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2006/4 Elektronisches Publizieren – Informationsspezialisten als Mittler zwischen zwei Welten

Illetrismus und neue Technologien (INT). Schriftlernen in der Nachholbildung – ein neues Projekt zur Bekämpfung des Illetrismus

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Lesen und Schreiben sind keine Selbstver­ständlichkeit. 16 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in der Schweiz erreichen le­diglich das unterste Kompetenzniveau, das zur Bewältigung der alltäglichen Infor­mationsvielfalt nicht ausreicht. Wie kön­nen betroffene Erwachsene, gerade auch mit neuen Technologien, an die Schrift herangeführt werden, und wie sind solche Kurse in betrieblichen Umgebungen zu konzipieren? Diesen und anderen Fragen geht unser Forschungs-­ und Entwick­lungsprojekt nach.

Ausgangslage

Mit der Veröffentlichung der vollständigen ALL-StudieNotter, Philipp; Arnold, Claudia; von Erlach, Emanuel; Hertig Philippe (2006): Lesen und Rechnen im Alltag. Grundkompetenzen von Erwachsenen in der Schweiz. Nationaler Bericht zur Erhebung «Adult Literacy & Lifeskills Survey. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik. http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/15/22/publ.Document.80535.pdf, 1wurde die Öffentlichkeit einmal mehr auf die Tatsache aufmerksam gemacht, dass es (auch) in der Schweiz Erwachsene gibt, die nicht über Grundfertigkeiten im Lesen und Schreiben verfügen, zumindest nicht in dem Ausmass, wie es für eine erfolgreiche Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nötig wäre.

In unserer medialisierten Wissensgesellschaft sind die Anforderungen im Bereich Lesen und Schreiben in den letzten Jahrzehnten allerdings stark gestiegen. So ist die Anzahl der Berufe, die Lese- und Schreibfähigkeiten voraussetzen, von ca. 50 Prozent in den 1950er-Jahren auf über 90 Prozent gestiegenFalschlehner, Gerhard (1999): Generation «echt». Mediennutzung und Lesekompetenz der Network­Generation. mediamanual.at, Heft 27, März 1999. http://www.mediamanual.at/mediamanual/themen/pdf/kompetenz/27falsch.pdf; , 2. Diese Entwicklung zunehmender Anforderungen ist noch nicht abgeschlossen, sie schliesst ICT-Kompetenz ebenfalls ein.

In betrieblichen Weiterbildungsprogrammen sind verschiedentlich Sprachkurse zu finden, es fehlen aber spezifische Angebote zur Schriftförderung von Erwachsenen mit einer Lese- und Schreibschwäche.

Nur wenige Betriebe nutzen die Erfahrung der Vereine für Lesen und Schreiben für Erwachsene oder der institutionellen Anbieter wie Volkshochschulen oder ECAP im Rahmen von Kooperationen.

Ebenso wenig wird der Einsatz von digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) in diesem Umfeld systematisch genutzt, obschon an verschiedenen Orten eine ausreichende ICT-Infrastruktur vorhanden wäre.

International bestehen aber bereits Angebote, die im Hinblick auf eine Verwendung in der Schweiz den jeweiligen Anwendungsfeldern angepasst bzw. dafür weiterentwickelt werden könnten.

Wie aber Lernprozesse Erwachsener mit Lese- und Schreibschwächen in ICT-Umgebungen tatsächlich verlaufen, ob ICT-Umgebungen in diesem Kontext lernförderlich sind und wie, auf diesem Wissen aufbauend, die Diagnosekompetenz der verantwortlichen KursleiterInnen verbessert werden kann – darüber steht auch international noch kaum verlässliches Wissen zur Verfügung.

