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2015/2 Herausforderung Urheberrecht

Ein digitales Pflichtexemplarrecht? Der regionale Sammelauftrag bei elektronischen Publikationen

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Die Schweiz kennt auf nationaler Ebene keine Pflicht zur Abgabe von Werkexemplaren an Gedächtnisbibliotheken. Im Papierzeitalter kamen die Bibliotheken ihrem Sammelauftrag durch ein Dépôt Volonté oder aktives Beschaffen nach. Für digitale Publikationen reichen diese Massnahmen aber nicht aus. Nicht nur das Sammeln gestaltet sich schwierig, auch bei der Vermittlung stellen sich für die Bibliotheken zahlreiche Fragen.

1Publikationen in digitaler Form stellen die Schweizer Bibliotheken mit regionalem Sammelauftrag vor mehrere ungelöste Probleme:

  1. Die Verlage verkaufen nicht mehr Werkexemplare, sondern zeitlich beschränkte Lizenzen.
  2. Die Rechteinhaber können die langfristige Erhaltung ihrer Publikationen nicht gewährleisten.
  3. Elektronische Publikationen sind veränderlich und einfach zu veröffentlichen.
  4. Die Menge an Daten kann nur noch von grossen Bibliotheken bewältigt werden.

In den umliegenden Ländern werden diese Probleme mithilfe des Pflichtexemplarrechts und mit mehr Zusammenarbeit angegangen. 

Sammelauftrag beschränkt sich nicht auf Papier 

In der internationalen fachlichen Diskussion ist unbestritten, dass neben gedruckten auch die elektronischen Publikationen zum Sammelauftrag der Bibliotheken gehören und Teil des dokumentarischen Erbes eines Landes bilden. Für Bibliotheken mit Gedächtnisaufgaben, in der Regel die Kantonsbibliotheken und die Nationalbibliothek (im Folgenden Gedächtnisbibliotheken genannt) bedeutet das, dass sie die dauernde Aufbewahrung von und den langfristigen Zugang zu diesen Publikationen sicherstellen müssen. Die IFLA (International Federation of Library Associations) hat 2011 auf die Bedeutung des Pflichtexemplarrechts bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe hingewiesen. Ihre Stellungnahme bringt die Problematik auf den Punkt:

«Elektronische Veröffentlichungen sind ein grosser und wesentlicher Bestandteil des dokumentarischen Erbes einer Nation und müssen deshalb in einer Pflichtexemplarregelung berücksichtigt werden, darunter auch die von Internetnutzern erstellten und geteilten Inhalte. Digitale Technologien bieten Möglichkeiten, die Ablieferung von Pflichtexemplaren durch eine schnelle Übertragung zu vereinfachen und die komplexen Aufgaben der Katalogisierung, Indexierung und Aufzeichnung zu erleichtern und das abgelieferte Material damit zu verwalten und zugänglich zu machen. Weil das Internet jedoch allen Nutzern mehr Möglichkeiten bietet, Inhalte online zu veröffentlichen, kann bei diesen Veröffentlichungen möglicherweise keine Vollständigkeit gewährleistet werden. Stattdessen würde eine repräsentative Auswahl den Anforderungen genügen. Digitale Technologien wecken auch neue Bedenken bezüglich der unbefugten Änderung, Vervielfältigung und Verbreitung abgelieferter Materialien. Verlage und Bibliothekare müssen gemeinsam dafür Sorge tragen, dass die legitimen Bedürfnisse von Nutzern wie von Urheberrechtsinhabern abgelieferter Materialien in diesem sich entwickelnden Umfeld gewahrt werden.»IFLA-Stellungnahme zu Pflichtexemplaren vom 7. Dezember 2011, http://www.ifla.org/ files/assets/clm/publications/ifla_statement_legal_deposit_de.pdf (24.3.15) 

Schwierigkeiten beim Sammeln ...

Das Sammeln von elektronischen Werkexemplaren durch die Gedächtnisbibliotheken in der Schweiz ist aufgrund unübersichtlicher Vertriebskanäle ohne das Pflichtexemplarrecht oder ein ähnliches Instrument nicht in befriedigendem Ausmass möglich, und die infrastrukturellen Anforderungen zum Unterhalt einer Sammlung erfordern eine kritische Grösse, die nur durch enge Kooperation unter den Bibliotheken erreicht werden kann.

