Der widerspenstigen Akten Zähmung: Archivische Eingriffe in die Materialität der Quellen
Jurismappen und Archivschachteln schützen die Quellen und unterteilen unübersichtliche Aktenberge in verdau- und verstaubare Portionen. Gleichzeitig nehmen sie den Beständen aber auch einen Teil ihrer ursprünglichen Materialität. Was bedeutet das für die archivische Praxis und die historische Forschung?
Die Besichtigung eines modernen Archivs ist für viele Besucher:innen zunächst enttäuschend: Statt der überbordenden Materialität vergangenen Lebens, die Arlette Farge in «Der Geschmack des Archivs»1 so eindrücklich beschreibt, finden sie in den Magazinräumen scheinbar endlose Reihen an gleichförmigen Archivschachteln vor; statt unkontrollierbaren Aktenfluten erwarten sie darin fein säuberlich gestapelte Jurismappen.
Ein ganz anderer Blick bietet sich den Besucher:innen hingegen, wenn sie eine Akzession betreten. Hier wird die Materialität der Herkunftsarchive in ihrer ganzen Vielfalt sichtbar: Die Bestände liegen in bunten Ordnern, abgenutzten Hängeregistern und verschlossenen Couverts, in verschnürten Bündeln, vernagelten Bilderrahmen, beklebten Planrollen, ja manchmal auch in alten Pralinenschachteln und versiegelten Reliquiaren – kurz, in allen erdenklichen, aber in der Regel eben archivuntauglichen Behältnissen.

Der ursprüngliche materielle Zustand von Beständen stellt natürlich ein konservatorisches Problem dar und wird in erster Linie als solches behandelt. Gleichzeitig geht das Umpacken der Akten aber mit einem Eingriff in die Materialität der Quellen einher. Was also passiert mit den Beständen auf dem Weg von der materiellen Vielfalt zur materiellen Konformität?
Materielle Verluste
Wer schon einmal einen ungeordneten Bestand bearbeitet hat, weiss, wie wertvoll die ursprünglichen Verpackungen bei der Erschliessung sind: Gleiche Verpackungen markieren beispielsweise Serien oder eine gemeinsame Provenienz, Beschriftungen geben Auskunft über Inhalt und Entstehungszeitraum. Aber nur ein Bruchteil der Informationen, die die ursprünglichen Archivverpackungen auf sich tragen, lassen sich in den Archivinformationssystemen sinnvoll festhalten. Denn die Unterscheidung zwischen «Verpackung» und «Inhalt» ist im Grunde artifiziell: Während des grössten Teils des Lebenszyklus der Akten ist das, was im Archiv aus praktischen Gründen als blosse Hülle behandelt wird, integraler Bestandteil der Quellen. Entsprechend vielfältig sind die Informationen, die auf der archivuntauglichen Verpackung selbst zu finden sind – neben Beschriftungen zum Beispiel auch Fotos, Zeichnungen, Notizen oder Inhaltsverzeichnisse. Manches davon kann man ablösen oder den Akten in Kopie beilegen. Das meiste geht aber mit der ursprünglichen Verpackung verloren.
Darunter fallen auch zahlreiche Hinweise auf die Bestandesgeschichte. Die Verpackungen tragen oft Spuren der Menschen, die den Bestand (um-)ordneten und benutzten; ihre Form und ihr Zustand zeugen von den Orten, an denen der Bestand untergebracht war, und von der Funktion, die die Quellen in ihrem früheren Leben erfüllten. Das Archiv der letzten österreichischen Kaiserin Zita von Bourbon-Parma beispielsweise wurde vor seiner Erschliessung in rund 100 Kisten und Reisekoffern aufbewahrt. Die Art der Aufbewahrung und die Aufkleber auf den Koffern zeugen nicht nur von der bewegten Lebensgeschichte Zitas, sondern auch von der Mobilität des Archivs selbst: Letzteres begleitete seine Besitzerin ein halbes Jahrhundert lang auf ihren zahlreichen Exilstationen.