Unser Projekt ist auf diesem Hintergrund zu verstehen: Zum einen verbindet es Forschung und Praxis, indem die im Teilprojekt Entwicklung konzipierten und durchgeführten Kurse durch das Teilprojekt Forschung wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden. Zum anderen beschränkt sich das Projekt nicht auf die freiwillige Weiterbildung, sondern setzt gezielt auch in der betrieblichen Weiterbildung an. Die gewonnenen Forschungsergebnisse fliessen dabei unmittelbar in die Kurskonzepte ein und sollen weiteren Anbietern sowie Betrieben zur Verfügung gestellt werden. Und nicht zuletzt wird der zunehmenden Medialisierung unserer Gesellschaft Rechnung getragen, da die Kurse als hybride Lernarrangements bzw. «blended learning»Kerres, Michael (2000): Computerunter­ stützes Lernen als Element hybrider Lernarrangements. In Kammerl, R.; Astleitner, H. (Eds.), Computerunterstütztes Lernen. München: Oldenbourg.ausgestaltet werden.

Das Projekt im Überblick

Die folgende, vereinfachte Grafik gibt eine Übersicht über die Projektstruktur: Im Wesentlichen besteht das Projekt «Illetrismus und neue Technologien» aus den drei Entwicklungsteilen Lire et Ecrire Suisse romande, Volkshochschule beider Basel (VHS BB) und Aprentas/Novartis, und einem Forschungsteil, der die Deutschschweizer Kursumgebungen ausleuchtet. Das Projekt startete im Februar 2006 und dauert bis Januar 2009.

Das Teilprojekt Romandie evaluiert bestehen­ de Lernsoftware und Kursmodelle. Mit einer breit angelegten Umfrage in allen Sektionen der Association Lire et Ecrire Suisse romande wurde der Ist­Zustand erhoben. Darauf aufbauend wurden die Entwicklungsmöglich­keiten für das Kurswesen unter besonderer Berücksichtigung der Integration von ICT ausgelotet. Mit der Ausbildung von BeraterInnen in den nächsten zwei Jahren sollen die neuen Weiterbildungsformen in den Kursen der Westschweiz verankert werden. Auf diesen Projektteil wird hier nicht weiter eingegangen.

Die Fragestellung

Das Projekt sucht Antworten auf folgende Fragen:

1)  Wie und unter welchen Voraussetzungen können Erwachsene beim Erwerb von Schriftkompetenz und von Basiswissen im Umgang mit ICT wirksam unterstützt werden?

2)  Wie beeinflussen individuelle Eigenschaften und Einstellungen der Kursteilnehmenden – insbesondere ihre Lernmotivation und ihr Interesse – die Effektivität der Kursarbeit? Und damit zusammenhängend:

–  Verändert sich das Interesse an Schriftlichkeit und ICT im Ver- lauf der Kursarbeit?

–  Wie beeinflussen spezifische Voraussetzungen der Lehrenden – insbesondere deren Einstellungen gegenüber Schriftlichkeit und ICT – die Kursarbeit?

3)  Wie lassen sich entsprechende Lernprozesse in die berufliche Weiterbildung integrieren, und welche Entwicklungsmöglichkeiten bieten Weiterbildungen im freiwilligen Bereich?

Zur Beantwortung dieser Fragen soll einerseits der Entwicklungsteil – mit den Kursen in der betrieblichen und in der freiwilligen Weiterbildung und den dazu adaptierten und neu entwickelten Teilen der Online-Umgebung – beitragen und anderseits der Forschungsteil, der das vom Entwicklungsteil aufgespannte Feld genauer untersucht und auswertet.

Die Lernumgebungen (Entwicklungsteil)

Der Projektteil Entwicklung in der deutschen Schweiz konzentriert sich auf die Konzeption, Durchführung und Reflexion von Kursen für Erwachsene, die von Schreib- und Leseschwierigkeiten betroffen sind. Auf der Grundlage von Angeboten, die sich im benachbarten deutsch- und französischsprachigen Ausland bewährt haben, werden Lehr-Lern-Arrangements und Materialien für die Weiterbildung entwickelt, aufbereitet und erprobt. 

