Kommentare Abstract
2013/3 Reden wir vom jungen Publikum!

«Sehr geehrter Herr Sauerländer...»

Kommentare Abstract

«... Ich lege noch einen zweiten – mehr privaten Brief bei, da ich noch über eine andere Angelegenheit mit Ihnen sprechen möchte (...) Mein Mann hat ein sehr reizvolles und gutgelungenes Jugend- buch fertig, an dem ich so völlig unbeteiligt bin, dass ich es keinesfalls unter meinen Namen nehmen kann und will. Es ist wiederum sehr umfangreich, zirka 500 Manuskriptseiten. Der Spielplatz ist die Adria, Jugoslawien, Kroatien. Zeitdauer drei Wochen. 1. Mittelpunkt eine Bande elternloser, verwahrloster, verstrolchter Kinder. 2.Mittelpunkt ein Mädchen. Titel, wahrscheinlich Die rote Zora und ihre Bande. (...)

Das ganze ist sehr farbig, lebendig, gar nicht ‹gruslig› oder ‹brutal›. Ich habe es soeben mit dem grössten Vergnügen gelesen und verspreche mir einen grossen Erfolg – auch früher oder später – filmisch davon. Mein Mann vertritt ja die These zurück zu den erlebnisreichen, langen, episch breiten Jugendbüchern. Weg von der leichten, fixen Kästner-Art. Also Stil Mark Twain, Dickens, Lederstrumpf usw. Es ist ein Buch für 12–16jährige und weiter hinauf. In zirka 14 Tagen ist es verlagsfertig.»

So Lisa Tetzner am 17. Oktober 1940 in einem Brief an ihren Aargauer Verleger Hans-Remigius Sauerländer.

Noch im selben Jahr erschienen bei Sauerländer die beiden Jugendbuchklassiker Die rote Zora und ihre Bande (Kurt Held) und Die schwarzen Brüder (Lisa Tetzner, Kurt Held). Wie harzig der Verkauf der «Zora» anlief, von dem allein bei Sauerländer bis heute 36 Auflagen erschienen sind und wie nach und nach Tausende von Zora-Quartetten und Zora-Puzzles verkauft wurden, lässt sich detailliert im Sauerländer-Verlagsarchiv nachverfolgen.

Das Verlagshaus Sauerländer besass ein bis auf die Zeit der Firmengründung zurückreichendes Firmen- und Familienarchiv sowie ein Bucharchiv mit allen verlegten Titeln ab ca. 1830. 2007, genau 200 Jahre später, übergab die Verlegerfamilie Sauerländer das Bucharchiv der Aargauer Kantonsbibliothek und das Firmen- und Familienarchiv dem Staatsarchiv des Kantons Aargau. Geschäftsunterlagen, Briefwechsel mit Autorinnen und Autoren, Dokumente der Familien- und Lokalgeschichte, Buch- und Zeitschriftensammlung machen das Sauerländer- Archiv einzigartig. Beide Archive stehen für Studien- und Forschungszwecke zur Verfügung. Um auch das breite Publikum anzusprechen und diesen einmaligen Kulturschatz Schweizweit bekannt zu machen, konzipierten die Aargauer Kantonsbibliothek und das Staatsarchiv in einem gemeinsamen Projekt die Website Sauerländer entdeckenwww.sauerlaender200.ch (zuletzt aufgerufen am 28.06.2013).. Interaktive Elemente ermöglichen eine Verknüpfung von Verlagspublikationen und ausgewählten Dokumenten des Firmen-/Verlagsarchivs. Der themenbezogene Zugang bietet z.B. einen unmittelbaren Zugang zum Jugendbuch Die rote Zora, aber auch zur Entstehung und zur Beziehung ihres Autors zum Verlag.

Die Geschichte des Sauerländer Verlags und seines Jugendbuchprogrammes fällt in eine Zeit tiefgreifender politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Umbrüche in der Schweiz.

1803 zog der ursprünglich aus Frankfurt stammende Buchhändler, Drucker und Verleger Heinrich Remigius Sauerländer von Basel nach Aarau und gründete hier eine Buchhandlung mit Druckerei und Verlag. Der Umzug erfolgte u.a. auf Betreiben von Heinrich Zschokke, Staatsmann und Volksaufklärer, zu seiner Zeit ein über die Grenzen hinaus bekannter Bestsellerautor.

Erste Zielsetzung des 1807 in Aarau gegründeten Sauerländer-Verlags war die «Volkserziehung», die ganz im Geist der Aufklärung und der französischen Revolution gleichgesetzt wurde mit «Volksbefreiung». Die einzelnen Gebiete, welche heute den 1803 gegründeten Kanton Aargau bilden, waren zuvor Untertanengebiete von Bern und Zürich.

