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2014/4 FH-Bibliotheken – eine dynamische Entwicklung!

Der dritte Ort im zweiten Ort: Die Rolle der Fachhochschulbibliotheken

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Wissenschaftliche Bibliotheken in Europa waren bis zum letzten Viertel des 20. Jahrhunderts primär Orte, wo die Benutzer lernten, Informationen abholten, verarbeiteten und zum kleineren Teil sich untereinander austauschten (Historisch gesehen war dies nicht immer so: Bibliotheken der Antike und der Aufklärung waren in stärkerem Masse auch Orte des Austausches). Schweigezonen dominierten. Bibliotheken waren Arbeitsorte – mit Betonung auf individuellem Arbeiten, denn die Möblierung bot fast ausschliesslich Einzelarbeitsplätze, meist an eintönigen Tischreihen. Die innere Gliederung war streng funktional getrennt in Katalogräume, Lesesäle, Sondersammlungen und Magazine. Die Interaktion unter den Benutzern war nicht vorgesehen. Der Austausch fand in marginalen Zonen statt, etwa im Entrée oder auf den Fluren. Erholungszonen mit Mobiliar, das auch einen entspannten Aufenthalt ermöglicht hätte, fehlten. Erst vor gut 30 Jahren begannen wissenschaftliche Bibliotheken in der Schweiz kleine Cafeterien, Bistros oder wenigstens Getränkeautomaten mit einigen Tischen zur Verfügung zu stellen.

Vom Arbeitsort...

Die Bibliotheken holten damit einen Trend nach, der seit den 1970er Jahren feststellbar ist: Das Bedürfnis nach einem «Dritten Ort»; Lokalitäten der Begegnung und des Konsums zwischen dem ersten Ort, dem Zuhause und dem zweiten Ort, der Arbeitsstätte oder Schule. Einkaufszentren wurden dritte Orte par excellence. Dieser Wunsch ist namentlich zu sehen vor einer Individualisierung, die zu einem hohen Anteil an Einpersonenhaushalten führte. Sie machen heute in grösseren Städten annähernd die Hälfte der Wohnungen aus1.

... zum Dritten Ort2

Der amerikanische Soziologe Ray Oldenburg hat den Begriff des «Dritten Orts» geprägt, der sich durch folgende Charakteristika auszeichnet:

– Ein neutraler Ort, wo man kommen und gehen kann. Niemand spielt Gastgeber, alle fühlen sich zu Hause und wohl.

– Der Ort ist leicht zugänglich und einladend. Man geht auch gerne allein hin.

– Er wirkt von aussen einladend und hat ein niedriges (Zugangs-) Profil. 

– Er ermöglicht ein informelles Zusammenkommen. 

– Die Besucher finden sich regelmässig ein. 

– Die Institution wirkt ausgleichend auf Unterschiede zwischen Menschen. Keine Mitgliedschaft, nicht exklusiv. 

– Die hauptsächliche Aktivität ist das Gespräch, die Unterhaltung; die Atmosphäre ist spielerisch. 

– Die Institution vermittelt das Gefühl von «home-away-from-home», eines zweiten Zuhauses. 

– Sie trägt zur lebendigen Gemeinschaft bei und fördert das Gefühl der Zugehörigkeit. 

– Die Menschen können «sich selbst sein»3.

Die öffentlichen Bibliotheken – vor allem der angelsächsischen Länder – haben früher als die wissenschaftlichen erkannt, dass sie die Rolle eines Dritten Orts spielen können und – angesichts der rückläufigen Ausleihzahlen – müssen. Ein markantes Beispiel dafür ist die Openbare Bibliothek von Amsterdam mit jährlich 1.8 Mio. Besuchern4.

Doch auch die wissenschaftlichen Bibliotheken müssen sich dem Konzept annähern angesichts neuer kollaborativer Lernformen und den Wünsche der Benutzer nach Konsumation, Entspannung, Freiheit und Vielfalt bei der Arbeitsplatzgestaltung. Daneben haben auch sie am Rande Aufgaben für die Freizeitgestaltung, z. B. in Form eines Angebots an Belletristik oder von Einstiegsliteratur in alle Wissensgebiete. Vor allem Campusuniversitäten sind heute auch Lebensorte auf Zeit. Dies gilt noch vermehrt nach der Bologna-Reform mit ihrer hohen Zahl an Unterrichtsstunden. «Die meisten Studierenden trennen mindestens konzeptionell Lernen und Erholung klar. Häufig findet aber beides – physisch auf dem Campus und virtuell via Computer – an den gleichen Orten statt.»5 Diese Bedürfnisse vorbildlich aufgenommen hat das Rolex Learning Center in Lausanne, das seinen Nutzern in Bezug auf Zonen, Sitzgelegenheiten, Mediennutzung und Interaktion grösstmögliche Freiheit lässt und mit Restaurants, Buchhandlung, Bank, Karriere-Zentrum u.a.m. Funktionen bietet, die zum längeren Verweilen einladen.

