Wie, was, wo mit dem Document Delivery nach dem ETH-Prozess – wichtige Antworten aus der Praxis
Der sogenannte ETH-Fall hat die Bibliotheken stark verunsichert. Vergeblich: Bibliotheken dürfen weiterhin Document Delivery anbieten. Doch hat der Rechtsstreit gezeigt, dass die Verlage genau hinschauen, was die Bibliotheken machen. Es gilt einige rechtliche Punkte zu beachten, wenn Bibliotheken geschützte Werke für ihre Nutzer kopieren und versenden.
Was wollten die wissenschaftlichen Verlage mit dem Rechtsstreit gegen die ETH-Bibliothek erreichen?
Ziel der Verlage war das Verbieten des Vervielfältigens und Versendens von ganzen wissenschaftlichen Artikeln aus dem Bestand der ETH-Bibliothek, mit der Begründung, nach Gesetz sei nur das ausschnittsweise Vervielfältigen von Werken zulässig, und das Versenden sei gar nicht erlaubt. Die Verlage wollten im Weiteren die Bibliotheksnutzer verpflichten, sich ihre benötigten Kopien vor Ort in der Bibliothek selber zu machen oder sie vor Ort von der Bibliothek machen zu lassen. Im Gegenzug wollten die Verlage den Benutzern erlauben, eigenhändig auch vollständige Kopien von Werken herzustellen.
Verbietet das Bundesgericht nun den Bibliotheken das Document Delivery?
Nein, das Bundesgericht hat den Verlagen in keinem Punkt recht gegeben, und damit dürfen die Bibliotheken im Grundsatz wie bis anhin Artikel digital oder analog kopieren sowie per Post oder per E-Mail versenden.1
Die Bibliotheken dürfen also alle Werke kopieren?
So absolut stimmt das nicht! Die Bibliothek darf für ihre Nutzer Kopien herstellen2, aber nur auf konkreten, einzelnen Auftrag des Nutzers hin. Das heisst, die Bibliothek darf nicht auf Vorrat häufig gewünschte Titel kopieren, damit sie diese schnell und ohne grossen Aufwand versenden kann.
Im Weiteren darf die Bibliothek keine vollständige Kopie machen von einem noch im Handel erhältlichen Werkexemplar.3
Hier stellen sich verschiedene Fragen: Was heisst «unvollständig», was ist ein «Werkexemplar», und was bedeutet «nicht mehr im Handel»?
Die «unvollständige Kopie» wird im Gesetz nicht genauer definiert, nach Gerichtspraxis dürfen zwischen 75 und maximal 90 Prozent eines Werkes kopiert werden. Sinn und Zweck dieser Regelung ist, dass der reguläre Handel, also der Buch- oder Verlagshandel, durch das Kopieren nicht direkt konkurriert wird. Anders ausgedrückt: Kopieren darf das Kaufen des Werkes nicht ersetzen.
Wenn man demnach Werkexemplare nicht vollständig kopieren darf, ist es entscheidend, zu wissen, was denn genau ein Werkexemplar ist. Ist es das Buch, die Zeitungsausgabe oder der einzelne Aufsatz in einem Sammelwerk, ein einzelner Zeitungsartikel? Im ETH-Fall ging es genau um diese Frage. Nämlich, ob ein wissenschaftlicher Artikel aus einer Zeitschrift – insbesondere, wenn diese auch einzeln online erhältlich ist – als Werkexemplar gilt und nicht vollständig kopiert werden dürfte. Oder ob wie bis anhin nur die Zeitschrift als Ganzes das Werkexemplar ist und damit der einzelne Artikel vollständig kopiert werden kann. Hierzu hat das Bundesgericht klar und deutlich seine bisherige Haltung bestärkt: Mit «Werkexemplar» ist nicht der einzelne Artikel in der Zeitschrift oder Zeitung gemeint, sondern die ganze Zeitung oder die ganze Zeitschrift, so wie sie im Handel erhältlich ist.4 Damit dürfen weiterhin ganze Zeitungs- und Zeitschriftenartikel kopiert werden.
