Das Modell des Life Cycles – Überlegungen zur Theorie und praktische Umsetzung in der vorarchivischen Arbeit des thurgauischen Staatsarchivs
Theoretische Überlegungen zum Re-cords Management und seinen Instrumenten sind nicht ein Selbstzweck, sondern dienen der Vergewisserung des eigenen Standpunkts im beruflichen Alltag. Sie helfen dabei, sich der Problemstellungen in der Praxis bewusster zu werden und gezielt Lösungsansätze zu entwickeln, die der jeweiligen Situation angemessen sind.
Der folgende Beitrag ist entstanden aus einem Vortrag, der anlässlich des «Archivzyklus Schweiz» im September 2008 in Liestal gehalten wurde. Die Veranstaltung war aufgebaut als ein Vergleich der vorarchivischen Arbeit in den Kantonen Thurgau und Basel-Landschaft sowie deren theoretischen Grundlagen, Life Cycle respektive Records Continuum. Der dort gehaltene Vortrag wurde für die Publikation überarbeitet und gekürzt, in seinem grundsätzlichen Aufbau aber nicht verändert.
Die Theorie des Life Cycles im Rahmen des Records Management
Das Konzept des Records Managements stammt ursprünglich aus dem angel sächsischen Raum und wurde besonders in Australien entwickelt. So beruht auch die ISO-Norm 15489 zur Schriftgutverwaltung, die 2001 verabschiedet wurde, auf der australischen Norm «AS 4390 Records Management». Hierin wird Records Management definiert als «field of management responsible for the efficient and systematic control of the creation, receipt, maintenance, use and disposition of records, including processes for capturing and maintaining evidence of and information about business activities and transactions in the form of records»ISO 15489, 3.16. Deutschen Fassung ISO/ DIN 15489-1, 3.16.. Die Norm hat zwar eigentlich nur das Ziel, einen Rahmen für die laufende Schriftgutverwaltung in privaten und öffentlichen Organisationen zu schaffen, und berücksichtigt die Aufbewahrung von Schriftgut in Archiven daher nichtVgl. Nils Brübach, Internationale Normen für die Verwaltung von Unterlagen aus digitalen Systemen: Die ISO 15489 «Archives and Records Management» und das MoReq-Projekt der Europäischen Union, in: Auf der Suche nach archivischen Lösungsstrategien im digitalen Zeitalter. Beiträge zur 4. Jahres-tagung des Arbeitskreises «Archivierung aus digitalen Systemen» im Stadtarchiv Mannheim 10.–11.4.2000, hg. von Ulrich Nieß, Mannheim 2001, S. 106.. In der angelsächsischen Verwaltungskultur, in der der Begriff des Records Managements geprägt wurde, ist eine Trennung zwischen Registratur und Archiv jedoch nicht üblich, und so bedeutet die Einführung des Begriffs in Ländern, in denen klar zwischen «Registratur» und «Archiv» unterschieden wird, dass gleichzeitig (wieder) eine engere Verbindung zwischen Verwaltung und Archiv etabliert wird. Tatsächlich wird der Begriff «Records Management» in der archivwissenschaftlichen Diskussion in dem Sinne gebraucht, dass Archivare nicht erst dann aktiv werden, wenn ein Aktenbildner seine Altregistraturen zur Aussonderung anbietet, sondern «zugunsten einer ganzheitlichen Überlieferungsbildung [...] bereits in einem möglichst frühen Stadium in den Verwaltungen präsent sein müssen, um die Schriftgutströme entsprechend den archivischen Anforderungen zu kanalisieren»Hans-Jürgen Höötmann, Schriftgutverwaltung, in: Norbert Reimann (Hg.), Praktische Archivkunde. Ein Leitfaden für Fachangestellte für Medien- und Infromationsdienst, Fachrichtung Archiv, Münster 2 2008, S. 51..
