Das Projekt «Spitalfilme» – Universitätsarchiv Zürich
Dem Universitätsarchiv Zürich (UAZ) wurde 2011 von den universitätseigenen «Multimedia- & E-Learning Services» (MELS) ein Bestand von 919 Videofilmen auf Kassetten im Format D-3 zur Übernahme angeboten. Dabei handelte es sich zum grössten Teil um Dokumentationen sowie um Lehr- und Informationsfilme aus dem Bereich der Medizin, produziert von einer Vorgängerin von MELS, der bis 2004 existierenden Abteilung «Television Universität Zürich» (TV-Uni).
Neben ihrer grundsätzlichen wissenschafts- und mediengeschichtlichen Bedeutung wurden diese an, für und von der Universität produzierten Videofilme auch als grundsätzlich geeignet dafür angesehen, die im UAZ bis lang nur ungenügend abgebildeten universitären Kernfunktionen Forschung und Lehre zu dokumentieren1.
Da das Angebot von MELS die Kapazitäten des UAZ deutlich überstieg, wurde ein Projekt mit verschiedenen Varianten ausgearbeitet und ein Finanzierungsantrag an die Universitätsleitung gestellt. Bewilligt wurde das Projekt in einer Variante, welche die Digitalisierung einer Auswahl von rund einem Viertel der angebotenen «Spitalfilme» bei Kassation der Originalkassetten vorsah2. Eingeplant war dabei eine wissenschaftliche Projektstelle für eine nach formalen und inhaltlichen Kriterien zu treffende Auswahl. Aus diziplinspezifischen Gründen wurde für das Projekt zudem eine Kooperation mit dem Medizinhistorischen Institut der Universität Zürich (MHIZ) angestrengt.
Wenn im Zusammenhang mit AV-Medien von Überlieferungsbildung die Rede ist, wird in erster Linie von Erhaltung, aber kaum von Kassation gesprochen. Daher möchten wir im Folgen den die Überlegungen zur archivischen Bewertung darlegen, von denen wir uns im Fall der «Spitalfilme» leiten liessen. In diesem Zusammenhang soll auch etwas näher auf die Entstehungszusammenhänge der angebotenen Gebrauchsfilme eingegangen werden. Unter dieser filmwissenschaftlichen Kategorie werden verschiedene filmische Formen zusammengefasst, die sich nicht primär über inhaltliche oder ästhetische Merkmale definieren, sondern über die Modalitäten ihrer Verwendung. In diesem Sinn wurden die von uns zu bewertenden filmischen Artefakte weniger als autonome Quellen, denn als materielle Überreste einer performativen Praxis verstanden3. Eine solche Betrachtungsweise entspricht auch weitgehend dem grundsätzlich prozessorientierten Charakter einer hauptsächlich auf Behörden schriftgut ausgerichteten Archivpraxis.
Die archivische Bewertung audiovisuellen Überlieferungsguts
Am Anfang jeder Diskussion um archivische Bewertung steht die Erkenntnis, dass historische Überlieferung nicht anders als Prozess der Selektion zu verstehen ist, Bewertung damit Mittel einer zwingend notwendigen Gedächtnisökonomie. Die entsprechenden Theorien entstanden als Reaktion auf die durch moderne Verwaltungstätigkeit bedingte Flut behördlichen Schrifttums in den Archiven. Zu nennen wäre hier insbesondere Theodore R. Schellenberg mit seiner grundlegenden Unterscheidung zwischen Informations und Evidenzwert4. Während sich die Diskussion um die Bewertung von Verwaltungsschriftgut auf eine reiche Fachliteratur stützen kann, ist die Kassationsproblematik bei der Diskussion um die audiovisuelle Überlieferung bisher kaum Thema. Dies womöglich auch deswegen, da im Bereich des audiovisuellen Kulturguts weitgehend museal oder bibliothekarisch orientierte Überlieferungstraditionen dominieren, während die entsprechenden Dokumente umgekehrt in den Archiven – deren primäre Aufgabe das Bewahren von gewesenem Registraturgut und nicht das dokumentarische Sammeln ist – oft nur eine Nebenrolle spielen5. Einen gelungenen Versuch, eine schriftgutbezogene Bewertungstheorie in Nachfolge Schellenbergs auf den Spezialfall audiovisuellen Überlieferungsguts anzuwenden, stellen Peter Wiegands methodischtheoretische Überlegungen zum Problem des «archivischen Fotos» dar6. Wiegand zufolge haben auch bei einer primär provenienzorientierten Bewertunginhalts bezogene Kriterien durchaus ihre Berechtigung. Vorauszugehen habe der Bewertung von Inhalten aber immer eine genaue Analyse der Entstehungs und Überlieferungszusammenhänge. Auch wenn der Film als zeitbasiertes Medium grundlegend andere Eigenschaften besitzt als die Fotografie, sind wir der Ansicht, dass diese Prinzipien auch für den vorliegenden Fall einer Provenienzüberlieferung wissenschaftlicher Gebrauchsfilme Gültigkeit beanspruchen können.
