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2006/1 Memopolitik – vom Umgang mit dem Gedächtnis der Gesellschaften

Die Informationsflut bewältigen. Vom Formen der Zukunft des historischen Erbes: das Archivieren von privaten Unterlagen in den «Archiven und Nachlässen» der ETH-Bibliothek

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Erhaltung und Vermittlung von Kulturgut, das sich in ganz unterschiedlichen Trägermedien manifestieren kann, ist ein Auftrag, den eine Vielzahl von Institutionen wahrnimmt, auf verschiedenen Ebenen und unter voneinander abweichenden Prämissen. Die Bedeutung, die dabei dem technisch-naturwissenschaftlichen Gedächtnis zukommt, ist in der modernen Gesellschaft nicht zu unterschätzen.

Die ETH-Bibliothek nimmt den Auftrag wahr, der Allgemeinheit als technisch-naturwissenschaftliche Bibliothek der Schweiz zu dienen und parallel dem Gedächtnis in diesem Bereich Sorge zu tragen.

In den «Archiven und Nachlässen»1werden einerseits die amtlichen Unterlagen der ETH Zürich und, separat angegliedert, Aktengut des ETH-Rats gemäss Bundesgesetz über die Archivierung aufbewahrt. Andererseits machen Vor- und Nachlässe von Professoren und von weiteren, vorwiegend in Wissenschaft und Technik tätigen Persönlichkeiten einen wesentlichen Teil des gesamten Bestandes aus. Neben solchen persönlichen Papieren von öffentlichem Interesse werden die Unterlagen wichtiger hochschulnaher Gesellschaften und studentischer Vereinigungen archiviert. Sporadisch sind bereits auf Bestandesebene explizit projektbezogene Unterlagen zu finden. Oft ordnen sich die Dokumentationen solcher Vorhaben jedoch in einzelne Vor- und Nachlässe ein. Die Erwerbungen richten sich an der Hochschulgeschichte und an technik- und wissenschaftsgeschichtlichen Themen aus und beziehen zusätzlich ausgewählte geisteswissenschaftliche Felder mit ein.

Nicht verwunderlich ist, dass die Herausforderungen, die sich bei der Erhaltung amtlicher Unterlagen stellten und stellen, ähnlich auch bei privaten Aktenbildnern auftreten. Wer sich im Bereich privater Aufbewahrung mit Aktenbildung und mit eigenen Dokumentationen befasste, wurde genauso wie amtliche Stellen von der Papierflut und der Problematik kurzlebiger Trägermaterialien eingeholt.

Angesichts der Mengen an öffentlich und privat produzierten Unterlagen, aus denen es den archivwürdigen Ausschnitt zu ermitteln gilt, der ja den Rahmen des zukünftigen historischen Wissens absteckt, ist die Bedeutung einer transparenten, aktiv gestalteten Überlieferungspolitik augenfällig.

Die Überlieferungsbildung in Archiven soll sich nicht auf das Aufbewahren von Resultaten amtlicher Verwaltungstätigkeiten beschränken, sondern in einem grösseren Rahmen den Aspekt der in Unterlagen sichtbar werdenden Prozesse der politischen und gesellschaftlichen Interaktionen in unterschiedlichen Lebensbereichen einbeziehen. Damit wird unter Umständen Inhalt und Relevanz sowohl der amtlichen wie auch der privaten Unterlagen anders bewertet.

Dieser Ansatz spiegelt sich im aktuellen deutschen Bewertungsregelwerk zur archivischen Überlieferungsbildung (Positionspapier VdA 2004) ebenso wie im wegweisenden kanadischen Konzept des Macro-AppraisalZum Ansatz des Macro-Appraisal www.collectionscanada.ca. (Appraisal Methodology). Literatur siehe u.a. www.mybestdocs.com (Terry Cook). Darüber hinaus systematische Literaturangaben bei: Craig, Barbara: Archival Appraisal, München 2004.. Es wird ausdrücklich auf die Bedeutung privater Unterlagen hingewiesen, die solche gesellschaftlichen Interaktionen wiedergeben wie sie beispielsweise zwischen Kundinnen und einer Firma oder zwischen Studierenden und ihrer Hochschule, eingebettet in den Kontext von Wirtschaft und Staat, stattfinden. Aus ihnen ist jener archivwürdige Ausschnitt auszuwählen, der gesellschaftliche und politische Prozesse zeigt, die in als wesentlich gewichteten Lebensbereichen stattfinden. Terry Cook verwendet für dieses Konzept eines umfassenden Kontextes den Begriff «governance» – gegenüber dem Fokus nur auf dem Überliefern von Verwaltungstätigkeiten, dem «governments governing».

Um dem ganzen Bereich des gesamtgesellschaftlichen Rahmens mit einer archivübergreifenden Überlieferungsbildung Konturen zu verleihen, sind Absprachen unumgänglich, die von den betroffenen Archiven aufgrund der eigenen Dokumentationsprofile aktiv anzustreben sind. Selbstverständlich sind auch die Bewertungsentscheidungen über die Unterlagen einzelner Aktenbildner von den Zielen der Überlieferungsbildung abhängigDie Positionen des Arbeitskreises Archivische Bewertung im Verband deutscher Archivarinnen und Archivare zur Überlieferungsbildung finden sich unter www.vda.archiv.net und in: Bischoff, Frank M., Kretzschmar, Robert (Hg.): Neue Perspektiven archivischer Bewertung, Marburg 2005, Veröffentlichungen der Archivschule Marburg Nr. 42..

Eine gemeinsame Überlieferungspolitik von in bestimmten Sammlungspunkten konvergierenden Archiven ist heute im Bereich der Unterlagen privater Herkunft in der Schweiz denkbar, wird aber oft nicht aktiv betrieben. Gegenseitig ist normalerweise so viel über die Sammlungsprofile bekannt, dass schenkungswillige Personen oder Institutionen zuverlässig weitervermittelt werden können. Eine aktiv gestaltete Erwerbungspolitik bei Nachlässen und privaten Vereinsunterlagen wird von einzelnen Institutionen, aber noch kaum im Verbund betrieben.

Die «Archive und Nachlässe» der ETH-Bibliothek sind daran, vermehrt den Akzent auf eine aktive und an Dokumentationszielen ausgerichteten Erwerbungspolitik privater Unterlagen zu setzen, um für die Überlieferung von Lehre und Forschung der ETH die adäquate Auswahl privater Unterlagen zu treffen und die wesentlichen technik- und wissenschaftsgeschichtlichen Dokumentationsfelder bei Bewertungsentscheiden zur Geltung zu bringen. Dies ist die Basis einer mittel- und längerfristig anzustrebenden Überlieferungsbildung im Verbund.

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Evelyn Boesch Trüeb

ETH-Bibliothek, «Archive und Nachlässe», Zürich