Der praktischen Umsetzung des Records Managements können verschiedene Modelle zugrunde gelegt werden. So basierte das Records Management Programm der National Archives in den USA in den 1940erJahren auf dem Konzept des Life Cycles, während die australische Norm «AS 4390 Records Management» auf die Theorie des Records Continuums rekurriertVgl. Jay Atherton, From Life Cycle to Continuum: Some Thoughts on the Records Management – Archives Relationship, in: Archivaria 21 (1985/86), S. 44–46; Sue Mc Kemmish, Yesterday, Today and Tomorrow: A Continuum of Responsibility, in: Proceedings of the Records Management Association of Australia 14th National Convention, 15–17 September 1997, RMAA, Perth 1997 (http://www.sims.monash.edu.au/research/rcgr/publications/recordscontinuum/smckp2.html; Zugriff vom 28.07.2008), S. 6 u. 15.. Obwohl das Modell des Life Cycles eigentlich älter ist als das des Records Continuums, wurde es erst in Abgrenzung zu diesem entwickelt und präzisiert.
Phasen des Life Cycles
Die Theorie des Life Cycles versteht Schriftgutverwaltung als einen Prozess, der aus verschiedenen, klar von einander getrennten Phasen besteht. Im Allgemeinen werden dabei zwei Hauptphasen unterschieden: die «current phase» und die «archival phase»Vgl. Danielle Wickham, What’s new? Functional Analysis in Life Cycle and Continuum Environments, in: Archives and Manuscripts 26 (1999), Nr. 1, S. 115; Atherton, From Life Cycle to Continuum, cit., S. 44..
Innerhalb dieser beiden Hauptphasen können wiederum verschiedene Stufen ausgemacht werden. In die «current phase» fallen die Erstellung bzw. der Empfang des Schriftguts, seine Klassifikation nach einem logischen System in der laufenden Registratur, seine Bearbeitung, Benutzung und Erhaltung sowie schliesslich, als letzter Schritt, die Vernichtung oder Archivierung. Mit der Übernahme ins Archiv beginnt die zweite Hauptphase, die «archival phase». Weitere Prozesse in dieser Phase sind die Verzeichnung des Schriftguts in Findmitteln und Datenbanken, seine Erhaltung und Konservierung sowie die sekundäre Benutzung durch die Verwaltung oder zu Forschungszwecken. Kennzeichnend für die Theorie des Life Cycles ist die klare Trennung zwischen dem Primär- und dem Sekundärzweck von Schrift gut oder, anders gesagt, die Umwidmung von Verwaltungsschriftgut zu Archivgut bei der Übergabe an das Archiv. Dabei wird unter dem Primärzweck die Nutzung der Unterlagen durch die produzierende Dienststelle selbst im Rahmen der Erledigung des Geschäfts, für den ein Dossier angelegt wurde, verstanden, während der Sekundärzweck die Nutzung nach der Ablieferung an das Archiv sowohl durch die Dienststelle selbst als auch durch Dritte umfasst. Eine solche Sekundärnutzung kann aus rechtlichen Gründen erfolgen, wenn ein abgeschlossener Sachverhalt nachgewiesen oder überprüft werden muss, oder zu Forschungszwecken.
Eine andere Möglichkeit ist die Definition der verschiedenen Phasen des Lebenszyklus von Schriftgut in Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Aufbewahrungsort.
