Das Dokument als Konstrukt des Intellekts, oder: Die Wiederentdeckung von Briets Antilope
Vor 70 Jahren veröffentlichte die Französin Suzanne Briet ihr Büchlein «Qu’est-ce que la documentation?». Ihr Vorschlag des Begriffs «Dokument» fand erst in den 1990er-Jahren, mit der aufkommenden Verbreitung digitaler Arbeitsmethoden, die ihm zustehende Beachtung. Aus heutiger Perspektive war ihr Ansatz wegweisend, und Briets Voraussicht wohin sich die Informationswissenschaft entwickeln wird, visionär.
Propheten im eigenen Land wird ein schwerer Stand nachgesagt. Für weibliche Propheten galt das in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts ohne Zweifel. 1951 publizierte Suzanne Briet, eine der ersten drei Bibliothekarinnen an der Bibliothèque Nationale de France und dort zur Leiterin der Katalogabteilung aufgestiegen, ihr Werk «Qu’est-ce que la documentation?». Das gerade mal 48-seitige Büchlein, heute oft als «Manifest» bezeichnet, blieb ausserhalb der dokumentarischen Vorreiterkreise weitgehend unrezipiert. Eine zweijährige Forschungsreise in die USA brachte ihre Ideen ans – vorerst – angelsächsische Licht. Doch erst nach ihrem Tod 1989 stiess ihre, auch Jahrzehnte nach der ersten Niederschrift immer noch revolutionäre, Konzeption der Informationswissenschaft (sie selbst schrieb immer von «documentation») auf solch grosses Echo, dass Studierende sogar T-Shirts mit «ihrer» Antilope trugen – so erinnert sich zumindest Michael Buckland, heute emeritierter Professor der UC Berkeley School of Information1 und einer der Treiber hinter der Wiederauseinandersetzung mit Briets Thesen in den USA.
Briets Antilope wurde zum Inbegriff für die Neuinterpretation des Begriffs «Dokument». Lange Zeit war damit ein Text, festgehalten auf Papyrus, Pergament oder Papier, gemeint. Grosse Sprünge in der wissenschaftlichen Forschung und parallel dazu das Aufkommen neuer Techniken, um Informationen festzuhalten, stets gefolgt von Versuchen, diese immer grösser und komplexer werdende Informationsmenge einem ebenfalls wachsenden Nutzerkreis verfügbar zu machen, warfen die Frage auf, was denn als Dokument gelten sollte. Paul Otlet, Gründer des Office International de Bibliographie, hatte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts eine funktionale Begriffsdefinition aufgebracht und in den Raum gestellt, ob Skulpturen, Museumsobjekte oder lebende Tiere nicht auch «Dokumente» sein könnten. Suzanne Briet entwickelte diese Idee entschieden weiter und erweiterte den Dokumentenbegriff um die Dimension der Intention.
Im ersten Teil ihres Büchleins, unter dem Titel «Une technique du travail intellectuel», schlägt sie folgende Definition vor: «tout indice concret ou symbolique, conservé ou enregistré, aux fins de représenter, de reconstituer ou de prouver un phénomène ou physique ou intellectuel.»2 Briet war sich bewusst, dass diese Definition abstrakter und weniger zugänglich ist als die damals gebräuchlichen, weshalb sie Beispiele liefert: Ein Stern, ein vom Wildbach bewegter Kiesel, ein lebendes Tier, nein, das sind keine Dokumente. Aber Fotografien und Kataloge von Sternen, Steine in einem Mineralogie-Museum, verzeichnete und im Zoo ausgestellte Tiere, das sind Dokumente.
Briet konkret:
«[…] une antilope d’une espèce nouvelle a été rencontrée en Afrique par un explorateur qui a réussi à en capturer un individu qu’il ramène en Europe pour notre Jardin des Plantes. Une information de presse fait connaître l’évènement par des communiqués de journaux, de radio, par les actualités cinématographiques. La découverte fait l’objet d’une communication à l’Académie des Sciences. Un professeur du Muséum en fait état dans son enseignement. L’animal vivant est mis en cage et catalogué (jardin zoologique). Une fois mort, il sera empaillé et conservé (au Muséum). Il est prêté à une Exposition. Il passe en sonorisé au cinéma. Son cri est enregistré sur disque. La première monographie sert à établir partie d’un traité avec planches, puis une encyclopédie spéciale (zoologique), puis une encyclopédie générale. Les ouvrages sont catalogués dans une bibliothèque, après avoir été annoncés en librairie (catalogues d’éditeurs et Bibliographie de la France). Les documents sont recopiés (dessins, aquarelles, tableaux, statues, photos, films, microfilms), puis sélectionnés, analysés, décrits, traduits (productions documentaires).»3
Die wilde, in Afrika lebende Antilope ist also nicht als Dokument zu verstehen. Die eingefangene, im Zoo lebende Antilope hingegen, die ein Studienobjekt ist, wird vom Menschen zum Dokument gemacht. Wissenschaftliche Artikel über das Tier, Filmaufnahmen seines Verhaltens und Aufzeichnungen seiner Paarungsrufe sind Sekundärdokumente, das im Zoo gehaltene Tier ein Primärdokument. Denn aus diesem lässt sich herauslesen, was eine Antilope ist und tut.
Suzanne Briets «Qu’est-ce que la documentation?» ist nicht nur wegen des Zoo-Ausflugs bemerkenswert. Sie unterstreicht darin die wachsenden Informationsbedürfnisse und weist gleichzeitig auf die Wichtigkeit institutions- und disziplinenübergreifender Netzwerke beim Stillen ebendieser hin. Sie sieht die Dokumentation als Dienerin («servante») des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses, die bereit sein muss, daraus entstehende technische Innovationen in die dokumentarischen Methoden zu integrieren. Darum stellt sie auch damals (und teilweise heute noch) gültige Annahmen zur Rolle und zu den Tätigkeiten von Archivaren, Bibliothekaren und Dokumentalisten in Frage. Sie nimmt das Zeitalter der digitalen Bibliotheken vorweg, und wenn sie schreibt «Un épais dossier se glisse, microfilmé, dans une poche de veston. Une bibliothèque entière est renfermée dans un sac à main.»4 scheint sie es kaum erwarten zu können.
Heute tragen wir alle Bibliotheken in unseren Hosen- resp. Handtaschen mit uns herum (auch wenn viele sie mehrheitlich als Filmreservoir und Musiksammlung nutzen), und es lohnt sich, darin nach Suzanne Briet zu suchen.
- 1 https://bbf.enssib.fr/consulter/bbf-2012-01-0040-007 (zuletzt abgefragt am 4. Dezember 2021)
- 2 Briet, Suzanne, Qu’est-ce que la documentation?, Paris, Editions documentaires industrielles et techniques, 1951, S. 7.
- 3 ibidem, S. 7–8
- 4 ibidem, S. 9.