Die Kurse finden zum einen im Präsenzunterricht (ca. 60%) vor Ort statt und zum andern als Online-Kurs (ca. 40 %) übers Web (Kursdauer über 2 Semester mit wöchentlich einem Kurs à 2 Stunden bzw. 90 Minuten im Betrieb vor oder im Anschluss an die Arbeitsschicht).

Die ICT-Lernumgebungen sind als hybride Lernarrangements ausgelegt und sollen damit die Voraussetzungen schaffen, die das Lernen und den Umgang mit Schrift erleichtern. Darüber hinaus werden die Lernenden auch mit kommunikativen und interaktiven Nutzungsmöglichkeiten neuer Medien vertraut gemacht. Populäre, auf Schriftlichkeit abgestellte Netzwerkdienste wie SMS, E-Mail und Chat bieten ein erhebliches didaktisches Potenzial, das im Rahmen des Entwicklungsprojekts erprobt werden soll.

Erwachsene, die über eine hohe Lesekompetenz verfügen und eigenständig mit dem Computer umgehen können, nutzen Weiterbildungsangebote sehr viel stärker und sind damit auch besser in der Lage, ihr Lernen zu gestalten, als Menschen mit niedriger Lesekompetenz.

Die ALL-Studie weist denn auch darauf hin, dass Personen, die den Computer nicht nutzen, auf den tiefen Kompetenzniveaus massiv übervertreten sind. Umso wichtiger ist es, dass die Kursteilnehmenden ein Basiswissen im Umgang mit ICT erwerben können.

Für die Kurse stehen folgende LeitideenimVordergrund:

1) Die Kursinhalte bestehen aus bedeutsamen Inhalten aus Beruf und Alltag und sollen eine individuelle und flexible Abstimmung von Lernangeboten ermöglichen.

2) Die Kurse verfolgen mit einem handlungsorientierten Ansatz das Konzept des kommunikativen Lernens, des Lernens im gegenseitigen Austausch.

3) Die Einheiten sollen das selbst gesteuerte Lernen unterstützen und nachhaltig verbessern.

4) Die Arrangements sollen ein effizientes Coaching von Schreibprozessen ermöglichen.

5) Die Diagnose von Schwächen im Schriftgebrauch soll vereinfacht werden.

Die Kurseinheiten im Projekt INT bauen auf den bisherigen (Präsenz-)Kursen für Lesen und Schreiben der VHS beider Basel auf und werden neu um Elemente der elektronischen ILIAS-Plattform sowie um andere Angebote wie das deutsche Portal «www.ich-will-schreiben.de» ergänzt. 

Die Kursumgebung auf ILIAS

Auf der Basis der Open-Source-Plattform ILIASILIAS wurde ab Ende 1997 im Rahmen des VIRTUS­Projekts an der Universität zu Köln entwickelt. Seit 2000 steht ILIAS als Open­ Source­Software zur Verfügung und wird u.a. auch an der Universität Bern als Learning Mangement System (LMS) eingesetzt und unserem Projekt zur Verfügung gestellt. http://www.ilias.de/ios/index-..., 1, die von einer grossen internationalen Entwicklergemeinde kontinuierlich neuen Anforderungen angepasst wird, wurde ein Grundgerüst für die ersten Kurseinheiten gebaut. Das Lern-Management-System (LMS) ist mit anderen LMS-Formaten (SCORM/AICC) kompatibel und an die Bedürfnisse unseres Projekts anpassbar. Es wird im Virtuellen Campus der Universität Bern entsprechend den Anforderungen im Projekt entwickelt.

Wie andere Webplattformen bietet es die Möglichkeit der Dateiablage, der Projektorganisation und -administration, es lassen sich Fragen (Übungen) in Pools anlegen und dann gezielt zu einzelnen Online-Kursen zusammenstellen. Daneben lassen sich die üblichen Kommunikationswerkzeuge wie Mail, Chat und ein Forum für den kursinternen Austausch zuschalten. Zudem ist es auch möglich, Lernkarteien, Glossare u.a.m. sowie diverse Medien einzubinden und direkt in der Plattform zu verwenden.