Der Name Sauerländer und sein erstes Verlagsprogramm sind deshalb untrennbar verbunden mit der volksauf- klärerischen Bildungsbewegung des frühen 19. Jahrhunderts.

Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang vor allem Der Aufrichtige und wohlerfahrene Schweizerbote, ein volksaufklärerisches Wochenblatt, das bald im gesamten deutschsprachigen Raum von sich reden machte, und die Aargauer Zeitung. Letztere galt im Ausland als bestredigierte schweizerische ZeitungHundertfünfzig Jahre Haus Sauerländer in Aarau. Hans Sauerländer u.a. S. 73 ff.. Heinrich Pestalozzi liess zwischen 1807 und 1811 seine Wochenzeitschrift für Menschenbildung im Sauerländer-Verlag erscheinen.

Von der ursprünglichen Firma ist bis heute nur der Verlag geblieben, der allerdings seit 2001 nicht mehr im Familienbesitz ist. 

Das Kinder- und Jugendbuch bei Sauerländer 

Auch was das Buchprogramm betrifft, hätte der Sauerländer-Verlag ohne den Pädagogen, Politiker und Volksschriftsteller Heinrich Zschokke die ersten Jahre nicht bestehen können. Weitere Autoren stammten aus dem Umfeld der Kantonsschule und dem 1819 von der Kulturgesellschaft gegründeten Bürgerlichen Lehrerverein. Dieser baute für einfache Bürger und Geschäftsleute eine Art Volkshochschule auf.

Das Kinder- und Jugendbuch Sauerländer entwickelte sich ganz im Geiste der Aufklärung auf der Grundlage der «bewusst gepflegten «belehrenden und unterhaltenden Volksliteratur»1. Zschokke erreichte sowohl die ältere wie die junge Generation und gilt als Wegbereiter des Sauerländer-Jugendbuchprogramms, wenn auch von einer ausschliesslich an den Adressatenkreis Kinder und Jugendliche gerichteten Literatur noch nicht die Rede sein konnte. Die Ausdifferenzierung einer eigentlichen Kinder- und Jugendliteratur stand im frühen 19. Jh. erst an ihrem Beginn. Allerdings erschienen bei Sauerländer in gewissen Zeitabständen immer wieder speziell für die Jugend verfasste Texte. 1814 erschienen Das Kleine Erzählungsbuch für fleissige Knaben und Mädchen von Jakob Glatz und in den Folgejahren 1816–1817 die Neujahrsblätter für die aargauische Jugend.

Nanette Rothpletz (Mnemosyne) und Rosette Niederer (Dramatische Jugendspiele für das weibliche Geschlecht) waren die ersten Frauen, die ab 1834 bei Sauerländer publizierten. Ihnen folgten Sophie Hämmerli Marti, Olga Meyer, Gertrud Häusermann, Lisa Tetzner und die berühmteste hätte durchaus Astrid Lindgren werden können. Tetzner engagierte sich für die phantastische Jugendliteratur, doch Sauerländer zeigte wenig Interesse an Pippi Langstrumpf, die auch in Deutschland nur zögernd aufgenommen wurde.

Das Jugendbuchprogramm Sauerländer spiegelt wichtige Eckpunkte der schweizerischen und europäischen Geschichte. Stand die Titelauswahl im 19. Jh. stark unter dem Eindruck des neu geschaffenen liberalen, weltoffenen Bundesstaates von 1848, folgte um die Jahrhundertwende die nationale Gegenbewegung mit der Konzentration auf Mundartdichtung, Schweizer Sagen, Kinderreime, Volkstheater und Schauspiele für die Jugend. Bereits seit 1875 gab es im Verlag eine Jugendzeitschrift: die Illustrierten Schweizerischen Jugendblätter. 1909 erschien der Jugendborn. Beide wurden gezielt als Ergänzung zum Lesestoff der Schulbücher konzipiert.

Im 20. Jahrhundert konzentrierte sich der Sauerländer-Verlag zunehmend auf die Kinder- und Jugendliteratur. 1917 gründete Remigius Sauerländer offiziell ein Jugendbuchprogramm und der Verlag beschloss aufgrund der Erfahrungen mit der nach 1918 importierten Jugendliteratur aus Deutschland, das schweizerische Kinder- und Jugendbuch fortan planmässig zu fördern. Sauerländer positionierte sich ab 1927 als einer der bedeutendsten Jugendbuchverlage. Im Zentrum stand weiterhin das Ziel Bildung und Aufklärung – diesmal ging es um die Krisenbewältigung der beiden Weltkriege und die damit zusammenhängenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Veränderungen wie wirtschaftliche Depression, Massenarbeitslosigkeit, Mobilmachung, Zuwanderung, Nationalismus und Rassismus, um nur einige zu nennen.

