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2016/4 Zeigt euch!

Erinnern und Vergessen in der Informationsgesellschaft

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Die Informationsgesellschaft lebt davon, rasch auf grosse Mengen an verlässlichen Informationen zugreifen zu können. Archivgut muss Teil dieses Angebots sein. Persönliche Daten sollen aber nur in begründeten Fällen frei zugänglich sein. Das Schweizerische Bundesarchiv im Spannungsfeld zwischen «Erinnern» und «Vergessen».

Wer nach Informationen zu einem Thema sucht, erwartet, diese orts- und zeitunabhängig abrufen zu können. Als Konsequenz aus diesem Bedürfnis nach Informationen gewinnt das Archivgut des Bundes als zuverlässige Informationsquelle weiter an Bedeutung. Das Bundesarchiv (BAR) sichert das Archivgut und macht es der Öffentlichkeit zugänglich – gemäss seiner Strategie 2016–2020 bald ausschliesslich online. Doch nicht nur vergangene, sondern auch aktuelle Unterlagen sind heute leichter zugänglich: Seit 2006 ist das Recht auf eine transparente Verwaltung mit dem Bundesgesetz über das Öffentlichkeitsprinzip in der Verwaltung (BGÖ) nun auch für laufende Geschäfte der Bundesverwaltung verankert.1 Diesem allgemeinen Trend zu mehr Zugang zu Informationen steht das immer stärker werdende Bedürfnis der Menschen nach Schutz ihrer eigenen Daten gegenüber. 

Im Spannungsfeld von Archivierung und Löschgebot

Im Kontext der Anwendung von Big Data Analytics und des «Internet of Things» stellen sich neue Datenschutzfragen. Bemühungen um einen zeitgemässen Datenschutz zeigen sich sowohl in der Rechtsprechung2 als auch in der kürzlich verabschiedeten Datenschutzgrundverordnung der EU, die unter anderem ein Recht auf Vergessenwerden verankert. Dabei stellt die Archivierung richtigerweise eine wichtige Ausnahme zum Recht auf Vergessenwerden dar.3 An den Schnittstellen zwischen Archivierung und Datenschutz zeigt sich exemplarisch das Spannungsfeld zwischen Erinnern und Vergessen: Dem Gebot auf Erhalt von Information («Erinnern») steht das Löschgebot persönlicher Daten («Vergessen») gegenüber.4 Wie geht das Bundesarchiv mit diesen widersprüchlichen Anforderungen – Erinnern vs. Vergessen – um und in welchem rechtlichen Rahmen bewegt es sich dabei?

Immer wieder manifestiert sich das «Erinnern» anhand des Archivguts des BAR. Jüngstes Beispiel ist der Bericht der «interdepartementalen Arbeitsgruppe 1970» vom Mai 2016, der die These eines Stillhalteabkommens zwischen der Schweiz und der PLO nach dem Flugzeugabsturz von Würenlingen anhand von Quellen aus dem BAR untersuchte.5 Beim Erhalt und Zugang zum Archivgut geht es nicht nur um die Wahrung öffentlicher und gesellschaftlicher Interessen, sondern insbesondere auch um die Interessen der betroffenen Personen, die ein Recht darauf haben, sie betreffende (widerrechtliche) Vorgänge in der Verwaltung, für sich nachzuvollziehen. Es gibt auch Fälle, in denen Direktbetroffene einen konkreten Rechtsanspruch haben, der mit Hilfe von Archivgut geltend gemacht werden kann. So sieht das Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 einen Solidaritätsbeitrag für Opfer in Höhe von 20‘000 bis 25‘000 Franken vor.6
Die Archivierung beim Bund basiert auf dem Grundsatz, dass keine Unterlagen der Bundesverwaltung vernichtet werden dürfen, bevor sie nicht auf ihre Archivwürdigkeit hin bewertet worden sind.7 Das BAR archiviert alle rechtlich, politisch, wirtschaftlich, historisch, sozial oder kulturell wertvollen Unterlagen des Bundes.8 Hier besteht eine Interessenkollision zwischen Archivierung und Datenschutz, welcher dem Einzelnen einerseits ein Auskunftsrecht einräumt und gleichzeitig ein Löschgebot für nicht mehr ständig gebrauchte Daten, sowie für widerrechtlich beschaffte Daten vorsieht.9 Das Bundesgesetz über die Archivierung (BGA) wurde als jüngeres Gesetz bewusst in Abstimmung mit den Vorgaben des Datenschutzgesetzes erlassen. Das BGA nimmt die Anliegen des Datenschutzes in verschiedenen Bestimmungen auf. Beim Löschgebot gemäss Datenschutzgesetz sind zwei Vorgänge zu unterscheiden: Rechtmässig bearbeitete Daten und widerrechtlich bearbeitete Daten. 