Fachhochschulbibliotheken in der Schweiz als Dritter Ort 6

Werfen wir einen Blick auf die vergleichsweise jungen Fachhochschulbibliotheken (FHS-Bibliotheken) der Schweiz, so stellen wir fest, dass das wohl wichtigste Grundlagendokument der Rektorenkonferenz nur Aufgaben auflistet, die sich unmittelbar auf die Nutzung der Bibliothek im Dienste von Lehre und Forschung beziehen, auch wenn das «Angebot eines optimalen Lernorts mit guter Infrastruktur» gefordert und eine Berücksichtigung der Bedürfnisse der Benutzer «im weitesten Sinne» erwähnt wird7. Zimmer hält denn auch fest: «Thematisch ist der Bestand der Fachhochschulbibliotheken in der Regel auf diejenigen Fachgebiete fokussiert, die an der jeweiligen Hochschulen vertreten sind. Andere Themen sind, abgesehen vielleicht von Nachschlage- und Einführungswerken, nur schwach vertreten.»8

Soll die FHS-Bibliothek über den Lernort im engeren Sinne hinaus9auch soziale Funktionen in der Art des Dritten Orts übernehmen, so muss sie mindestens die folgenden Ansprüche erfüllen:

  1. Zentrale Lage innerhalb des Campus: gut sichtbar, einsehbar und leicht zugänglich.
  2. Ein Raumangebot, das durch die entsprechende Zonierung einen gewissen Lärmpegel zulässt. Vorhanden ist bequemes Einzel- und Gruppenmobiliar, das sich von der formelleren Einrichtung der Bibliothek abhebt. Die Mobiliarteile sollen leicht und flexibel sein und das spontane Gruppieren nach den jeweiligen Bedürfnissen ermöglichen. Grosse Bildschirme erlauben den Medienkonsum auch zu zweit oder in Gruppen.
  3. Ein Medienangebot, das der Allgemeinbildung, Freizeitgestaltung und Entspannung dient. Vorbildlich wird dies z. B. an der Bibliothek der Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur gepflegt: Ein kleines Zeitungs- und Zeitschriftenangebot, Klassiker und belletristische Neuerscheinungen in den Sprachen deutsch, italienisch, französisch, spanisch und englisch. Als Nonbooks stehen Dokumentar-, Musik- und Spielfilme (mit Schwerpunkt Literaturverfilmungen) sowie TV-Serien in den gleichen Fremdsprachen zur Verfügung – bewusst ohne Übersetzungen und Untertitel, um den Sprachunterricht der Fachhochschule zu unterstützen und um den ausländischen Studierenden entgegenzukommen10
  4.  Die Bibliothek ist ein Veranstaltungsort. Dazu gehören z. B. Filmabende, Vorträge oder Autorenlesungen. Diese Anlässe stehen auch dem externen Publikum offen. Veranstaltungen mit kulturellem Charakter sind aber auch unter der Regie von Studierenden möglich. Noch sind bei den Schweizer FHS-Bibliotheken nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft – selbst für die Angehörigen des jeweiligen Campus. Auch die Öffnung hin zu einem größeren Publikum ist erst in Ansätzen gelungen11.     