Die einzelnen Übungen/Aufgaben, wie sie in oben stehendem Raster verortet sind, lassen sich sowohl als einzelne Übungen aufrufen und lösen oder, mit andern verknüpft, als grösseres Element in die Kurseinheiten einbinden. Je nach Anforderungsniveau und Übungsbedarf können so aus dem Übungs-Pool individuelle Einheiten zusammengestellt werden.

Übungen auf ILIAS können als Begleitung des Präsenzkurses eingesetzt oder in den Online-Phasen platziert werden. Neben den schon im Frageinhalt vorgegebenen Schwierigkeiten lassen sich verschiedene Hilfestufen bewusst in die Aufgaben einbauen. So werden auf der Anfangsstufe die Fragen mit Lösungshinweisen versehen, diese unterstützen das Lernen in der Übungsphase. In einer Übergangsstufe werden die Lösungen lediglich noch im Korrekturmodus angezeigt. Auf der schwierigsten Stufe (Testmodus) wird das System als Feedback nur noch «falsch» und «richtig» angeben.

Als Aufgaben- und Übungstypen (Fragetypen), die direkt mit dem System verknüpft und automatisiert abgearbeitet werden, stehen folgende Formate zur Verfügung: Multiple-Choice-Frage (mit Einfach- oder Mehrfachauswahl), Lückentextfrage, numerische Frage (numerische Werte, exakt oder innerhalb einer Ober- und Untergrenze), Textteilmengen (freie Auswahlantworten, die zu mehreren richtigen Lösungen in Beziehung gesetzt werden), Zuordnung (Zuordnung vorgegebener Text- oder Bildpaare), Anordnung (richtige Anordnung einer bestimmter Anzahl Terme [Sätze, Wörter ...] oder Bilder), Freitext (offenes Antwortformat in Form eines freien Textes).

Daneben sind weitere Formate (auf der Basis von Image-Maps und Java-Applets) mit direkter externer Webanbindung möglich und im System vorhanden.

Auf der ILIAS-Plattform werden auch PDF-Dateien, die als Arbeitsblätter oder Lesevorlagen verwendet werden, und Word-Dateien, mit denen im Kurs ebenfalls gearbeitet werden kann, gespeichert. Umgekehrt ist es auch den Teilnehmenden möglich, ihre elektronischen Arbeitsergebnisse auf der Plattform zu hinterlegen.

In einem weiteren Teil werden externe Webangebote verlinkt und mit Aufgaben auf der Plattform verbunden.

Mediadaten wie Podcasts von Radiosendungen oder andere MP3-Tondateien und Videosequenzen werden mit Textaufgaben verknüpft. Auch hier ist es umgekehrt möglich, dass die Kursteilnehmenden ihre Audiodateien, zum Beispiel eine mündliche Antwort auf eine schriftliche Frage oder Ausspracheübungen von schwierigen Wörtern, direkt aufspielen.

Die zur Verfügung stehende Technik wird also nicht zum Selbstzweck eingesetzt, sondern soll ganz gezielt die Schriftlernprozesse, aber auch das ICT- Lernen der Kursteilnehmenden unterstützen. Ein behutsamer Umgang mit diesen Mitteln ist besonders wichtig, um nicht neue Überforderungssituationen zu schaffen. Nicht zuletzt können aber technische Hilfen, z.B. ein in die Textverarbeitung integriertes Rechtschreibprogramm, auch Entscheidendes zur Erleichterung sonst belastender Situationen beitragen.