Zwei Gesetze im Zusammenspiel zum Nutzen der Betroffenen

Bei rechtmässig bearbeiteten Daten löst Art. 21 DSG den Widerspruch zwischen «Erinnern» (Archivieren) und «Vergessen» (Löschen), indem er verlangt, dass alle Daten vor der Löschung dem BAR angeboten werden müssen.10 Archivwürdige Daten sind dem BAR zur Archivierung abzuliefern. «Vergessen» bzw. gelöscht werden müssen die Daten aber in jedem Fall bei der abliefernden Stelle, sobald sie nicht mehr gebraucht werden. Aus dem gleichen Grund legt das BGA fest, dass die abliefernde Stelle bei Personendaten selber nur noch eine eingeschränkte Einsichtsmöglichkeit hat. Damit bleibt das «Vergessen» bei der abliefernden Stelle weitestgehend gewahrt.11 Direktbetroffene haben auch bei Archivgut ein Auskunftsrecht.12 Dritte können während der Schutzfrist ein Einsichtsgesuch stellen.13 Damit übersteuert das BGA das Löschgebot aus dem DSG immer dann, wenn Daten archivwürdig sind und berücksichtigt gleichzeitig den erhöhten Schutzbedarf persönlicher Daten indem es Einsichtsmöglichkeiten der abliefernden Stelle einschränkt.14 

Der Spezialfall widerrechtlich erfasster Daten

Bei widerrechtlich erfassten, noch nicht archivierten Daten, geht grundsätzlich das Interesse des Datenschutzes vor und der Einzelne kann deren Vernichtung verlangen.15 Allerdings gibt es systemische Missbrauchsfälle, bei denen gerade der Erhalt der widerrechtlich bearbeiteten Daten entscheidend ist, um das Unrecht zu dokumentieren.16 In solchen Fällen ermöglicht nur der Erhalt der widerrechtlich erfassten Daten die Nachvollziehbarkeit und Transparenz des Fehlverhaltens der Verwaltung. So wurden beispielsweise die Fichen trotz widerrechtlicher Bearbeitung aufgrund eines Bundesbeschlusses aufbewahrt.17 
Aus Archivsicht wäre es wünschenswert, einen Vorrang der Archivierung bei widerrechtlich bearbeiteten Personendaten mit besonderer, systemischer Bedeutung auch gesetzlich zu verankern. Wenn eine widerrechtlichen Bearbeitung bekannt würde, wäre dabei die Bedeutung der Daten im Hinblick auf die gesellschaftliche und persönliche Aufarbeitung einer widerrechtlichen Behördentätigkeit entscheidend. Dabei könnten die Rechte der Betroffenen nach den Vorgaben des BGA durch verlängerte Schutzfristen gewahrt werden.18 Der Bewertungsentscheid sollte in dieser Konstellation vom Bundesarchiv mit Hilfe von Experten (z. B. Sonderbeauftragte oder interdepartementale Arbeitsgruppen) und ohne die abliefernde Stelle vorgenommen werden, da diese aufgrund der widerrechtlichen Bearbeitung der Daten befangen ist.19 

