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2007/1 I+D-Fachleute – kompetent in der Gegenwart, unverzichtbar in der Zukunft

JA zur Berufsbildung = JA zur Bildung. Rede anlässlich der Lehrabschlussfeier für die deutschschweizerischen I+D-Assistentinnen und -Assistenten am 5. 7. 2006 in Bern

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Lohnt sich Berufsbildung?

Für mich als langjährige Bibliotheksleiterin und nunmehr auch mehrjährige Berufsbildnerin hat sich die Frage «Lehrlingsausbildung ja oder nein?» nie gestellt. Von Anfang an war ich davon überzeugt, dass sie sich für alle Beteiligten lohnt und somit eine erfreuliche win-win-Situation entsteht. Nachträglich hat sich nun gezeigt, dass diese Überzeugung nicht ausschliesslich mit blindem Idealismus oder naivem Altruismus zu tun hatte, sondern ebenso sehr mit streng kalkulierendem Denken und betriebswirtschaftlichem 1.

Natürlich fallen Kosten bei der Ausbildung von Lernenden an: Lehrlingslohn, Gebühren, Spesen, Material- und Infrastrukturkosten und vor allem auch Kosten in Form von Zeit der Berufsbildner und Berufsbildnerinnen. Dies alles lässt sich berechnen. Weniger gut lässt sich der Nutzen der Lernenden für den Betrieb ausweisen. Eine aktuelle Studie kommt nun zum Schluss, dass es über den wichtigen gesellschaftlichen Nutzen hinaus in allen untersuchten Berufssparten einen ebenso grossen betrieblichen Gewinn gibt, der noch er- höht wird, wenn die Lernenden nach der Lehre im Betrieb weiter beschäftigt werden.

Das Fazit der Untersuchung ist: Bei zwei Dritteln aller Betriebe rechnet sich die Lehrlingsausbildung trotz der hohen Kosten schon während der Lehrzeit. Dies bedeutet, dass die durch die Ausbildung entstehenden Kosten durch die produktiven Leistungen der Lernenden kompensiert, in den meisten Fällen sogar überkompensiert werden2.

Lehrlingsausbildung (neu: Berufliche Grundbildung) stellt im ökonomischen Sinn also ein durchaus rationales Verhalten dar, auch wenn die Diskussionen für oder wider die Berufslehre in unserer Branche immer noch äusserst emotional geführt werden und weder die Verbände noch die einzelnen Betriebe für einen gut ausgebildeten Nachwuchs im I+D-Wesen wirklich Geld aufwenden wollen.

Ich wünschte mir hier endlich den Einzug einer gewissen Normalität (Rationalität) im Umgang mit diesem scheinbar heiklen Thema. Dies umso mehr, als wir alle nach bald 10 Jahren I+D mit den über 200 I+D-Assistentinnen und -Assistenten mit erfolgreich bestandener Abschlussprüfung (LAP) durchs Band weg gute Erfahrungen gemacht haben. Dies ist in erster Linie der Erfolg aller in der Berufsbildung engagierten Personen, denen an dieser Stelle gedankt sei für die nicht selbstverständliche Übernahme dieser grossen Verantwortung, die in unserer Branche viele Pflichten, aber wenig Lob mit sich bringt.

Bei der kurzen Ansprache, die ich am 5. Juli 06 an der LAP-Feier in Bern gehalten habe, stand ein anderes Thema im Mittelpunkt. Mich leitete die Frage, was ich als Berufsbildnerin jungen Lernenden während der 3-jährigen Lehrzeit mitgeben kann, das über das spezifisch betriebliche oder generell berufliche Sach- und Fachwissen hinausgeht. Weniger interessierte mich dabei als Ziel das Bild des «guten» Lehrlings, das von traditionellen Arbeitstugenden wie Fleiss, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit und Ordnung geprägt ist, und das bis heute vor allem in Gewerbebetrieben noch immer hoch gehalten wirdStalder, B. E.(2000). Gesucht wird ... Rekrutierung und Selektion von Lehrlingen im Kanton Bern. Bern: Amt für Bildungsforschung, S. 33 f..