Die 1930er-Jahren brachten für die schweizerische Kinder- und Jugendliteratur starke EntwicklungsimpulseDahinden, Martin. Das Schweizer Buch im Zeitalter von Nationalsozialismus und Geistiger Landesverteidigung. Bern, Lang, 1978.. Die Einflüsse der NS-Erziehungspolitik machte die mehrheitlich in deutschen Verlagen erscheinenden Kinder- und Jugendbücher in der Schweiz unverkäuflich. Die Schweiz distanzierte sich vom dritten Reich mit einer eigenen nationalen Bewegung, der «geistigen Landesverteidigung». Für das Verlags- und Buchhandelssystem (Produktion und Markt) bedeutete dies folgendes: Sprach man bisher vom Schweizer Buch, so entstand nun das Bild von einem Schweizerbuch, einem spezifischen Schweizer Lesepublikum und von förderungswürdiger Schweizer Literatur – Kinder und Jugendliteratur eingeschlossen. Dies die eine, vom Schweizerischen Buchhändler- und Verlegerverein durchaus erwünschte Seite, die andere manifestierte sich in einer stetig schärfer werdenden Zensurpraktik.

Sauerländer hatte sich aufgrund seiner an der Aufklärung orientierten Konzeption von Kinder- und Jugendliteratur als Instrument von Wissens- und Wertevermittlung massgeblich beteiligt an der von der Jugendschriftenkritik vor allem in den 1930er-Jahren intensiv geführten Debatte über die sogenannte «Schmutz- und Schundliteratur». Die bereits 1858 gegründete Jugendschriftenkommission des Schweizerischen Lehrervereins war der älteste Jugendschriftenausschuss des deutschen Sprachraums überhaupt. 1861 erschien in der «Schweizerischen Lehrerzeitung» erstmals ein Titelverzeichnis mit Rezensionen ausgewählter Jugendbücher. Ab 1870 wurden diese im Sauerländer-Verlag unter dem Titel «Mitteilungen über Jugendschriften an Eltern, Lehrer und Bibliotheksvorstände» herausgegeben. Stets erhielt der Verlag für seinen Einsatz um das «gute Kinder- und Jugendbuch» viel Lob:

«Jeder, der mit der Jugend und den erzieherischen Problemen um sie herum zu tun hat, ist dem Verlag Sauerländer von Herzen dankbar dafür, dass er so unentwegt mit in der Reihe steht und mitstreitet für das gute, gegen das schlechte Jugendschrifttum.»2  

Nun vermischten sich mit der Zensur erstmals Bildungs- und politische Anliegen miteinander. Bislang führten Jugendschriftenkritik3, offizieller Buchhandel und Bibliothekskommissionen die Debatte. Nach der Mobilmachung 1939 – im Dilemma zwischen Anpassung und Widerstand – bestimmte die militärische Abteilung für Presse und Funkspruch, Sektion Buchhandel, was förderungswürdig war, d.h. was geschrieben werden durfte und was nicht. In dieser Zeit nahm der Sauerländer-Verlag 1940–41 Die schwarzen Brüder, 1941 Die rote Zora und 1943 Erlebnisse und Abenteuer der Kinder aus Haus Nr. 67 – Odyssee einer Jugend in sein Jugendbuchprogramm auf.

Heinz Sauerländer bewies damit nicht nur soziales Gespür, sondern auch Weltoffenheit und in Sachen Zensur eine gelungene Mischung aus Hartnäckigkeit und Diplomatie. Besonders die Kinderodyssee (Bd. 3, Erwin kommt nach Schweden) hatte es nicht leicht. Die Interventionen reichten von Beanstan- dungen zu politischer Anspielungen bis zu inhaltlichen Einwänden. Verschiedene Lektoren aus dem Umfeld der Jugendbuchkritik erachteten die sprachliche Form als zu unschweizerisch und unterbreiteten dem Verleger Anpassungsvorschläge. Die Autorin weigerte sich allerdings, den Berliner Dialekt ihrer Kinderfiguren in Schweizerdeutsch umzuschreiben und Heinz Sauerländer liess sich schliesslich von Tetzners Argumentation überzeugen.