Aufbewahrung ist das Eine, Zugang zum Aufbewahrten etwas Anderes

In diesem Spannungsfeld zwischen Erinnern und Vergessen steht das Bundesarchiv nun vor der Aufgabe, den Zugang zu Archivinformationen zeitgemäss umzusetzen. Obwohl die Archivgesetzgebung aus den Anfängen des Internetzeitalters stammt, ist dies mit der bestehenden Gesetzgebung grundsätzlich möglich. Zukünftig soll die Öffentlichkeit sämtliche Unterlagen des Bundesarchivs online bestellen und konsultieren können – unabhängig davon, ob diese ursprünglich digital oder analog waren. Dieser erleichterte Zugang verbessert das Erinnern. Gleichzeitig muss dem Datenschutz sorgfältig Rechnung getragen werden. Dabei wird noch zu klären sein, wie die Volltextsuche BGA-konform umgesetzt werden kann.20 Unter den sich stetig verändernden Bedingungen der Informationsgesellschaft werden sich auch weiterhin Fragen zur zeitgemässen Archivierung und zum Datenschutz stellen und auch im Hinblick auf die Anwendbarkeit des BGÖ auf Archivgut des Bundes.21 Längerfristig wird eine Anpassung der bestehenden Gesetzgebung an die Realitäten der digitalen Archivierung nötig werden. Diese Herausforderungen sollten aus gesetzgeberischer Sicht nicht isoliert, sondern weiterhin in enger Abstimmung zwischen Archivierung und Datenschutz angegangen werden. In der zunehmend lauter werdenden Debatte um mehr Datenschutz sollte allerdings die etwas leisere, weil erst nachträglich sichtbar werdende, aber nicht minder wichtige Funktion des «sich Erinnerns» auch weiterhin nicht vergessen werden.


Seiberth Corinna 2016

Corinna Seiberth

Dr. iur. Corinna Seiberth ist seit 2014 Amtsjuristin beim Schweizerischen Bundesarchiv (BAR). Sie hat an der Universität Basel studiert und ihre Dissertation im Völkerrecht an den Universitäten Luzern und Nottingham (Grossbritannien) verfasst.