Aber auch bescheidenere Archivverpackungen können vieles über die darin enthaltenen Quellen verraten: Ein Hängeregister verweist etwa auf laufende Geschäfte; ein verschnürtes Bündel auf ein abgeschlossenes Projekt. Verschlossene oder versiegelte Behältnisse zeugen von Geheimhaltungspraktiken und Zugangsbeschränkungen. Ist ein Bild eingerahmt, so wurde es wahrscheinlich aufgehängt – doch sobald es ausgerahmt in einer Jurismappe liegt, unterscheidet es sich höchstens noch durch den Grad der Ausbleichung von jenen Bildern, die im hintersten Winkel eines Schrankes lagen. Auch Hinweise auf Entstehungszeit und -ort können mit den Verpackungen verloren gehen. Bei Glasplattennegativen etwa dienen oftmals nur die auf die typischen Kartonverpackungen aufgedruckten Firmenlogos als Anhaltspunkte für Zeitpunkt und Ort, an dem die Bilder entstanden – Anhaltspunkte, denen man bei der Erschliessung aus Zeitgründen und fehlendem Spezialwissen kaum nachgehen kann.
Beim Umzug der Quellen in Mappen und Archivschachteln geht aber nicht nur Kontext verloren, sondern auch die Materialität der Akten selbst verändert sich. Weil Archivar:innen den begrenzten Raum im Archiv optimal ausnutzen wollen, verschwinden beim Umpacken etwa sämtliche Lücken, die auf verschobene oder verlorene Akten verweisen. Gleichzeitig werden Doppel entfernt, so dass eine ganze Kiste voller Dokumente manchmal auf ein einziges zusammenschrumpft. Und auch wenn sich die neue Archivverpackung den Akten anpassen soll, so ist es in der Praxis doch oft umgekehrt: Der riesige Aktenstapel, der lose in einer Schachtel liegt; der überquellende Ordner, der sich kaum noch blättern lässt; der Inhalt eines Karteikastens – sie alle müssen beim Umpacken in Stapel von wenigen Zentimetern Höhe unterteilt werden, damit sie in die standardisierten Mappen passen. Dadurch verändern sich die Bestände nicht nur optisch, sondern auch haptisch, und das Gewicht des ursprünglichen Dossiers ist (vielleicht im zweifachen Sinne) nicht mehr greifbar.
Lebendige Archive
«Diese für die Konservierung sinnvollen Reproduktionssysteme […] [werden] manch einen den taktilen und unmittelbaren Zugang zum Material vergessen lassen, diese greifbare Wahrnehmung der Spuren der Vergangenheit.»2
Was Arlette Farge 1989 über den Mikrofilm schrieb, wird heute von vielen Historiker:innen in Zusammenhang mit digitalisierten Beständen wiederholt: Diese erleichtern zwar den Zugang zu den Quellen, bergen aber gleichzeitig die Gefahr einer «Entmaterialisierung von Forschungsstätten»3 und sind «ein wenig tot»4. Dasselbe könnte man zugespitzt auch über archivgerecht verpackte Akten sagen: Auch sie haben einen Teil ihrer widerspenstigen, lebendigen Materialität verloren. Im Falle des Mikrofilms und des Digitalisats bleibt aber in der Regel noch der Rückgriff auf das Original, während die ursprüngliche Materialität der Bestände nach dem Umpacken unwiederbringlich verloren ist.
Wie könnte man solche Verluste abfedern? Aus konservatorischen Gründen kann die Lösung natürlich nicht darin bestehen, die Akten in ihren ursprünglichen Behältnissen zu archivieren. Sinnvoll wäre aber eine systematischere Dokumentation der Materialität von Beständen vor ihrer Bearbeitung durch das Archiv. Bereits jetzt werden Bestände oft bei der ersten Sichtung vor Ort fotografiert, so dass man sich später noch eine Vorstellung des Ursprungsarchivs machen kann. Das ist hilfreich für die Archivarbeit, könnte aber darüber hinaus auch den Benutzer:innen bei der Einordnung der Quellen helfen. Denkt man etwas in die Zukunft, böte vielleicht gerade die Digitalisierung eine Chance, die ursprüngliche Materialität von Beständen zu bewahren: Vielleicht wird es zukünftig möglich sein, einzelne Bestände als digitale Räume wiederauferstehen zu lassen und ihre Materialität zumindest visuell zu erhalten.

Da sich aber niemals alle Eingriffe in die Materialität der Archivbestände kompensieren lassen werden, wäre es besonders sinnvoll, den Dialog zwischen Archivar:innen und Historiker:innen zu fördern. Der digital turn hat bezeichnenderweise den Blick der Geschichtswissenschaft für die Bedeutung der Materialität bei der historischen Analyse geschärft.5 Umso wichtiger ist es, dass wir nicht in falsche Dichotomien verfallen – hier das unversehrte Original im Archiv, dort die körperlose Kopie im Internet – sondern uns offen über die zahlreichen notwendigen Eingriffe in die Materialität der Quellen im Archiv austauschen.
Anmerkung: Beim vorliegenden Artikel handelt es sich um die gekürzte und überarbeitete Version eines Blogbeitrags, der 2023 auf Materialized Histories erschien. Vgl. Carla Roth, ‘Der widerspenstigen Akten Zähmung: Unsichtbare Eingriffe in die Materialität des Archivs’, in Tina Asmussen et al. (Hg.): Materialized Histories. Eine Festschrift 2.0 (2023), https://mhistories.hypotheses.org/9634.
- 1 Arlette Farge: Der Geschmack des Archivs. Übers. Jörn Etzold und Alf Lüdtke. Göttingen 1989, S. 8-9.
- 2 Farge, Geschmack des Archivs, S. 17-18.
- 3 Alexandre Elsig, Thibaud Giddey, Malik Mazbouri: ‘Editorial: Der bittere Geschmack des Archivs’, traverse 1 (2023), S. 22-35, hier S. 32.
- 4 Farge, Geschmack des Archivs, S. 18.
- 5 Siehe z.B. Maryanne Dever: ‘Provocations on the pleasures of archived paper’, in: Archives and Manuscripts 41/3 (2013), S. 173-182.
Abstract
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Jurismappen und Archivschachteln schützen die Quellen vor vorzeitigem Zerfall, nehmen den Beständen aber auch einen Teil ihrer ursprünglichen Materialität. Der Beitrag zeigt anhand einiger Beispiele auf, wie das Umpacken die Materialität von Beständenverändert, welche Informationen dabei verloren gehen und wie man manche dieser Verluste abfedern könnte.
Les chemises juridiques et les boîtes d'archives protègent les sources d'une dégradation prématurée, mais en même temps, elles privent les fonds d'une partie de leur matérialité d'origine. L'article montre, à l'aide de quelques exemples, comment le reconditionnement modifie la matérialité des fonds, quelles informations sont perdues et comment on pourrait atténuer certaines de ces pertes.