Vielmehr standen die «employ-ability skills»3, also die Anforderungen der Berufswelt an die zukünftigen I+D-Assistentinnen und -Assistenten, im Vordergrund und in diesem Zusammenhang stehen folgende Fragestellungen: 

Auf welche Art und Weise kann ich dem jungen Erwachsenen Schlüsselqualifikationen wie Selbständigkeit, Flexibilität, Eigeninitiative, Lernfähigkeit und Verantwortungsbewusstsein vermitteln? Wie können Leistungsbereitschaft und Konfliktfähigkeit erhöht werden? Gelingt es mir, seine Fähigkeiten zur Zusammenarbeit derart zu fördern, dass er sich ganz in den Betrieb einzufügen vermag?

Oder anders gefragt: Ist Persönlichkeitsbildung im Sinne der Definition des Bildungswissenschaftlers Jürgen Oelkers auch im Rahmen der betrieblichen Berufsbildung möglich? Oelkers geht von der These aus, dass es nicht verschiedene Arten von Bildung gibt, etwa jene für das Allgemeine und eine andere für den Beruf, sondern immer nur eine «lernende Aneignung in Bezug auf die eigene Person» und dies gelte für «Wissen und Können, aber auch für Stil, Habitus und Verhalten.»Oelkers, J. (2005). Allgemeinbildung und Berufsbildung: Probleme der Übergänge. Vortrag an der Gewerblichen Schule Ravens- burg am 8. November 2005 in Ravensburg, S. 8.Bildung könne deshalb heute nicht mehr als etwas Universelles, Überindividuelles angestrebt werden, sondern nur noch in individuell angeeigneter Ausprägung, welche jedoch die gesamte Persönlichkeit umfasst.

Berufsbildung bedeutet also viel mehr als spezialisierte Fachausbildung. Berufsbildung ist immer auch Persönlichkeitsbildung.

«Bildung wird mit der eigenen Person repräsentiert»4

Leicht überarbeitete Version der anlässlich der LAP-Feier in Bern am 5. 7. 2006 gehaltenen Rede

Sehr geehrte I+D-Assistentinnen und -Assistenten Im Namen der Schweizerischen Ver- einigung für Dokumentation (SVD) möchte ich Ihnen ganz herzlich zum erfolgreichen Abschluss der 3-jährigen Lehre als Informations- und Dokumentationsassistentin/-assistent gratulieren. Ein Meilenstein in Ihrem Leben ist geschafft. Freuen Sie sich! Feiern Sie kräftig und ausgiebig und gehen Sie mit all Ihrem Wissen, mit viel Freude an der Arbeit und hoch erhobenen Hauptes hinaus in die Berufswelt. Sie werden gebraucht. Da bin ich mir ganz sicher.

Als ich mich vor ein paar Jahren – damals war ich Leiterin der Stadtbibliothek Kloten – dazu entschloss, eine Lehrstelle zu schaffen, holte ich mir Rat bei Berufskolleginnen und -kollegen. Die Berufsbildung war ja ein ziemliches Abenteuer für uns Berufsbildnerinnen und Berufsbildner der ersten Stunde. Die meisten waren wie ich Diplombibliothekarinnen BBS. Wir absolvierten nach der gymnasialen Matura ein 2-jähriges Volontariat in einer Bibliothek und liessen uns zur Bibliothekarin BBS ausbilden. Das Diplom dieser vom BBS getragenen Ausbildung wurde vom Bund nicht als formalisierter Abschluss anerkannt. Denn es handelte sich dabei weder um eine Lehre im klassischen Sinn noch um eine höhere Fachausbildung, die damals noch unter dem Titel Bibliothekar/in HWV oder HTL (heute: I+D-Spezialist/in) hätte laufen müssen, aber eben eine Berufslehre als Voraussetzung zu einer weiteren Qualifikation verlangt hätte. Kurz und (nicht) gut: Mit den Anforderungen und Praktiken einer formalisierten Berufslehre waren wir wenig bis gar nicht vertraut.