Eng mit der Definition des Werkexemplars hängt die Frage zusammen, was «nicht mehr im Handel erhältlich» heisst. Im vordigitalen Zeitalter hiess dies im Wesentlichen: nicht mehr im Buchhandel erhältlich. Heute ist die Sache nicht mehr so einfach, denn viele Werke sind auch, wieder oder sogar nur über das Internet erwerbbar, und in der Regel bleiben sie damit auch für immer erhältlich. Aber solange die wissenschaftlichen Verlage gedruckte oder digitale Zeitungen und Zeitschriften vertreiben, zählen diese als Verkaufseinheit und nicht der einzelne Artikel. Erst wenn sie Artikel ausschliesslich einzeln online anbieten, werden diese zur Verkaufseinheit, und dann dürfen diese Artikel auch nicht mehr vollständig kopiert werden.
Somit bleibt das Kopieren von vollständigen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, und auch von Aufsätzen aus Sammelbänden, auf einzelnen Auftrag des Bibliotheksnutzers hin, weiterhin zulässig.
Wie sieht es mit anderen Werken aus, z.B. Fotografien, Musiknoten, schweizerischen Landesarten?
Dazu hat sich das Bundesgericht im ETH-Fall nicht geäussert, und diese Werkarten werfen je eigene knifflige Fragen auf, die an dieser Stelle nur sehr rudimentär beantwortet werden können.
Bei Fotografien stellt sich meistens schon die Frage, ob sie im Einzelfall geschützten Werkcharakter geniessen und, wenn ja, ob sie veröffentlicht sind, also einem grösseren Kreis von Personen zugänglich gemacht wurden. Erst wenn sie veröffentlicht sind, können sie – allerdings nur unvollständig – kopiert werden.
Musiknoten sind ohne Zweifel geschützte Werke, die nach Gesetz nicht vervielfältigt werden dürfen.5 Diese strenge Regelung hat historische Gründe, da das Herstellen von Musiknoten speziell aufwendig war. Heute ist dieses absolute Verbot nicht mehr gerechtfertigt und auch nicht durchsetzbar. Daher ist für den Eigengebrauch6auch das Kopieren von Musiknoten durch die Bibliothek gemäss den Gemeinsamen Tarifen 8 und 97erlaubt, allerdings nur auszugsweise. Ausdrücklich nicht erlaubt ist das Kopieren von Musiknoten für die Nutzung ausserhalb des Eigengebrauchs, beispielsweise für einen Chor oder ein Orchester.
Die schweizerischen Landeskarten stellen einen aussergewöhnlichen Spezialfall dar. Auf ihnen liegt ein öffentlich-rechtliches Leistungsschutzrecht. Für die Vervielfältigung von schweizerischen Landeskarten, auch historischen, gilt das Urheberrechtsgesetz nur sinngemäss. Gewisse Nutzungen erfordern eine (kostenpflichtige) Einwilligung. Detaillierte Angaben dazu finden sich auf der Homepage des Bundesamts für Landestopografie Swisstopo8
Darf jedermann bei einer Bibliothek Kopien bestellen?
Nein. Grundsätzlich darf die Bibliothek nur für den sogenannt eigengebrauchsberechtigten Nutzer Kopien herstellen.2 Aber die Bibliotheken sind nicht verpflichtet, in jedem Fall zu überprüfen, ob der Benutzer auch tatsächlich unter diesen Eigengebrauch fällt.
Die Verlage wollten ja vor allem auch das Versenden der Kopien verbieten lassen. Darf man nun noch versenden, oder gibt es hier auch Einschränkungen wie zum Beispiel Versand nur per Post?
Das Bundesgericht hat auch diesbezüglich den klagenden Verlagen nicht recht gegeben. Das Versenden von Vervielfältigungen ist weiterhin erlaubt, und zwar per Post und per Mail.
Es gibt allerdings eine wichtige und für Bibliotheken unerfreuliche Einschränkung. Urheberrecht ist nationales Recht, mit der Konsequenz, dass die Bibliotheken keine Kopien ins Ausland versenden dürfen. Für das Versenden ins Ausland wäre die Einwilligung des Urhebers erforderlich, da die Verwertungsgesellschaften für die ins Ausland versendete Kopie keine Einwilligung erteilen und keine Vergütung einfordern können.