Unterschieden werden dann drei Phasen: die Aufbewahrung des Schriftguts im Büro des Sachbearbeiters (oder, alternativ, in einer zentralen Registratur der Dienststelle), in der Altregistratur oder dem Amtsarchiv der Dienststelle und schliesslich im zuständigen Endarchiv1. Dabei können die beiden ersten Phasen der «current phase» zugeordnet werden, die letzte Phase der «archival phase», auch wenn die verschiedenen Phasen der beiden Modelle nicht vollkommen deckungsgleich sind: Da nur abgeschlossene Dossiers in die Altregistratur gelangen, ist eine Weiterbearbeitung von Dossiers aus der Altregistratur in der Regel ausgeschlossen (Die Tatsache, dass ein Geschäft bzw. Dossier wiedereröffnet und aus der Altregistratur zurück ins Büro des Sachbearbeiters genommen wird, ist als Ausnahmefall anzusehen). Das bedeutet, dass der Wechsel von der Primär zur Sekundärnutzung schon mit dem Wechsel vom Aufbewahrungsort «Büro» zum Aufbewahrungsort «Altregistratur» stattfindet (wobei der Begriff der Primärnutzung oder des Primärwerts hier, in Anlehnung an Th. R. Schellenberg und – ihm folgend – A. Menne Haritz, eng definiert ist, nämlich als Wert der Records für die Behörden selbst zur Aufgabenerledigung)Vgl. Angelika Menne-Haritz, Schlüsselbegriffe der Archivterminologie. Lehrmaterialien für das Fach Archivwissenschaften (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 20), Marburg 1992, S. 52 u. 54. Peter M. Toebak, Records Management. Ein Handbuch, Baden 2007, S. 64, definiert den Begriff des Primärwerts weiter und versteht darunter nicht nur den Wert der Records für die Behörde selbst während der Aufgabenerledigung, sondern fasst darunter sämtliche «administrativ-operative[n], juristische[n], finanzielle[n], organisatorische[n], technische[n], allenfalls auch wissenschaftliche[n] Aspekte eines Daten- und Unterlagen-Records».. Die zweite Phase der Aufbewahrung in der Altregistratur kann daher als «semicurrent phase» bezeichnet werden, in der nur noch bestimmte Prozesse der «current phase» ablaufen, gleichzeitig aber schon eine Sekundärnutzung des Schriftguts erfolgt.
Ausschlaggebend ist aber auch in diesem Modell des Life Cycles, zu welchem Zeitpunkt die Umwidmung von Verwaltungs in Archivschriftgut erfolgt und die Datenhoheit von der produzierenden Dienststelle zum Archiv wechselt. Dies ist erst mit dem Übergang ans Endarchiv der Fall. Da im Life Cycle Konzept klar zwischen Primär- und Sekundärnutzung bzw. zwischen Verwaltungs und Archivschriftgut unterschieden wird, können auf seiner Grundlage (datenschutz)rechtliche Vorgaben genau umgesetzt werden. Das gilt vor allem immer dann, wenn die Archivierung von Unterlagen nur aufgrund eines Archivierungsvorbehalts im den jeweiligen Sachbereich betreffenden Gesetz möglich ist, andernfalls aufgrund datenschutzrechtlicher Vorgaben die Pflicht zur Vernichtung von Daten durch die Dienststelle bestünde. Solche Unterlagen unterliegen, sobald sie einmal archiviert sind, für die Benutzung durch die abgeben den Dienststellen – genauso wie für andere Benutzer – zwingend den archivischen Schutzfristen.
Die australische und kanadische Interpretation des Life Cycles
Vor allem in Australien wird das Konzept des Life Cycles, ausgehend von einer klaren Trennung der Berufe des Archivars und des Records Managers, in dem Sinne interpretiert, dass der Archivar erst in der zweiten der beiden Hauptphasen (bzw. in der letzten der drei Phasen), in der «archival phase», aktiv werde, wohingegen Aufgaben der Schriftgutverwaltung im Rahmen der «current phase» vom Records Manager wahrgenommen würdenSo Atherton, From Life Cycle to Continuum, cit., S. 44–47.. Nach der australischen Interpretation des Life Cycle Modells werden einzelne Arbeitsschritte im Rahmen der Schriftgutverwaltung in einer vorher festgelegten Abfolge von einer bestimmten Berufsgruppe – dem Archivar oder dem Records Manager – ausgeführt, während nach der Theorie des Records Continuums die einzelnen Prozesse zu jedem beliebigen Zeitpunkt in der Existenz des Schriftguts stattfinden könntenVgl. Wickham, What’s new?, cit., S. 115f., Atherton, From Life Cycle to Continuum, cit., S. 47..