Elsbeth Wyss, meine damalige Vorstandskollegin in der SVD und langjährige Leiterin von Dokumentation und Bibliothek der Pro Senectute Schweiz in Zürich konnte mir bei all den vielen Fragen, die ich mit mir herumtrug, am besten weiterhelfen. Sie sagte zu mir: «Ich habe schon in den verschiedensten Branchen sehr gute Erfahrungen in der Lehrlingsausbildung gemacht. (...) Wichtig ist es, dass Du dabei drei Ziele stets im Auge behältst, dann kann gar nichts schiefgehen!»

1. Versuche von Anfang an, Deinem Lernenden Freude an der Arbeit zu vermitteln

Dies bedeutete für mich: Förderung wo immer es ging, Motivation zu noch besserer Leistung, viel Lob, aber auch Tadel, wenn es denn nötig war. Dies bedeutete auch: Verantwortung übergeben, Vertrauen schenken, Wissen weiter reichen.

Wer gefördert wird, entwickelt Interesse an der eigenen Arbeit. Interesse wiederum generiert Wissen und je mehr ein Lernender weiss, desto flexibler und selbständiger vermag er zu arbeiten. Wer versteht, welcher Sinn hinter dem dauerhaften Ordnen, aufwändigen Suchen, genauen Erschliessen und freundlichen Vermitteln steckt, arbeitet lieber, besser und schneller als jemand, der nur kleine, aus dem Zusammenhang gerissene Aufträge entgegennehmen darf.

Dieser Kreis von Fördern-Vertrauen-Erwarten und Belohnen von guter, ja sehr guter Arbeit, ist das Wichtigste, das man einem jungen Menschen mit auf den Weg geben kann.

2. Er soll mit leichtem, aufrechtem Gang und erhobenen Hauptes zur Lehre heraus und ins weitere Berufsleben hineingehen

Nicht gebeugt, gebeutelt oder gar verbogen ..., wie das noch im letzten Jahrhundert in vielen Lehrverhältnissen der Fall war. Wir alle wissen, dass nicht die Arbeit den Mensch zum Menschen macht, sondern umgekehrt: Der Mensch verrichtet und gestaltet sie und wie er das macht, hängt nicht allein vom Fachwissen, sondern ebenso sehr von den sozialen Kompetenzen, also der Persönlichkeit eines jeden «Werktätigen» ab. Diese noch nicht völlig ausgeformte Persönlichkeit des jungen Lernenden gilt es zu fördern und zwar bei jedem gemäss seinen Fähigkeiten, aber im Ganzen vor allem auch nach den Bedürfnissen der Arbeitswelt.

Das heisst, dass ein Lernender lernen muss, sich einzufügen in eine vorgegebene Organisation, dass er sich an Arbeitsabläufe anpassen und mitunter sogar auf den ersten Blick sinnlose Aufträge einfach ausführen muss. Aber er soll sich auch wehren können, Kritik anbringen und immer wieder Fragen stellen dürfen. Voraussetzung dazu ist, dass man miteinander reden, einander zuhören kann. Hier gilt es als Berufsbildnerin ganz besonders, Vorbild zu sein und die Lernenden ernst zu nehmen. Vor allem bei privaten, aber auch bei schulischen oder betrieblichen Problemen gilt es, Einfühlungsvermögen zu zeigen und Lösungsvorschläge anzubringen. Zu Recht erinnere man sich dabei an die eigenen Turbulenzen im Herzen wie im Kopf des einstigen Teenagers.

Dies bedeutet auf der anderen Seite aber auch, dass wir Berufsbildner dem jungen Menschen konsequentes und vor allem nachvollziehbares Handeln vorleben. Man muss nicht alles verste- hen und damit auch gleich entschuldigen. Mit dem kurzen, prägnanten Leitspruch «Sei hart in der Sache, aber weich zum Menschen» bin ich damit als Vorgesetzte bei meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bis jetzt nicht schlecht gefahren.