Und was darf nun der einzelne Nutzer am Kopiergerät in der Bibliothek?
Schon bisher war es so, dass der Bibliotheksnutzer auf den Kopiergeräten der Bibliothek Vervielfältigungen herstellen durfte, daran hat sich durch den Bundesgerichtsentscheid nichts geändert. Der Bibliotheksnutzer darf weiterhin für sich selber digitale oder analoge Vervielfältigungen auf den Kopiergeräten der Bibliothek herstellen, allerdings gilt auch hier die Einschränkung, dass er keine vollständigen Werke, also beispielsweise nicht ganze Lehrbücher, kopieren darf. Aber auch diesbezüglich haben die Bibliotheken keine Aufsichtspflicht. Empfehlenswert ist aber, auf den Kopiergeräten einen Hinweis auf das Urheberrechtsgesetz anzubringen.
Gilt dies alles sowohl für gedruckte Werke als auch für digitale Medien wie E-Journals aus dem Bestand der Bibliothek?
Ja und nein. Digitale Medien werden in der Regel lizenziert, d.h. für diese Medien werden vertragliche Nutzungsrechte eingeräumt, die in einem Lizenzvertrag festgehalten sind. Der Lizenzvertrag regelt, ob ein Werk vervielfältigt werden darf, in welchem Umfang und ob der Versand erlaubt ist. Nun kennt das Schweizerische Urheberrechtsgesetz teilweise zwingende gesetzliche Lizenzen, die im Prinzip durch Lizenzvertrag für ein Onlinemedium nicht geändert werden können. Insbesondere die Erlaubnis der Werknutzung für den Eigengebrauch9 ist eine zwingende Norm. Ob daher beispielsweise eine Einschränkung des Eigengebrauchs im Vertrag, vor allem auch bei internationalen Verträgen, entsprechend unbeachtet bleiben darf, ist jedoch umstritten.
Im Weiteren enthalten Lizenzverträge auch Regelungen, die im Gesetz nicht zwingend vorgeschrieben werden, beispielsweise die Zulässigkeit des «remote access» oder sie erlauben mehr als das Gesetz, beispielsweise die vollständige Kopie von Werken oder den Versand ins Ausland.
Solange die Frage nicht abschliessend geklärt ist, ob zwingende Normen des Urheberrechtsgesetzes den (internationalen) Lizenzvertragsbestimmungen vorgehen, empfiehlt sich die Beachtung auch jener Bestimmungen der Lizenzverträge, die gegen diese zwingenden Normen verstossen. Die übrigen Lizenzbestimmungen müssen in jedem Fall beachtet werden, ansonsten man Vertragsbruch begehen würde.
- 1 Urteil des Bundesgerichts 4A_295/2014 vom 28. November 2014.
- 2 Art. 19 Abs. 2 URG.
- 3 Art. 19 Abs. 3 lit. a URG.
- 4 BGE 133 III 473, E. 3.1. S. 478.
- 5 Art. 19 Abs. 3 lit. c URG.
- 6 Unter Eigengebrauch versteht das Gesetz einerseits die Privatperson, die ein geschütztes Werk für ihren persönlichen, privaten Gebrauch nutzt. Ebenfalls unter Eigengebrauch fällt die Nutzung im schulischen Bereich durch Lehrer, Professorinnen, Schüler, Studierende etc., die die Werke für den Unterricht im weitesten Sinn benötigen. Drittens fallen auch Betriebe jeglicher Art – kommerzielle oder nicht-kommerzielle – unter den Eigengebrauch, wenn sie Vervielfältigungen für ihre interne Information oder Dokumentation verwenden (Art. 19 Abs. 1 URG).
- 7 http://www.prolitteris.ch/de/portrait-prolitteris/aktuelle-tarife/aktuelle-tarife/
- 8 http://www.swisstopo.admin.ch/internet/swisstopo/de/home/swisstopo/legal_bases/ copyright.html.
- 9 Art. 19 URG.