... und Fragen bei der Vermittlung

Bei der Vermittlung ist zu klären, was die Gedächtnisbibliotheken – allenfalls auch gegen Bezahlung – dürfen und was untersagt ist. Dabei muss ein fairer Ausgleich zwischen der Gesellschaft und den Inhabern der Urheberrechte stattfinden.

Instrumente, die dabei zum Einsatz kommen könnten, sind eine praxistaugliche Bibliotheksschranke, Ausnahmeregelungen bei den Schutzfristen, pauschale Abgeltungen für vergriffene Werke und Zeitungen, ein bibliothekstaugliches DRM oder örtliche Beschränkungen für die Vermittlung von elektronischen Informationen (walk-in user). 

In anderen Ländern seit Langem erprobt

In den meisten Staaten gibt das gesetzlich verankerte Pflichtexemplarrecht den Bibliotheken ein wirksames Instrument für das Sammeln von im Land erscheinenden Publikationen in die Hand. Es entfaltet auch eine symbolische Kraft, weil es den staatlichen Bibliotheken eine langfristige hoheitliche Aufgabe gibt. Das Pflichtexemplarrecht besteht in Frankreich seit 1537, in Deutschland (Bayern) seit 1663, in Grossbritannien seit 1662/1710, in Österreich seit 1808 und in Italien (Toscana) seit 1743.Wikipedia, «Pflichtexemplar», http:// de.wikipedia.org/wiki/Pflichtexemplar (25.3.15), «Dépôt Légal», http://fr.wikipedia.org/wiki/D%C3%A9p%C3%B4t_l%C3%A9gal, und «Legal Deposit», http://en.wikipedia.org/wiki/Legal_deposit (25.3.15) 

In den Vereinigten Staaten hat der Copyright Act von 1790 eine vergleichbare Wirkung. Die Library of Congress führt das Copyright-Register aufgrund der ihr eingesandten Exemplare.2 

Es liegt deshalb im Interesse jedes Verlags, seine Publikationen abzuliefern. Das Pflichtexemplarrecht wurde in den letzten Jahren praktisch überall auf elektronische Publikationen ausgedehnt.3 

Dépôt Volonté in der Schweiz

In der Schweiz gibt es nur drei Kantone, die über ein Pflichtexemplarrecht verfügen. Es ist wohl kein Zufall, dass sich alle drei in der Westschweiz befinden – es sind Genf (1539–1907 und seit 1967), Waadt (1745–1798 und seit 1938) und Fribourg (seit 1974). Im Kanton St. Gallen scheiterte die Einführung 2013 knapp im Kantonsrat.Cornel Dora, «Wiborada lächelt: Der Weg zum ersten modernen Bibliotheksgesetz der Schweiz im Kanton St.Gallen», in: Buch – Bibliothek – Region: Wolfgang Schmitz zum 65. Geburtstag, hrsg. von Christine Haug und Rolf Thiele, Wiesbaden 2014. 

Auf Bundesebene und in den meisten Kantonen existiert dagegen kein Pflichtexemplarrecht. Die Nationalbibliothek verfolgt zur Wahrnehmung ihres nationalen Sammelauftrags eine Politik des Dépôt Volonté. Viele Schweizer Verlage liefern ihre Publikationen aufgrund einer vertraglichen Abmachung freiwillig und kostenlos an die Nationalbibliothek. Die Kantonsbibliotheken sind nicht am Dépôt Volonté der Nationalbibliothek beteiligt. Die Publikationen werden in der Regel vom Bibliothekspersonal recherchiert und gekauft.

In der konkreten Arbeit der Gedächtnisbibliotheken spielen die Richtlinien für den regionalen Sammelauftrag eine Rolle, welche die Kantonsbibliotheken 2003 zusammen mit der Nationalbiblio- thek erarbeitet haben.Die Richtlinien wurden von der IG Studien- und Bildungsbibliotheken am 20. Juni 2003 beschlossen, publiziert in Stefan Mauruschat, Lucernensia an der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern: Evaluation, Konzept und Entwicklung einer Checkliste zum kantonalen Sammelauftrag, Diplomarbeit HTW Chur, 2005, S. 55–56, http://edoc.zhbluzern.ch/zhb/zhb_edoc_002_mauruschat.pdf (25.3.15) 

Für die elektronischen Publikationen genügen diese Richtlinien allerdings nicht mehr. Hier muss heute pragmatisch und mit Mut zur Lücke gesammelt werden, denn der Bereich ist unübersehbar geworden. 