3. Gib ihm einen prall gefüllten Rucksack mit neuestem Fachwissen mit

Wir alle bewegen uns im I+D-Wesen in einem Berufsfeld mit horrendem Entwicklungstempo. Vor 30 Jahren sah unsere Arbeit ohne Computer und bis vor 10 Jahren fast ohne Internet noch ganz anders aus. Aus einem statischen, auf Erhalt und Ewigkeit ausgerichteten, eher beschaulichen Beruf wurde ein dynamisches, sich ununterbrochen wandelndes Berufsfeld. Drei Branchen haben sich im Bereich der Ausbildung zusammengeschlossen, die vor Mitte der 1990er-Jahre kaum voneinander Notiz genommen hatten. Eine vollständig neue Berufsbildung war die Folge. Neue Inhalte und Fähigkeiten wurden vermittelt: in der Berufsschule, im Betrieb und in den überbetrieblichen Kursen. Und was sich gleichzeitig im Selbstverständnis unseres Berufes fundamental veränderte: Wir alle wurden zu Dienstleistern, zu «Dienenden», Auge in Auge mit unseren Kunden.

Wenn Sie auch heute – nach harter LAP und 3 langen Lehrjahren – immer noch oder erst Recht Freude an Ihrem gewählten Beruf haben, sich mit geradem, aufrechtem Gang und solider Ausbildung ins Berufsleben stürzen, dann werden Sie auf dem Arbeitsmarkt auch Erfolg haben. Dabei wird Ihnen eine weitere Qualität nützen: Jene des «Lebensunternehmers». Werden Sie selbst aktiv! Bewerben Sie sich, wo immer eine Stelle ausgeschrieben ist. Bleiben Sie nicht zu lange im eigenen Lehrbetrieb hängen, auch wenn Sie dieser nach der Abschlussprüfung weiter beschäftigt. Gehen Sie in die Welt hinaus – auch über die Grenze, erkennen Sie Ihre Chancen und greifen Sie diese beim Schopf. Seien Sie mutig und von sich und Ihrem Wissen überzeugt!

Sie stehen am Anfang Ihres Berufslebens und werden laufend Erfahrungen sammeln, immer wieder Neues, Herausforderndes dazulernen und Altes über Bord werfen. 60% unter Ihnen werden in einer Bibliothek arbeiten, je 20% im Archiv oder in der Dokumentation. Dies hat eine Umfrage bei den Arbeitgebern anfangs 2006 ergeben. Ihr Einstiegslohn wird zwischen 55 000 und 60 000 Fr. liegen. Das ist ein Anfang ... Bilden Sie sich weiter, nutzen Sie die Möglichkeiten der Berufsmaturität, die Ihnen das Tor zur Fachhochschule, zum Bachelor, Master, mithin zu noch mehr Wissen und Anerkennung öffnet.

Zum Schluss möchte ich Ihnen als Vorstandsmitglied der SVD – in dieser Funktion stehe ich heute eigentlich vor Ihnen – ans Herz legen: Engagieren Sie sich auch in einem der drei Berufsverbände oder in einer der vielen Interessengruppen. Gestalten Sie die Zukunft Ihres Berufes aktiv mit. Es braucht Sie als zukünftige Prüfungsexperten, als Berufsbildnerinnen und aktive Verbandsmitglieder. Machen Sie Berufspolitik! Sie alle haben es in der Hand, was aus Ihrem Beruf und damit eng verknüpft auch aus Ihrem Lebensentwurf wird. Viel Glück!

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Pia Ruthishauser

Vorstand SVD und Mitglied der Ausbildungsdelegation 2002–2006 Leiterin Stadtbibliothek Baden (seit 1. 2. 2006)

  • 1 HandelnSchweri, J. (u.a.). (2003). Kosten und Nutzen der Lehrlingsausbildung aus der Sicht Schweizer Betriebe. Zürich: Rüegger.
  • 2 Ebd., S. 17 f.
  • 3 Ebd., S. 10.
  • 4 Ebd.