Eine Unterscheidung verschiedener Phasen im Lebenszyklus des Schriftguts bedeutet aber nicht zwingend, dass der Archivar erst bei der Aussonderung und Kassation sowie der dauerhaften Aufbewahrung im Archiv tätig wird, vielmehr kann er in seiner Arbeit alle Phasen des Lebenszyklus berücksichtigen und begleitenVgl. etwa auch Angelika Menne-Haritz, Digitaler Lesesaal, virtuelle Magazine und Online-Findbücher: Auswirkungen der Digitalisierung auf die archivischen Fachaufgaben; http://www.staff.uni-marburg.de/~mennehar/webtexte/pdf/digilesesaal.pdf; Zugriff vom 18.11.2008 (auch in: Hartmut Weber und Gerald Maier [Hrsg.], Digitale Archive und Bibliotheken. Neue Zugangsmöglichkeiten und Nutzungsqualitä- ten, Stuttgart 2000, S.25–34), S. 12: «Das Konzept des Continuum richtet sich ebenso wie das Life-Cycle-Konzept ausdrücklich gegen die Unterscheidung eines Verwaltungszwecks vom Archivierungszweck und sieht das Records Mangamement als archivische Aufgabe an.»; ferner Toebak, Records Management, cit., S. 92.. Auch die strikte Trennung zwischen den Berufsfeldern des Archivars und des Records Managers erscheint überholtVgl. dazu Toebak, Records Management, cit., S. 94..
Praktische Umsetzung in der vorarchivischen Arbeit im Kanton Thurgau
Die vorarchivische Arbeit des thurgauischen Staatsarchivs legt zwar das Modell des Lebenszyklus zugrunde, weicht aber gleichzeitig in einigen wichtigen Punkten von ihm bzw. der engen Interpretation des Konzepts, wie sie oben dargestellt wurde, ab. Wichtig zum Verständnis der Konzeption der vorarchivischen Arbeit im Kanton Thurgau ist nicht nur die spezifische Ausgangslage des Archivs zu Beginn der 1990erJahre, als mit dem Aufbau der vorarchivischen Beratung begonnen wurde und die gekennzeichnet war durch Ablieferungsrückstände vieler kantonaler Dienststellen sowie räumlich ungenügende (Magazin)Verhältnisse, sondern vor allem auch die gewachsene Archivtektonik: Erst der Staatsarchivar Bruno Meyer nahm seit 1937 die Aufgabe in Angriff, einen allgemeinen, einheitlichen Archivplan zu entwerfenVgl. Bruno Meyer, Geschichte des thurgauischen Staatsarchives, in: Festgabe für Regierungsrat Anton Schmid zu seinem 25. Amtsjahre als Mitglied der thurgauischen Kantonsregierung, Frauenfeld 1942, S. 185f.. Bei seiner Neuordnung führte Meyer ein Signaturensystem nach De zimalklassifikation ein, das allerdings nur begrenzt erweiterungsfähig ist. Gleichzeitig wurde zwar damit begonnen, das Pertinenz durch das Provenienzprinzip abzulösen. Die innere Ordnung insbesondere der Hauptabteilung 4 «Departemente» weist jedoch stark pertinente Züge auf. Ausgehend von diesen beiden Voraussetzungen ist geplant, in der Bestandesbildung des thurgauischen Staatsarchivs die Hauptabteilung 4 (und später auch die Haupt abteilungen 2, 3, 5 und 6) sukzessive durch die Hauptabteilung 9, das Akzessionsarchiv (und – für zukünftige elektronische Unterlagen – die Hauptabteilung 10), abzulösenVgl. Staatsarchiv des Kantons Thurgau, Beständeübersicht, bearb. von André Salathé, Frauenfeld 2005, S. 8.. Für die in den Dienststellen noch vorhandenen und entstehenden physischen Unterlagen ist das Ziel der vorarchivischen Beratung daher die Bildung und Übernahme von geschlossenen Beständen über mehrere Jahre hinweg (sogenannte Akzessionen), die im Endarchiv fortlaufend und lückenlos magaziniert wer den sollen.
Um dieses Ziel zu erreichen, muss das Dokumentenmanagement in den Dienststellen selbst professionalisiert werden. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist der Einsatz von Registraturplänen, die im Zusammenhang mit der Einführung des Records Management Systems Fabasoft in der kantonalen Verwaltung des Thurgaus im Jahre 2006 flächendeckend erarbeitet wurden. Hier durchbricht das thurgauische Staatsarchiv an einem entscheidenden Punkt ein eng interpretiertes Modell des Life Cycles, nach dem der Archivar erst bei der Aussonderung und Übernahme des Schriftguts aktiv wird: Die vorarchivische Beratung wirkt bei der Erstellung und bei der ständigen Aktualisierung von Registraturplänen gezielt in die erste Phase des Lebenszyklus hinein.