Die wissenschafliche Begleitung der Kurse

Die im Entwicklungsteil durchgeführten Kurse werden wissenschaftlich begleitet und im Hinblick auf die interessierenden Fragen ausgewertet. Das Vorgehen ist dabei eng auf die Kurse abgestimmt. Zwei stark vereinfachte Beispiele sollen dies kurz illustrieren:

Die Frage, wie und unter welchen Voraussetzungen Erwachsene beim Erwerb von Schriftkompetenz wirksam unterstützt werden können, zieht die Frage nach sich, welchen Lernstand die Kursteilnehmenden zu Beginn und am Ende des Kurses aufweisen: Zeigt sich kein Fortschritt, muss davon ausgegangen werden, dass die im Kurs angebotenen Lernumgebungen nicht wirksam waren.

Um den Lernstand messen zu können, werden zwei Lesetests am Anfang und am Ende des Kurses eingesetzt: Mit dem sogenannten StolperwörtertestBackhaus, Axel/Brügelmann, Hans/Metze, Wilfried (2005): Forschungsmanual Stolperwörter­Lesetest. (http://www.uni-siegen.de/~agpr..., 3wird auf Satzebene die automatisierte Verarbeitungsfähigkeit gemessen. Das heisst, die Kursteilnehmenden erhalten ausgewählte Sätze und müssen pro Satz entscheiden, welches Wort nicht hineinpasst: a) Mein Freund ist acht jung Jahre alt. Bei diesem Satz müsste man also erkennen, dass das Wort «jung» nicht hineinpasst. Entsprechend sind diese Stolperwörter jeweils durchzustreichen: a) Mein Freund ist acht jung Jahre alt. Die Kursteilnehmenden haben für die Bearbeitung aller vorgelegten 60 Sätze nur gerade drei Minuten Zeit: Da diese Menge unmöglich bewältigt werden kann, wird ein Zeitdruck aufgebaut. Das erlaubt es, die Automatisierung zu messen.

Mit einem zweiten Lesetest soll ein weiterer wichtiger Teilaspekt der Lesekompetenz überprüft werden, und zwar das Leseverständnis. Hierzu wird ein Text eingesetzt, zu dem Fragen zu beantworten sind.

Neben der Wirksamkeit interessiert auch die Frage, wie nachhaltig die erzielten Veränderungen während des Kurses sind. Zu diesem Zweck werden beide Lesetests ein drittes Mal etwa ein halbes Jahr nach Kursende eingesetzt. 

Es gilt als gesichert, dass Einstellungen und Motivationen eine zentrale Rolle bei Lernprozessen spielen: Um deren Einfluss auf die Kursarbeit untersuchen zu können, wird ein Fragebogen eingesetzt, der insbesondere die Einstellungen gegenüber Schrift und Computer sowie die Lernmotivationen erfragt.

Die Befragung wird noch vor Beginn des Kurses ein erstes Mal durchgeführt, damit die Kursteilnehmenden nicht schon durch den Kurs beeinflusst sind.

Um überprüfen zu können, ob sich das Interesse an Schriftlichkeit und Computer im Verlauf der Kursarbeit verändert, wird ein zweiter Fragebogen am Kursende eingesetzt.

Da auch hier interessiert, wie nachhaltig allfällig erzielte Veränderungen sind, wird eine dritte Befragung ca. ein halbes Jahr nach Kursende durchgeführt.

Die Lesetests und Fragebögen werden durch weitere wissenschaftliche Instrumente ergänzt, um ein möglichst breites Bild zu erhalten. So werden u.a. auch Interviews mit ausgewählten Kursteilnehmenden durchgeführtSturm, Afra (2006): Illettrismus und neue Technologien – Schriftlernen in der Nachhol­ bildung. In: Bullettin Leseforum Schweiz Nr. 15(erscheint im Dezember , 4

Die erwarteten Ergebnisse

Die gewonnenen Erkenntnisse zum Schriftlernen von Erwachsenen fliessen in die Praxis zurück, indem grundlegendes Wissen als Orientierungshilfe für die KursleiterInnen aufbereitet wird und als Handreichung publiziert werden soll. 

