«Bücherwürmer sollen in seinen Eingeweiden nagen»
Nikolaizig, Andrea; Schwarzer, Conny; Tatort Bibliothek: Bücherklau und Seitenraub, Berlin, BibSpider, 2015, 203 Seiten. ISBN: 978-3-936960-78-5
Tatort Bibliothek — der Titel des Buches von Andrea Nikolaizig und Conny Schwarzer gab den Anstoss für die arbido-Ausgabe 2017/2, in der für einmal die dunkeln Seiten der Bibliotheks- und Archivwelt ausgeleuchtet werden. Die gibt es auch, und nicht zu wenig! Zum Beispiel: Diebstähle in Bibliotheken. Die beiden Autorinnen beackern damit in ihrem Buch ein Feld, das bisher kaum erforscht und statistisch nicht nachgewiesen ist.
Andrea Nikolaizig lehrt und forscht an der Fakultät Medien der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig, Co-Autorin Conny Schwarzer arbeitet an einer Institutsbibliothek der Universität Erlangen und hat sich bereits im Rahmen ihrer Bachelorarbeit mit dem Thema Bibliotheksdiebstahl befasst.
Die beiden haben 61 Eigentumsdelikte zusammengetragen, die sich zwischen 1990 und 2013 zugetragen haben und über die in der (mehrheitlich) deutschsprachigen Presse berichtet wurde. Quellen ihrer Recherche waren die Datenbanken Genios und Wiso, aber auch das Verzeichnis gestohlener Bücher der Internationalen Vereinigung der Buchantiquare und die Datenbank der deutschen Bibliotheksurteile. Indem sie sich auf jene Fälle konzentrieren, die medial aufgegriffen wurden, richteten sie ihren Fokus auf die mehr oder weniger spektakulären und vor allem auf die nachgewiesenen Fälle. Ein Blick ins Register mit Einträgen wie «221 Diebstähle und 1 Todesfall», «Herbert Schauer nach Italien ausgeliefert» oder «Nur die Rasierklinge war Zeugin» gemahnt denn auch fast an den sonntagabendlichen «Tatort».
Der Alltag jedoch erweist sich meist als weit weniger spektakulär. Aufkeimende kriminalistische Hoffnungen werden auf den ersten 30 Seiten erstmal zunichte gemacht: Systematisch weist das ermittelnde Duo nach, dass vermisste Bücher oft einfach verstellt und deshalb unauffindbar sind. Oder sie wurden versteckt. Ein Phänomen, das vor allem in Hochschulbibliotheken unter dem Begriff «Nestbau» bekannt ist. Die «Täter» sichern sich auf diese Weise zumindest für eine gewisse Zeit die alleinige Benutzung. Ja, und manchmal ist die Sache noch viel banaler: Die Bücher sind schlicht wegen administrativer Fehler verschollen, und das meist für immer.
Aber dann und wann wird die Bibliothek tatsächlich zum Tatort. Im bunten Strauss aus 61 Beispielen gibt’s denn auch einige veritable Kriminalfälle. Gruppiert nach Szenarien (z.B. Diebstahl durch Mitarbeiter während der Arbeitszeit) und Täterprofilen (z.B. Historiker, Lehrer, Buchhalter) werden die einzelnen Diebstähle anhand der Original-Pressemeldungen und ergänzender Kommentare aufgerollt. Und es zeigt sich: Gestohlen wird fast alles, von der DVD über Gameboys bis zu historischen Landkarten, die fein säuberlich mit der Rasierklinge aus Büchern herausgeschnitten und anschliessend antiquarisch verkauft werden. Täter sind Bibliotheksdirektoren ebenso wie Bibliophile oder die «internationale Buchmafia». Wer Krimis liebt, dem bietet der Band «Tatort Bibliothek» eine Palette wundersamer und kurioser Geschichten, die von der zitierten Presse genüsslich aufgegriffen wurden, oft nach dem Motto: «Und meist waren es die Bibliothekare selber.» Wer Bibliotheken liebt, ist immer wieder erstaunt ob der Dreistigkeit der Täter – es sind tatsächlich immer Männer!
Wer jedoch in einer Bibliothek arbeitet, wird nach der Lektüre möglicherweise etwas genauer hinschauen, wenn ein Benutzer sommers wie winters den gleichen voluminösen Mantel trägt. Dass der Bücherklau kein Tatbestand der Neuzeit ist, zeigte eine Inschrift in der Bibliothek des Klosters San Pedro in Barcelona, die auf der letzten Seite des Buches zitiert wird: «Wer Bücher stiehlt oder ausgeliehene Bücher zurückbehält, in dessen Hand soll sich das Buch in eine reissende Schlange verwandeln. Der Schlagfluss soll ihn treffen und all seine Glieder lähmen. Laut schreiend soll er um Gnade winseln, und seine Qualen sollen nicht gelindert werden, bis er in Verwesung übergeht. Bücherwürmer sollen in seinen Eingeweiden nagen wie der Totenwurm, der niemals stirbt. Und wenn er die letzte Strafe antritt, soll ihn das Höllenfeuer verzehren auf immer.»
Bleibt die Hoffnung, dass die Digitalisierung dem «Bücherklau und Seitenraub» ein Ende setzte. Weit gefehlt! Eric W. Steinhauer, Spezialist in Bibliotheks- und Urheberrecht, schreibt im Vorwort, dass sich das Problem lediglich auf eine andere Ebene verlagere. Der umgangssprachliche Begriff «Raubkopie» belegt: Tatort Bibliothek bleibt auch in Zukunft aktuell.