Auf der Grundlage der Registratur pläne, die im Records Management System Fabasoft hinterlegt sind, werden in den einzelnen Dienststellen sämtliche Unterlagen erstellt und abgelegt. In Übereinstimmung mit dem Life Cycle Konzept verbleiben die Unterlagen so lange im Büro des jeweiligen Sachbearbeiters (und im Records Management System Fabasoft bzw. in den Fachapplikationen), bis der Vorgang bzw. das Geschäft abgeschlossen ist oder bis auf die in einem Dossier enthaltenen Informationen in der täglichen Arbeit nicht mehr dauernd zurückgegriffen werden muss. Allerdings müssen die in den Ämtern produzierten Dokumente zum Teil auch noch einige Jahre über das Abschlussdatum hinaus der Verwaltung relativ häufig zur Verfügung stehen, etwa bei der Erteilung von Auskünften oder bei der Recherche nach Präzedenz und Parallelfällen zur Wahrung eines einheitlichen Rechts- und Aufgabenvollzugs. Andere Unterlagen müssen dagegen nur während eines bestimmten, gesetzlich festgelegten Zeitraums aufbewahrt werden, sind jedoch nicht archivwürdig. Aus diesen beiden Gründen setzt das Staatsarchiv des Kantons Thurgau für die physische Ablage des Schriftguts auf die Einrichtung von sogenannten Amtsarchiven (= Altregistraturen) in den Dienststellen, in denen abgeschlossene Dossiers bis zum Ablauf der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist bzw. bis zur Ablieferung an das Staatsarchiv aufbewahrt werdenIn der vollelektronischen Schriftgutverwaltung finden die Amtsarchive ihre Entsprechung in einem «Compliance-Archiv» bzw. einer elektronischen Altregistratur.. Diese Stufe entspricht der «semicurrent phase» des Lebenszyklus der Dokumente. Die Amtsarchive werden auf Grundlage der Registraturpläne eingerichtet, d.h. sie sind wiederum genau gleich organisiert und strukturiert wie die «Amtsablage» im Records Management System Fabasoft. Durch die Einrichtung von Amtsarchiven soll erreicht werden, dass die Dienststellen alle Unterlagen, deren Aufbewahrungsfrist noch nicht abgelaufen ist und auf die noch relativ häufig zurückgegriffen werden muss, selber verwahren – Wartezeiten bei Rückgriffen auf Unterlagen können dadurch vermieden werden. Gleichzeitig entfällt der Transport von späterem Kassationsgut ins Archiv, weil das Schriftgut nach Ablauf der gesetzlich bestimmten Aufbewahrungsfristen direkt in der Dienststelle kassiert werden kann. Die Archivierung, d.h. die dauernde Aufbewahrung im Staatsarchiv, stellt schliesslich die dritte (und letzte) Stufe im Lebenszyklus der Unterlagen dar.
Mithilfe der Registraturpläne wird der gesamte Lebenszyklus der Unterlagen gesteuert: Sie sind nicht nur das wichtigste Hilfsmittel für die Ordnung der produzierten Unterlagen in allen Phasen ihres Lebenszyklus. In einer mit «Aufbewahrung in der Dienststelle» bezeichneten Rubrik ist gleichzeitig festgelegt, während welchen Zeitraums die Unterlagen im Amtsarchiv, also in der «semicurrent phase» des Lebenszyklus, verbleiben. Ausserdem ist im Registraturplan für jede Dossierreihe bestimmt, wie mit den Unterlagen nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist umgegangen werden soll. Damit wird der Übergang in die dritte Phase, die «archival phase», gesteuert. Mit einer solchen prospektiven Bewertung der gesamten Schriftgutproduktion einer Dienststelle noch vor seiner Entstehung durchbricht das thurgauische Staatsarchiv in einem weiteren wichtigen Punkt die enge Interpretation des Lebenszyklusmodells.