Die entstehende Plattform auf ILIAS mit ihren Grundlagen, Inhalten und Materialien für webgestütztes Lernen wird andern Institutionen zugänglich gemacht. Kursleitende für Sprach- und Schriftlernen in der Nachholbildung werden in der Handhabung der Plattform ausgebildet. Darüber hinaus erhalten die Kursleitenden die Möglichkeit, ihrerseits eigene Übungen dem Aufgaben-Pool zuzuführen. Dazu entstehen ebenfalls Handreichungen.

Mit dem hier vorgestellten Projekt erhoffen wir uns wichtige Einsichten in das Schrift- und ICT-Lernen von Erwachsenen sowie in ihre Einstellungen, Lernmotivationen und ihr Interesse. 

Nicht zuletzt erhoffen wir uns eine engere Verbindung zwischen Alphabetisierungspraxis und Forschung.

Illetrismus: Leidensgeschichten aus der Sicht der Betroffenen

Nicht lesen und schreiben zu können, war lange Zeit mit einem Tabu belegt. Und auch heute gilt: Wer als Erwachsener nicht lesen und schreiben kann, traut sich kaum, sich mit dieser Schwäche zu zeigen. Sie gilt als Zeichen mangelnder Gesellschaftsfähigkeit, eben gerade deshalb, weil man mit (funktionalem) Analphabetismus in einem hoch industrialisierten Land fälschlicherweise schon gar nicht rechnet.

Die Folge ist, dass die betroffenen Menschen sich mit ihrer Schwäche möglichst nicht zeigen, dass sie Scham empfinden, Vermeidungs- und Ausweichstrategien entwickeln und Hilfe nicht auf direktem Weg holen.

Einen tieferen Einblick in die Not solcher Erfahrungen haben u.a. die Sektionen des Vereins Lesen und Schreiben für Erwachsene (VLSE), welche nicht nur Lernhilfen anbieten, sondern ihre Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer überdies dazu ermutigen, die Geschichten ihres Schriftlernens und eben auch Misserfolgsgeschichten aufzuarbeiten und das Schreiben auf jeden Fall zu wagen. Beispiele dafür sind die folgenden Texte aus dem kleinen und äusserst lohnenden Band des aargauischen VLSE:

«Einmal musste ich zum Chef»

«Einmal musste ich zum Chef, der mir zu meiner Freude mitteilte, dass ich in seinem Betrieb als Werkstattchef arbeiten könnte. Nach der euphorischen Freude merkte ich, dass das ja gar nicht ging; ich konnte ja gar nicht schreiben. So bastelte ich mir eine Ausrede. Ich hätte in den Knien grosse Probleme und könne deshalb nicht mehr auf diesem Beruf arbeiten. Ich bedankte mich für das Vertrauen und kündigte. So war es auch an anderen Arbeitsorten.

Irgendeinmal wurde mir das alles zu viel, und ich gründete mit einem Kollegen eine eigene Garage. Dies ging alles sehr gut, da ich nun als eigener Chef die Schreibarbeiten delegieren konnte. Meine damalige Frau machte für mich das Büro.

Dann kam die Scheidung. Ich schmiss alles hin und wollte nichts mehr wissen von Autos. Meine schlimmste Deprimierung ergab sich bei der Gerichtsverhandlung. Der Anwalt meiner Frau las dem Gericht einen Brief vor, den ich einmal meiner Frau geschrieben hatte. Er konnte ihn nicht ganz genau lesen, weil so viele Fehler darin waren. Sein Kommentar war, dieser Brief käme ihm vor wie von einem Erstklässler und nicht von einem erwachsenen Mann.»