  • 1 Botschaft zum Bundesgesetz über die Öffentlichkeit der Verwaltung (Öffentlichkeitsgesetz, BGÖ) https://www.admin.ch/opc/de/fe... (Zugriff vom 10.10.2016).
  • 2 Mit dem Google-Entscheid zum «Recht auf Vergessenwerden» wurden Suchmaschinenbetreiber verpflichtet Inhalte auf Gesuch hin zu entfernen, wenn die Informationen über die Person veraltet sind und kein öffentliches Interesse an der Veröffentlichung der Information besteht. Urteil des EuGH C-131/12 vom 13. Mai 2014 (Google Spain SL und Google Inc. gegen Agencia Española de Protección de Datos [AEPD] und Mario Costeja González).
  • 3 Art.17 Ziff. 3 lit. d Verordnung (EU) 2016/679 des europäischen Rates und des Parlaments vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung).
  • 4 Allgemein zum Thema siehe Florent Thouvenin/Peter Hettich/Herbert Burkert/Urs Gasser, Remembering and Forgetting in the Digital Age, Springer 2017, forthcoming.
  • 5 Interdepartementale Arbeitsgruppe «1970», Schlussbericht, 03.05.2016, publiziert unter https://www.eda.admin.ch/publi... (Zugriff vom 10.10.2016). Weitere bekannte Beispiele betreffen Unterlagen des Hilfswerks Kinder der Landstrasse und der Staatsschutzfichen und -dossiers.
  • 6 Das Gesetz wurde Ende September 2016 vom Parlament verabschiedet und wird nach Ablauf der Referendumsfrist voraussichtlich per 1. April 2017 in Kraft treten.
  • 7 Art. 8 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 BGA.
  • 8 Art. 2 Abs. 1 BGA.
  • 9 Art. 8, 21 und 25 DSG; siehe auch Maurer-Lambrou, Blechta (Hrsg.), Basler Kommentar, Datenschutzgesetz Öffentlichkeitsgesetz, 3. Auflage, 2014, S. 423.
  • 10 Art. 8 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 BGA; Art. 21 DSG wiederholt diese Vorgabe.
  • 11 Gemäss Art. 14 Abs. 2 BGA können abliefernde Stellen während der Schutzfrist nur Einsicht in von ihnen archivierte Personendaten nehmen, wenn sie diese als Beweismittel, für Gesetzgebung und Rechtsprechung, für die Auswertung zu statistischen Zwecken oder für einen Entscheid über die Gewährung, Beschränkung oder Verweigerung des Einsichts- oder Auskunftsrechtes der betroffenen Person benötigen.
  • 12 Art. 15 BGA. Das Auskunftsrecht verweist auf Art. 8 DSG.
  • 13 Unter Vorbehalt der nach Art. 11 Abs. 1 BGA geschützten besonders schützenswerten Personendaten.
  • 14 Art. 14 Abs. 2 BGA.
  • 15 Art. 25 Abs. 3 lit. a DSG; so zum Beispiel bei Fehlen einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage nach Art. 17 DSG.; in diesem Sinne auch BVGE 2015/13 E. 3.3.3, 3.4.2.
  • 16 Im Grundsatz gleicher Ansicht: Maurer-Lambrou, Blechta (Hrsg.), Basler Kommentar, Datenschutzgesetz Öffentlichkeitsgesetz, 3. Auflage, 2014, S. 474.
  • 17 Bundesbeschluss vom 9. Oktober 1992 über die Einsicht in Akten der Bundesanwaltschaft SR 172.213.54, aufgehoben per 1. März 2001; Für die Einsicht in Akten der Bundesanwaltschaft im Geltungsbereich des Bundesbeschlusses findet das Archivgesetz Anwendung. Die Unterlagen gemäss dem Bundesbeschluss bleiben nach Art. 26 Abs. 2 BGA für die Einsichtnahme durch die Verwaltung während 50 Jahren ab dem Datum des jüngsten Dokuments eines Geschäfts oder Dossiers gesperrt.
  • 18 Art. 11 Abs.1 BGA sieht eine verlängerte Schutzfrist von 50 Jahren bei Unterlagen die nach Personennamen erschlossen sind und besonders schützenswerte Personendaten enthalten vor. Nach Art. 12 BGA besteht bei überwiegenden öffentlichen oder privaten Interessen ausserdem die Möglichkeit einer verlängerten Schutzfrist (in der Regel 50 Jahre).
  • 19 Das Bundesarchiv bewertet die Archivwürdigkeit nach geltendem Recht immer gemeinsam mit der abliefernden Stelle. Es gilt aber das Prinzip «in dubio pro archivo». Vgl. Art. 7 Abs. 1 BGA, Art. 6 Abs. 2 VBGA, sowie Kellerhals, Maeder, «Das Bundesgesetz über die Archivierung: neue Chancen für die Zeitgeschichte», Schweizerische Zeitschrift für Geschichte (SZG) 2000, S. 191.
  • 20 Art. 11 Abs. 1 BGA und Art. 12 Abs. 3 VBGA verlangen, dass nach Personennamen erschlossene, besonders schützenswerte Personendaten 50 Jahre geschützt werden.
  • 21 Das BGÖ ist auf Archivgut mit Entstehungsdatum ab 1. Juli 2006 parallel zum BGA anwendbar.

Abstract

Die Informationsgesellschaft lebt davon, rasch auf grosse Mengen an verlässlichen Informationen zugreifen zu können. Archivgut muss Teil dieses Angebots sein. Das Bundesarchiv (BAR) steht daher vor der Aufgabe den digitalen Zugang zu Archivinformationen zeitgemäss umzusetzen. Dabei zeigt sich an den Schnittstellen der Archivierung und des Datenschutzes exemplarisch das Spannungsfeld zwischen Erinnern und Vergessen. Dem Gebot auf Erhalt von Information («Erinnern») steht das Löschgebot persönlicher Daten («Vergessen») gegenüber. Wie geht das BAR mit diesen widersprüchlichen Anforderungen – Erinnern vs. Vergessen – um und in welchem rechtlichen Rahmen bewegt es sich dabei? 

La société de l'information se fonde sur le principe de l’accès rapide à de grandes quantités d’informations fiables. Les archives doivent faire partie de cet offre. Pour cette raison les Archives fédérales suisses (AFS) sont confrontées avec la tâche d’offrir un accès numérique moderne et opportun aux informations archivées.
Ce faisant se montre à la jonction d’interface entre archivage et protection des données le champ de tension entre souvenir et oubli. À l’impératif de conserver des informations («se souvenir») s’oppose la nécessité d’effacer des données personnelles («oublier»). Comment gèrent les AFS ces demandes contradictoires entre souvenir et oubli, et quel est le cadre légal qu’il s’agit de respecter?