Die Bewertung wird vom Staatsarchiv unter Einbezug der jeweiligen Dienststelle erarbeitet und im Registraturplan hinterlegt. Dies ermöglicht, dass nicht dauernd aufbewahrungs würdige Unterlagen in den Dienststellen selbst laufend kassiert werden können, sobald die (gesetzlich festgelegte) Aufbewahrungsfrist abgelaufen ist, und dient damit einem effizienten Einsatz von Ressourcen. Die prospektive Bewertung bedeutet jedoch keinen vollständigen Verzicht auf Autopsie der Unterlagen: Einerseits können bei der Bestandsbearbeitung noch Feinkassationen vorgenommen werden, andererseits kann (und muss) die in den Registraturplänen festgelegte Bewertung sowohl im Kontakt mit der produzierenden Dienststelle als auch durch die Inaugenscheinnahme von Unterlagen im Amtsarchiv periodisch überprüft und aktualisiert werden. Eine Nachbewertung bzw. Nachkassation im Zwischenarchiv (oder gar an erschlossenen Beständen) wird aus Gründen der Wirtschaftlichkeit jedoch nicht durchgeführt; der Archivar muss sich von allem Anfang an um die Stringenz seines Bewertungsurteils bemühen.
Konsequent wird das Modell des Le benszyklus im Staatsarchiv des Kantons Thurgau im Zusammenhang mit der Benutzung durchgesetzt: Mit der Abgabe des Schriftguts an das Archiv geht die Datenhoheit von der jeweiligen Dienststelle auf das Staatsarchiv über, d.h. das Staatsarchiv übernimmt von diesem Zeitpunkt an alle Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit dem Datenmanagement (und dem Datenschutz).
Zusammenfassung
Das Konzept der vorarchivischen Beratung des Staatsarchivs des Kantons Thurgau setzt zwar das Modell des Lebenszyklus in seinen grundlegenden Zügen um, weicht aber von der australischen Lesart des Modells an den Stellen ab, an denen praktische und betriebswirtschaftliche Überlegungen es erfordern: Bei der Erarbeitung und Pflege der Registraturpläne im Records Management System Fabasoft, bei der prospektiven Bewertung und der Beratung der Verwaltung in allen Fragen des Unterlagenmanagements wirken die vorarchivischen Berater gezielt in die «aktive» und die «semikurrente» Phase des Lebenszyklus der Unterlagen ein und übernehmen damit Aufgaben des Records Managers.
- 1 Vgl. Wickham, What’s new?, cit., S. 115.
Abstract
- Français
La théorie de la gestion du cycle de vie des dossiers se conçoit comme un processus composé de plusieurs phases. A côté de la distinction classique qui envisage deux étapes principales, «phase courante» et «phase d’archivage», il existe un modèle alternatif qui effectue la délimitation des différentes phases en fonction du lieu de conservation des dossiers (bureau, «Altregistratur»/archive officielle, archives définitives).
Avec le développement du concept du continuum records, l’idée d’une séparation nette des phases du cycle de vie a été critiquée car certaines étapes de la gestion documentaire seraient réalisées selon une séquence prédéterminée, par l’archiviste ou le records manager. Le travail de préarchivage mené aux Archives d’Etat du Canton de Thurgovie s’inscrit dans le modèle sous-jacent du cycle de vie, mais s’écarte de son interprétation étroite, en ce que la notion d’archive n’apparaît pas seulement à la fin du cycle de vie des documents. Avec l’introduction du logiciel de gestion du records management Fabasoft au sein de l’Administration cantonale, en 2006, les Archives cantonales ont élaboré des plans de classement, qu’elles tiennent régulièrement à jour. Les plans de classement constituent les principaux outils de régulation de la production documentaire dans toutes les phases du cycle de vie. En outre y figure le destin final des documents: transfert aux Archives d’Etat ou élimination. Lors de la consultation, le modèle du cycle de vie reste bien mis en œuvre: avec le transfert physique des dossiers aux Archives cantonales, le droit de disposer des données est transféré du service aux Archives.