«Einmal las ich ein Inserat in der Zeitung»

«Einmal las ich ein Inserat in der Zeitung von einer Stelle in einer Brockenstube. Ich rief an, hoppla, eine Bewerbung schreiben. Scheisse, das kann ich nicht. Blitzschnell kombinierte ich und sagte, ich hätte den Arm gebrochen und könne nicht schreiben, ob ich nicht einmal vorbeikommen könnte. Ich könne vorbeigehen, hörte ich aus dem Hörer.

So, was nun? Den Arm brechen? Ich holte schnell Gips und Verbandsstoff und gipste mir den Arm ein. Die Stelle hatte ich bekommen.

Seit ich den Lese- und Schreibkurs besuche, fühle ich mich sicherer, da mir einige Schreibregeln geblieben sind. In Zukunft möchte ich aber noch besser und sicherer schreiben. Ich bin ungeduldig und wünschte, es ginge schneller.»

«In der Schule wäre ich nicht mitgekommen»

«Es fing schon in der Schule in der 1. Klasse an. Ich wollte immer nur der Stärkste der Klasse sein. Ich dachte, das ist für mich das Wichtigste, dass ich im Mittelpunkt bin. Das war immer sehr wichtig: der Stärkste, der Coolste. Die Schule ist nur für Streber, die ich immer verachtete, die spinnen, dass sie so viel Hausaufgaben machen. Ich ging lieber Fussball spielen oder mich messen, wie stark ich war.

So ging es, bis ich eine Lehrstelle suchte. Ich wollte mich bewerben und musste sehen, niemand wollte mich, ich war zu schlecht für sie. Ich war sicher gut im Praktischen, aber in der Schule wäre ich nicht mitgekommen.

Da sah ich, dass die Welt andere Regeln hat, als ich mir vorgestellt habe. Es kommt nicht auf die Stärke an, sondern auf die Kraft des Gehirns.»

Texte aus: «Der Direktor gibt der Sekretärin den Auftrag, einen Rolls-Royce zu kaufen. Lesen und Schreiben für Erwachsene».

«Illetrismus und neue Technologien–Schrift­ lernen in der Nachholbildung» (INT)

Das Forschungs­ und Entwicklungsprojekt konzentriert sich auf die Nachholbildung bei Erwachsenen, die von Lese-­ und Schreib­schwierigkeiten betroffen sind. Es ist dies ein Kooperationsprojekt des Zentrums Lesen der Pädagogischen Hochschule der FHNW und der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern in Zusammenarbeit mit der Association Lire et Ecrire Suisse roman­de, der Volkshochschule beider Basel und dem Ausbildungsverbund «aprentas» mit finanzieller Unterstützung des BBT, der Novartis und der Kantone Aargau und Bern.

Weitere Publikationen

Döbert, Marion; Hubertus, Peter (2000). Ihr Kreuz ist die Schrift. Analphabetismus und Alphabetisierung in Deutschland. Hrsg. vom Bundesverband Alphabetisierung e.V.; Müns­ter und Stuttgart: Klett oder http://www.alphabetisierung.de/fileadmin/files/Dateien/Downloads_Texte/IhrKreuz-gesamt.pdf

Grossenbacher, Silvia; Vanhooydonck Sté­phanie (2002): Illetrismus. Wenn Lesen ein Problem ist – Hintergründe und Gegenmass­nahmen, Trendbericht SKBF Nr. 5, 164 Seiten, ISBN 3­908117­62­3

Cathomas, Vreni; Merz, Klaus (Hrsg.), (2004): Der Direktor gibt der Sekretärin den Auftrag, einen Rolls­Royce zu kaufen. Lesen und Schreiben für Erwachsene. Wädenswil: Verlag mit dem Pfeil im Auge. ISBN 3­909198­ 10­4. Bestelladresse: http://lesenschreibenaargau.ch... 

Webportal des Netzwerks Illettrismus: www.lesenlireleggere.ch 

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Thomas Sommer

PH FHNW, Institut Forschung & Entwicklung Zentrum Lesen Aarau 

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Afra Sturm

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