Zur Geschichte medizinischer Bildgebungsverfahren
Zum Entstehungskontext im weiteren Sinn ist auch die Geschichte bildgeben der Verfahren in der Medizin zu zählen, in deren Tradition die angebotenen Videofilme als Typus stehen. Als Forschungs wie auch als Lehrmedium kommt dem Film in der Medizin eine ausserordentliche Bedeutung zu. Wie vorher bereits die Fotografie wurde auch der Film hier nicht nur als dokumentarisches Mittel eingesetzt, sondern wurde «integraler Teil der Experimentalanordnung»7. Die Technik des Films ermöglichte, «das Unsichtbare sichtbar zu machen»8 bzw. dieses Bild festzuhalten und beliebig oft zu reproduzieren (etwa Zeitlupe und Zeitraffer, Röntgenfilme, Ultraschall, videogestützte Endoskopie, Computertomographie, Magnetresonanztomographie). Film diente aber nicht nur der Forschungspraxis, sondern war auch «ein wirksames Mittel der Distribution wissenschaftlicher Erkenntnisse». Letzteres war ein besonders gewichtiges Argument für den Einsatz des Films in der Lehre9. So wurde an der Universität Zürich bereits 1928 die Einrichtung einer «kinematografischen Zentralstelle» für die medizinischen Fächer diskutiert. Doch Filmmaterial war teuer und die Produktion aufwendig, entsprechende Filme wurden im Rahme von Forschung und Lehre an der Universität Zürich höchstens punktuell produziert. Dies änderte sich erst mit der Möglichkeit zur elektromagnetischen Aufzeichnung von Tonbildern mittels Videotechnik.
Die Abteilung «Television Universität» und der medizinische Gebrauchsfilm
Die Fernsehtechnik war anfangs eine reine Übertragungstechnik. Als solche wurde sie an der Universität Zürich Anfang der 1960erJahre erstmals ein gesetzt, um einer massiv gestiegenen Zahl von Studierenden das Zusehen bei chemischen Experimenten und chirurgischen Eingriffen zu ermöglichen. 1969 beschloss der Regierungsrat des Kantons Zürich einen schrittweisen Ausbau der «Television» an der Universität und insbesondere am damaligen Kantonsspital (dem heutigen Universitätsspital). Davon versprach er sich nicht nur «einen Beitrag zur Lösung von Raumproblemen»10, sondern auch «grosse Möglichkeiten zur Verbesserung des Unterrichts an sich»8. In diesem Zusammenhang wurde 1970 eine eigenständige Abteilung «Television Universität» geschaffen. Bald wurde neben der elektronischen Übertragung auch die Speicherung dieser Bilder Thema. Nach einer längeren Experimentierphase einigte man sich 1976 hochschulübergreifend auf einen gemeinsamen Aufzeichnungsstandard. Für Master bzw. Archivkopien wählte man 1-Zoll-Spulenband, für Gebrauchskopien das Kassettenform U-Matic. Für die hauptsächlich technisch ausgerichtete Abteilung nahm daraufhin die Mithilfe bei institutsinternen AV-Produktionen einen zunehmend wichtigen Stellenwert ein. Die entsprechen den Angebote wurden sukzessive ausgebaut. 1993 wurde die Aufnahmetechnik der TV-Uni im grossen Massstab modernisiert. An die Stelle der bisher verwendeten 1-Zoll-Bandgeräte trat das damals von Panasonic vermarktete System D-3. Im Zuge dieser Umstellung wurde ein Teil der früher entstandenen Produktionen von ihrem ursprünglichen Träger auf das neue Format kopiert, der Rest offenbar entsorgt.
Bewertungskriterien und Vorgehen
Mit der Systemumstellung wurde 1993 auch damit begonnen, zu den Produktionen jeweils ausführliche Metadaten zu erfassen. Bei der Übernahme der «Spitalfilme» lag diese dem Universitätsarchiv in Form einer Excel-Liste vor. Enthalten waren darin auch Angaben zu den älteren Filmen, sofern sie überspielt worden waren. Mithilfe dieser mit überlieferten Informationen konnte der Bestand vorab analysiert werden und mithilfe des Dokumentationsprofils des UAZ eine grobe Bewertungsstrategie entwickelt werden. Dabei wurden Fremdproduktionen, Materialsammlungen, Dubletten sowie verschiedene Versionen ein und derselben Produktion als generell nicht archivwürdig ein gestuft. Nicht übernommen wurden auch die von der Uni-TV mitproduzierten AV-Dissertationen von Studierenden, da diese durch die Zentralbibliothek Zürich aufbewahrt werden.
