Kommentare Abstract
2021/1 Private Archive und Bibliotheken – Luxus oder Notwendigkeit?

DIGIARCH2021 - Kulturerbe im digitalen Zeitalter

Kommentare Abstract

Mit dem Thema «Kulturerbe im digitalen Zeitalter» stiessen die Organisatorinnen und Organisatoren auf Interesse weit über die Schweizer Fachkreise von Archäologie und Denkmalpflege hinaus. Unter den rund 400 Teilnehmenden der Veranstaltung, die als klassische Konferenz für 2020 geplant war, pandemiebedingt aber verschoben und in den virtuellen Raum verlegt werden musste, befanden sich auch zahlreiche Mitarbeitende von Bibliotheken, Archiven und weiteren Institutionen aus den Bereichen Kulturgut und Kulturerbe, die sich mit der digitalen Transformation beschäftigen.

Virtuelle Konferenz, organisiert von Weiterbildung NIKE | BAK | ICOMOS, dem Netzwerk Archäologie Schweiz und dem Amt für Raumentwicklung des Kantons Zürich, 24.03.2021

Nutzung neuer Möglichkeiten

Im Eröffnungsvortrag gab Christian Greco (Direktor des Ägyptischen Museums in Turin) einen faszinierenden Einblick in die Möglichkeiten nicht-invasiver bildgebender Verfahren in der Archäologie. Diese erlauben es etwa, den Inhalt von verschlossenen Gefässen zu erkennen, ohne diese zu zerstören, oder Sarkophage und mumifizierte Körper zu durchleuchten. Das folgende Programm war strukturiert in drei Vortragsblöcke und eine Session mit vier parallelen Workshops. Im Themenblock «Digital kreieren» fragten die Referierenden (Torsten Schrade, Gudrun Knaus, Esther Schönenberger, Cécile Vilas) nach den Chancen und Risiken der neuen digitalen Beschreibungs- und Visualisierungstechnologien im Vergleich mit den hergebrachten analogen. Modelle sind, ob analog oder digital, Vereinfachungen und als Abstraktionen nicht mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Die Konventionen der digitalen Darstellung, und damit auch deren Interpretation scheinen aber noch weniger eingeübt. Daher müsse das Bewusstsein für Verzerrungen und Schieflagen weiter geschärft werden. Letztere reichen von den Grössenverhältnissen von Abbildungen in einer Datenbank zueinander über die in Kodierungen niedergelegte Einseitigkeit algorithmisch auszuwertender Datensätze bis hin zu den Werkzeugen der digitalen Grabungszeichnung, die die Zeichnenden gelegentlich weniger beherrschen als dass sie von ihnen beherrscht werden. Dann würden die Chancen der neuen Möglichkeiten deren Risiken überwiegen und der Aufwand für deren Anwendung lohne sich.

Die Elektronische Rechenmaschine der ETH, kurz ERMETH, gehört zu den ersten Computern in Europa. Heute im Museum für Kommunikation, Bern. (commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7883529)

Wichtiger Faktor Datenqualität

Wie wichtig qualitativ hochstehende Metadaten seien, wurde auch im zweiten Themenblock «Digital strukturieren» betont (Philip Wiemann, Patrick Michel, Peter Fornaro, Benoît Epron). Diese bildeten die Voraussetzung für virtuelle 3D-Rekonstruktionen von Kulturdenkmälern wie dem Tempel von Palmyra ebenso wie für die digitale Langzeitarchivierung von Daten aus Archäologie und Denkmalpflege. Die Kooperation mit Bibliotheken und Archiven, die hierbei über mehr Erfahrung verfügen, wurde ausdrücklich angemahnt. Eine Vorbildfunktion wurde den Bibliotheken auch bei den Themen Open Data, Lizenzierung und transparenten Bedingungen für die Nachnutzung von Daten zugesprochen. Witziger Ausgangspunkt von Wiemanns Beitrag «Weshalb Daten gemein sein könn(t)en und was Max Havelaar mit dem Ganzen zu tun hat» war das Konzept der «MEAN Data», der fiesen Daten. Der finnische Informationswissenschaftler Isto Huvila benutzt dieses Akronym für miscellaneous, exceptional, arbitrary und nonconformist. Ziel muss es selbstverständlich sein, stattdessen «FAIR Data» (findable, accessible, interoperable und re-usable) anzubieten und dafür Zertifizierungen anzustreben.