Literatur

  • Barth, Robert (2014). Die Bibliothek als Dritter Ort. In: biblioBE.CH. 19. 2. 2014. http://www.bibliobe.ch/de/Fachbeitrage/Die-Bibliothek-als-Ort/Die-Bibliothek-als-Dritter-Ort.aspx [1.10.2014]
  • Buschman, John E.; Leckie, Gloria J. (2007). The library as a place. History, community and culture. Westport.
  • Herrlich, Bernhard (2014). Lernumgebung Hochschulbibliothek. Beitrag, Selbstverständnis sowie Ausdruck im Design. In: Skerlak, Tina; Kaufmann, Helen; Bachmann, Gudrun (Hg.). Lernumgebungen an der Hochschule. Auf dem Weg zum Campus von morgen. Münster. S. 129-157. http://www.waxmann.com/fileadmin/media/zusatztexte/3056Volltext.pdf [1.10.2014]
  • Lernumgebungen an der Hochschule (2014). Auf dem Weg zum Campus von morgen [Poster]. Basel. https://itsi.ltn.unibas. ch/wp-content/uploads/2014/04/ITSI_ Poster_online.pdf [1.10.2014]
  • Oldenburg, Ray (1989). The Great Good Place: Cafes, Coffee Shops, Community Centers, Beauty Parlors, General Stores, Bars, Hangouts, and How They Get You Through the Day. New York.
  • Rektorenkonferenz der Fachhochschulen der Schweiz (2009). Grundlagenpapier Bibliotheken an Fachhochschulen. Best Practice KFH. Bern. http://www.kfh.ch/uploads/dkfh/doku/090925D.pdf [1.10.2014]
  • Martel, Marie D. (2012). La bibliothèque tiers-lieu. De la sphère publique au living lab. In: Bibliothèque(s), Nr. 65/66, p. 14-18.
  • Zimmer, David (2014). Viel benutzt, aber kaum sichtbar: die Bibliotheken der Schweizer Fachhochschulen. (Masterarbeit Weiterbildungsprogramm in Archiv- Bibliotheks- und Informationswissenschaft). Bern und Lausanne.
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Robert Barth

em. Prof. für Bibliothekswissenschaft HTW Chur

  • 1 http://www2.lustat.ch/freiCss/index/indikatoren/urbanaudit/indi_urban_bev_ein-personenhaushalte.htm.
  • 2 Eine kurze Einführung dazu bei: Barth, Robert (2014).
  • 3 Oldenburg, Ray (1989); Buschmann, John/ Leckie, Gloria (2007), 137f; Martel, Marie (2012), 14.
  • 4 http://modelprogrammer.kulturstyrelsen/cases-for-inspiration/case-openbare-bibliotheek-amsterdam-centrale-bibliothe-ek/#.VC58THw6nq4.
  • 5 Lernumgebungen für Lernwanderer (2014).
  • 6 Ich danke Cristina Carlino (Hochschule für Technik und Wirtschaft, Chur), Wolfgang Wahl (KV ZÜRICH BUSINESS SCHOOL) und David Zimmer (Berner Fachhochschule) für mündliche Auskünfte.
  • 7 Rektorenkonferenz der Fachhochschulen der Schweiz (2009), 5.
  • 8 Zimmer, David (2014), 22, 34.
  • 9 Diese Funktion mit Einzel- und Gruppenarbeitsplätzen und entsprechender technischer Ausstattung wird als selbstverständlich vorausgesetzt.
  • 10 Einen Schritt weiter geht die Bibliothek der KV ZÜRICH BUSINESS SCHOOL – keine FHS- Bibliothek zwar aber mit vorbildlicher Ausstattung und entsprechendem Medienangebot: sie bietet auch Spiele an Playstations, verfügt über Grossbildschirme zur Gruppennutzung, verleiht Laptops.
  • 11 Eine Ausnahme ist die im Universitätsquartier gelegene Berner FHS-Bibliothek für Soziale Arbeit, die mehr externe als interne Nutzer hat. (Zimmer, David (2014), 36).

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Les bibliothèques scientifiques en Europe étaient, jusqu’au dernier quart du 20e siècle, d’abord des lieux où les usagers apprenaient, venaient chercher des informations, les traitaient et, dans une moindre mesure, échangeaient entre eux. Les bibliothèques suivaient ainsi une tendance perceptible depuis les années 70, à savoir: le besoin d’un «troisième lieu», un lieu de rencontre et de consommation aménagé entre le premier lieu (le domicile) et le deuxième lieu (le travail ou l’école). Les bibliothèques publiques sont plus proches de l’idée du troisième lieu que les bibliothèques scientifiques, étant donné qu’elles se voient également attribuer des tâches relevant du divertissement et des loisirs.

La bibliothèque HES doit au moins remplir les exigences suivantes: 

  1. une situation centrale sur le campus: bien visible et facile d’accès. 
  2. un espace disponible, réparti de telle sorte qu’il permet un certain seuil de bruit. 
  3. une offre de médias, qui sert à la formation générale, aux loisirs et à la détente. 
  4. la bibliothèque est un lieu de manifestations ouvertes au grand public.