichkeit der Nutzung, mehrsprachige Lesungen erhöhen die Leselust vor allem bei Kindern und Einführungen in die Bibliotheksnutzung für einzelne ethnische Vereine und Organisationen sind wichtige Marketingfenster hin zu einer Zielgruppe, die immerhin einen Viertel der Schweizer Bevölkerung ausmacht.

Fazit

Die bildungspolitischen Umwälzungen der vergangenen zehn Jahre belegen unter anderem auch, dass ein Umdenken bezüglich des Zielpublikums bei den öffentlichen Bibliotheken in städtischen Ballungszentren eingesetzt hat. Die meisten Bibliotheken haben die Zeichen der Zeit erkannt und begonnen, Angebote für Migrantinnen und Migranten aufzubauen. Sie können dabei viel von den interkulturellen Bibliotheken lernen, die über die Jahre ein grosses Know how und vertiefte Kenntnisse in der Zusammenarbeit mit der nicht deutschsprachigen Kundschaft gewonnen haben. Mit ihren klar besseren finanziellen Möglichkeiten sind sie aufgefordert, neben der bibliothekarischen Grundversorgung auch Dienstleistungen zu erbringen, die den VBOGS-Bibliotheken aus Ressourcengründen oft versagt bleiben müssen. Diese Schwäche machen letztere mit viel persönlichem Einsatz und einer hohen interkulturellen Kompetenz wiederum mehr als wett.

Dank dem nationalen Engagement des Kinderbuchfonds Baobab, der Bibliomedia oder dem Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien ist ein tragendes Netzwerk entstanden, das zusammen mit den Bibliotheken die Verbesserung der bibliothekarischen Versorgung und damit die Chancengleichheit für Migrantinnen und Migranten kontinuierlich und nachhaltig verbessert.

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Hermann Romer

Bibliotheksleitung Winterthurer Bibliotheken

  • 1 Kulturelle Vielfalt, ebenda S. 27.

Abstract

Les bibliothèques sont chargées de construire des ponts entre les langues et les cultures.

De nombreuses études, depuis 1988, tentent d’expliquer le déficit de l’éducation des familles par un arrière-fond migratoire, et insistent sur le rôle qu’ont les institutions publiques dans la promotion des compétences linguistiques. Les bibliothèques sont particulièrement concernées par ces conclusions, puisqu’elles sont chargées de construire des ponts entre les langues et les cultures. Par conséquent, plusieurs bibliothèques publiques ont proposé, ces dernières années, une offre spéciale pour les migrants. Elles peuvent s’appuyer sur les expériences des bibliothèques interculturelles qui ont acquis un grand savoir-faire dans la collaboration avec ce type de public. Grâce au travail de coordination de l’association «Livres sans frontières – Suisse», il existe aujourd’hui un réseau national qui permet à un quart de la population suisse d’avoir accès à une offre de bibliothèque.