Datennutzung und Kooperation

Der dritte Themenblock «Digital vermitteln» (Dominik Lengyel, Christian Degrigny, Arlette Neumann, Manuel Sigrist) griff bereits zuvor andiskutierte Themen – Visualisierung und 3D-Rekonstruktion von Objekten, nicht-invasive Analysemethoden und die Analyse von grossen Datenbeständen mit machine learning – auf, wechselte jedoch die Perspektive vom Produzieren der Daten hin zu deren Rezeption und Nutzung in der Vermittlung. Open Science in ihren verschiedenen Ausprägungen (Open Data, Open Access) ist auch und gerade in der Vermittlung von zentraler Bedeutung. Ausserdem fördert die Offenheit digitaler Daten die in Archäologie und Denkmalpflege im Vergleich mit dem Bibliothekswesen und seinen Verbundsystemen anscheinend weniger weit entwickelte fachliche Kooperation über Institutionengrenzen hinaus.

Letzteres kam auch im Workshop über Datennormierung zum Ausdruck, in dem einzelne Teilnehmende in der Etablierung von Normen und Standards weniger eine Voraussetzung für Kooperation und Interoperabilität als vielmehr eine Bremse für Innovation sahen, die von Einzelpersonen angestossen werde. Die weiteren Workshops beschäftigten sich mit der Frage, ob die physischen Objekte durch die Digitalisierung obsolet werden, der Durchlässigkeit zwischen den Institutionen der Archäologie einerseits und der Denkmalpflege andererseits sowie der Erarbeitung von Leitfäden für die kantonalen Amtsstellen.

Erfolgreiche Durchführung auf digitaler Konferenzplattform

Besonders hervorzuheben ist das erfolgreiche Experiment mit einer digitalen Konferenzplattform, die über derart komplexe Funktionalitäten verfügte, dass den Teilnehmenden vorab ein Videotutorial und technische Schulungen angeboten wurden. Die Plattform bildete in vielerlei Hinsicht eine analoge Konferenzsituation nach, insbesondere die Möglichkeit von spontanen Interaktionen und informellen Begegnungen. Es fehlte nicht an einer Lobby, einer Wandelhalle und einer virtuellen Bar, in der man sich mittels Avatar zu privaten Gesprächen und Pausen treffen konnte. Auf dem Marktplatz stellten in der Mittagspause zwölf Projekte ihre Ergebnisse zur Diskussion. Die Kombination von Zoom und Chatfunktion der Plattformsoftware erlaubte öffentliche und private Diskussionen und nicht zuletzt eine deutsch-französische Simultanübersetzung des Hauptprogramms.

Annäherungen im digitalen Zeitalter

Im Ergebnis machten die Diskussionen der Konferenz deutlich, wie nah Archäologie und Denkmalpflege im digitalen Zeitalter an das Bibliothekswesen herangerückt sind und dass sie vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Bildgebende Verfahren stehen als neuartige Analyseinstrumente zur Verfügung. Neue Visualisierungstechniken bieten Chancen in der nunmehr digitalen Vermittlung. Standardisierung bildet eine Voraussetzung für Interoperabilität und Linked Open Data. Datenhaltende Institutionen müssen sich auf IT-basierte Analysen grosser Korpora einstellen und entsprechende Angebote machen. Die Volumina digitaler Daten nehmen exponentiell zu und deren Langzeitarchivierung ist zu gewährleisten. Zugleich wurde sichtbar, wie fern Archäologie und Denkmalpflege dem Bibliothekswesen weiterhin stehen. Denn sie bildeten eigene Fachkulturen im Umgang mit analogen Objekten aus und entwickelten sich über Jahrzehnte in einer Umgebung von stark kantonal geprägten Institutionen, in der sich bisher keine Äquivalente zu den Bibliotheksverbünden herausgebildet haben.

Konferenzband

Der Konferenzband ist zeitgleich mit der virtuellen Veranstaltung in der Schriftenreihe zur Kulturgüter-Erhaltung erschienen, die von der Nationalen Informationsstelle zum Kulturerbe (NIKE), dem Bundesamt für Kultur (BAK), ICOMOS Suisse herausgegeben wird:
DIGIARCH 2021. Kulturerbe im digitalen Zeitalter. Hrsg.: Arbeitsgruppe formation continue NIKE/BAK/ICOMOS. Basel 2021 (= Schriftenreihe zur Kulturgüter-Erhaltung 7). ISBN 978-3-7965-4304-3

Konferenzwebsite: https://digiar.ch/

Wiederkehr Stefan 2021

Stefan Wiederkehr

Dr. Stefan Wiederkehr ist Chefbibliothekar Spezialsammlungen / Digitalisierung in der Zentralbibliothek Zürich.