In der Nachkriegszeit lancierte der Verlag erstmals Taschenbücher, er betrachtete dies als Beitrag im nach wie vor währenden Kampf gegen die «Schundliteratur». Kurt Kläber (Kurt Held) redigierte die neue Salamanderreihe, ab 1951 Drachenbücher genannt. Zielpublikum war die reifere Jugend, die für einen bescheidenen Preis Zugang zur Weltliteratur erhalten sollte. Der Erfolg blieb aus, kurz nach Kläbers Tod 1959 wurde die Reihe eingestellt.

Die nachfolgende Zeit des Kalten Krieges führte zu einem raschen Wandel der Lebensformen. Themenbereiche wie Konsumgesellschaft und Umweltzerstörung fanden auch in der Schweiz Eingang in die Kinder- und Jugendliteratur. Jörg Müller (Alle Jahre wieder, sonst saust der Presslufthammer nieder4) und Jörg Steiner (Aufstand der Tiere oder die neuen Stadtmusikanten; zus. mit Jörg Müller5) gaben dem Jugendbuchprogramm Sauerländer in den 1970er-Jahren ein neues, zeitkritisches Profil. Ab 1980 erweiterte Sauerländer die Autorenliste um international bekannte Jugendbuch-Autoren wie Ingvar Ambjørnsen oder Cynthia Voigt. Heute bildet das Sauerländer-Jugendbuchprogramm zusammen mit dem Fischer Programm KJB den Fischer-Sauerländer-Kinder- und Jugendbuchverlag.

Die Konzeption von Kindheit und Jugend veränderte sich im Laufe der Jahrhunderte und mit ihr die Vorstellungen einer kindergerechten Kinder- und Jugendliteratur. Das Jugendbuchprogramm des Sauerländer-Verlags nahm diese Veränderungen auf, blieb aber den wichtigsten Programmpunkten der Aufklärung über die Zeit hinweg verbunden. Und dieser Massstab bedeutete für ihn und die Jugendschriftenkritik seiner Zeit: Ein gutes Jugendbuch ist sachlich richtig und psychologisch wahr. Es zeigt die Welt, wie sie ist, und die Menschen, wie sie sind. Es muss literarischen Ansprüchen genügen. Es moralisiert nicht, doch es leitet, es ermutigt zu Selbstverantwortung und zieht das jugendliche Lesepublikum in seinen Bann.

In seinen stärksten Kinder- und Jugendbüchern gelang es dem Sauerländer-Verlag und seinen Autorinnen und Autoren, diesen Anspruch in der modernen Form eines «psychologischen Realismus» einzulösen. Vielleicht deshalb tradierten sich genau diese Bilder-, Kinder- und Jugendbücher von Generation zu Generation – manche bis heute. Wir finden sie in den Schatztruhen unserer eigenen Jugendbücher, in den öffentlichen Bibliotheken, den Schulbibliotheken. 2008 wurde die «Zora» als Oper für Kinder und Erwachsene im «Luzerner Theater» aufgeführt, 2009 an der «Komischen Oper Berlin».

Wir können die Verfilmungen und vielleicht auch bald die Enhanced E-Book Versionen auf iPad & Co. ansehen, lesen und hören. Auch diesen Transfer haben die Geschichten überlebt, zumindest bis jetzt. 

Avatar

Anita Gresele

Aargauer Kantonsbibliothek, Leitung Bestandsentwicklung

  • 1 ebenda, S. 89 ff.
  • 2 Cornioley, Hans. Beiträge zur Jugendbuchkunde, S. 76. Aarau, Sauerländer, 1966.
  • 3 In den 1930er-Jahren intensivierte sich die Zusammenarbeit mit der Jugendschriftenkommission des Schweizerischen Lehrervereins und des 1931 gegründeten Schweizerischen Jugendschriftenwerks (SJW).
  • 4 Deutscher Jugendbuchpreis, Bilderbuch 1974.
  • 5 Deutscher Jugendliteraturpreis, Bilderbuch 1990.

Abstract

L’éditeur argovien Sauerländer dirigeait l’une des plus grandes maisons d’édition en Suisse. Son programme éditorial spécifique pour la jeunesse reflète non seulement l’histoire de la littérature pour enfants et pour la jeunesse, mais rend compte aussi de la culture et de l’histoire suisse contemporaine. Des ouvrages classiques pour la jeunesse comme Zora la rousse et sa bande de Kurt Held, les Frères Noirs et l’Odyssée des enfants de Lisa Tetzner, dans une époque marquée par les idéologies racistes, servirent d’étalons pour la littérature à destination de la jeunesse en langue allemande. Les livres archivés à la Bibliothèque cantonale d’Argovie et les archives de l’entreprise éditoriale conservées aux Archives d’Etat d’Argovie servent un projet commun de voyage temporel à travers la maison d’édition et son programme.