Der Markt hat zudem neue Vertriebskanäle entstehen lassen, die an den Bibliotheken vorbeiführen.

Vor allem wegen des Fehlens des Pflichtexemplarrechts sind die Schweizer Bibliotheken bei der Wahrnehmung des regionalen Sammelauftrags im Vergleich mit den meisten Ländern schlechter gestellt. Es wäre sinnvoll, mindestens für elektronische Publikationen ein pragmatisch gestaltetes Pflichtexemplarrecht oder ein vergleichbares Instrument einzuführen.

FORDERUNG DER SCHWEIZER BIBLIOTHEKEN – DIE POSITION DES BIS 

Digitales Pflichtexemplar 

1. Die Nationalbibliothek und die Kantonsbibliotheken müssen von allen elektronischen Publikationen, welche auf ihrem Gebiet erscheinen, digitale Werkexemplare erhalten können. Dazu braucht es die Einführung des Pflichtexemplarrechts für elektronische Publikationen oder ein vergleichbares Instrument. Die entsprechenden gesetzlichen Regelungen gehören in den Bereich der Bibliotheks- und Kulturgesetze, nicht des Urheberrechtsgesetzes. 

2. Nationalbibliothek und Kantonsbibliotheken müssen die elektronischen Publikationen, die sie im öffentlichen Interesse sammeln, in einem gesetzlich sicheren Rahmen vermitteln können. Dabei müssen die Informationsfreiheit und das Recht zum Eigengebrauch geschützt werden. Um das zu erreichen, ist die Einführung einer Bibliotheksschranke im Urheberrechtsgesetz zu prüfen. Eine Lösung verlangen insbesondere die Fragen der vergriffenen Werke, der verwaisten Werke, der originär digitalen Publikationen, der Webseiten sowie der Zeitungen und Zeitschriften. 

REVENDICATIONS DES BIBLIOTHÈQUES SUISSES – PRISE DE POSITION DE LA BIS

Dépôt légal numériqu

1. La bibliothèque nationale et les bibliothèques cantonales doivent pouvoir obtenir un exemplaire de chaque publication numérique éditée sur leur territoire. Pour ce faire, il faut introduire le dépôt légal pour les publications numériques ou un instrument équivalent. Les dispositions légales correspondantes appartiennent au domaine des lois sur la culture et sur les bibliothèques et non pas au domaine du droit d’auteur.

2. La bibliothèque nationale et les bibliothèques cantonales doivent pouvoir communiquer les publications numériques qu’elles recueillent dans l’intérêt public, dans un cadre juridique sécurisé dans lequel le droit à l’information et le droit à l’usage privé sont préservés. Pour atteindre cet objectif, il faut envisager l’introduction d’une exception pour les bibliothèques dans le droit d’auteur. Des solutions doivent être trouvées, notamment pour les questions touchant les œuvres épuisées ou orphelines, les publications dites «born digital», les pages web, ainsi que celles touchant les journaux et revues. 

Dora Cornel 2 2015

Cornel Dora

Stiftsbibliothek St. Gallen

Abstract

La collecte de publications électroniques pose des problèmes considérables aux bibliothèques suisses. Le marché étant désordonné et les modèles de licenses variés, il est difficile de constituer une collection complète. Et quand on vient à la communication, les questions ouvertes se multiplient, notamment en ce qui concerne les délais. L’introduction d’un dépôt légal au niveau national et au niveau cantonal pourrait être importante pour la cohérence des collections. Afin d’entretenir ces collections digitales de façon optimale, il serait important que les bibliothèques travaillent en réseau et profitent de l’effet de synergie. Pour que les intérêts des ayants droit d’un côté et des bibliothèques et leurs clients de l’autre côté soient respectés, il pourrait s’avérer utile d’ancrer des dispositifs appropriés dans la Loi fédérale sur le droit d’auteur.