Von Produktionsseite waren die Filme in fünf Kategorien eingeteilt: «LEHR», «INFO», «DOKU», «KONGR» und «DISS». Beim Sichten des Materials wurde deutlich, dass die Informations dichte bei Info und Lehrfilmen generell deutlich höher ist als bei den Dokumentationen. Bei diesen handelt es sich meistens um unkommentierte Aufzeichnungen medizinischer Eingriffe. In den Lehrfilmen wird medizinische Praxis hingegen meist mittels narrativer Strukturen dargestellt und damit auch in einen bestimmten kulturellen Kontext gestellt. Aufgrund solcher Überlegungen musste die mengenmässig vorherrschende Kategorie «DOKU» bei der Bewertung gegenüber «LEHR» und «INFO» zurücktreten. In Kooperation mit dem MHIZ wurde des Weiteren beschlossen, aus jedem der vertretenen Fachbereiche mindestens eine Produktion zu übernehmen. Bei der Gewichtung der Produktionen innerhalb dieses Bewertungsrasters wurde in erster Linie die Informationsdichte berücksichtigt. Ein weiteres Auswahlkriterium war das Alter der Produktion. Die so gewonnene Auswahl wurde angereichert durch einzelne Filme, welche über ihren Inhalt die Tätigkeit der produzierenden Abteilung zu dokumentieren vermögen. Das gewählte Verfahren stellt also eine deutliche Verzerrung eines rein statistischen Samples dar. Gleichwohl wurde über die Auswahl von sowohl Typischem wie auch Besonderen versucht, ein modellgerechtes Abbild des ursprünglichen Bestands zu erhalten und auf diese Weise ein Maximum an Information weitgehend interpretationsoffen bewahren zu können.
Von den 919 angebotenen Videofilmen wurde eine Auswahl von 206 übernommen. Die Auswahl wurde extern digitalisiert und im UAZ in einem dem OAIS-Modell entsprechenden System zur digitalen Langzeitarchivierung eingelagert. Die entsprechenden Metadaten wurden in die Archivdatenbank übertragen. Damit ist der Bestand erschlossen und im Rahmen der geltenden Archivgesetzgebung der Forschung und der interessierter Öffentlichkeit zugänglich.
- 1 Vgl. Bolliger, S., «Was muss von der Universität Zürich überliefert werden?», Coutaz, G./ Knoch-Mund, G./Toebak, P., Informationswissenschaft: Theorie, Methode und Praxis, Baden 2012, S. 23–43.
- 2 Hinter dem Entscheid zur Ersatzdigitalisierung stand die Erkenntnis, dass es sich bei D-3 um ein akut von Obsoleszenz bedrohtes, ausgesprochen exotisches Videoformat handelt. Um in der Lage zu sein, einen dauernden Zugriff auf die Filme zu ermöglichen, hätte das UAZ ein entsprechendes Abspielgerät langfristig miterhalten müssen. Dies schien nicht praktikabel.
- 3 Vgl. Zimmermann, Y., «Zur (Un-)Produktivität epistemischer Bilder als Quellen der Filmgeschichtsschreibung», in: Rickli, H. (Hg.), Videogramme: Die Bildwelten biologischer Experimentalsysteme als Kunst- und Theorieobjekt, Zürich 2011,S. 130–135.
- 4 Während mit dem auf Inhalte zielenden Informationswert der sachliche Informationsgehalt beschrieben wird, zielt der Evidenzwert auf den Aussagewert von Unterlagen über die Organisationsstruktur und Funktionsweise des jeweiligen Aktenbildners. Mithilfe dieser beiden grundlegenden Analysekategorien soll eine systematische Feststellung der Archivwürdigkeit von Überlieferungsgut ermöglicht werden. Die beiden Werte sind dabei komplementär zu verstehen, sie schliessen sich weder gegenseitig aus noch kommen sie isoliert vor. Vgl. Schellenberg, T. R., Die Bewertung modernen Verwaltungsschriftguts (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 17), Marburg 1990.
- 5 Eine Sonderrolle kommt den Archiven von Rundfunk- und Fernsehanstalten zu, auf die hier leider aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden kann.
- 6 Wiegand, P., «Das ‹archivische Foto› – Überlegungen zu seiner Bewertung», Rundbrief Fotografie, Heft 1 (2004), S. 19–24.
- 7 Ritzmann, I. / Schmutz, H.-K. / Wolff, E., «Film und Wissenschaft: Übergänge, Zusammenhänge und Parallelitäten. Eine Einführung», Gesnerus, Heft 1 (2009), S. 7–14, S. 9.
- 8 Ebd.
- 9 Tanner, J., «Populäre Wissenschaft: Metamorphosen des Wissens im Medium Film», Gesnerus, Heft 1 (2009), S. 15–39, S. 18.
- 10 Auszug aus dem Protokoll des Regierungsrats vom 30.10.1969, StAZH Z 70.2775.
Abstract
- Français
L’offre de reprendre 919 films vidéo consacrés à l’enseignement et à la recherche en médecine de l’Université a placé les Archives de l’Université de Zurich devant la tâche ardue de valoriser ces documents produits par et pour la haute école, et de réduire leur nombre d’un quart. La sélection a comporté trois phases: 1) analyse des conditions de production et de transmission, 2) des métadonnées fournies par les producteurs et 3) pondération des différentes productions du point de vue de la forme et du contenu. Les responsables de ce projet ont également essayé de conserver une image conforme au modèle défini en procédant à une sélection ciblée des documents typiques aussi bien que particuliers. (traduction: sg)