«Frisch, Fromm, Froh und Frei!»
Die Geschichte des Breitensports wie auch diejenige des sich ursprünglich im Kontext der Vereine entwickelnden, heute unter zunehmendem Professionalisierungsdruck stehenden Wettkampfsports sind eng verbunden mit der Entstehung und Verbreitung des Vereinswesens in der ersten Hälfte des 19. Jh.s. Die Ausbildung demokratisch legitimierter Vereinsstrukturen verwebt sich – beispiel haft etwa im Kanton Bern – mit den liberalen Umwälzungen der 1830erJahre. Aspekte der Volksgesundheit, aber auch sekundäre Sozialisationsformen und Instrumente der Integration sind weitere, spezifische Konnotationen dieser Facette der Sportgeschichte.
In den Archivbeständen der Sportvereine liegt ein reiches Material, dessen kontextualisierte Aufarbeitung – einmal abseits der vereinsinternen Produktion von Jubiläumsschriften – ein dringendes Desiderat darstellt. Die Burgerbibliothek Bern verwahrt u.a. das Archiv des Bürgerturnvereins Bern, der zu den Pionieren in der Geschichte der Sportvereine zählt.
Bei dem als bewusste Überwindung des alten Gegensatzes von Stadt und Land inszenierten Unspunnenfest, das die alten Älplerfeste in neuer Form zu tradieren und als Herrschaftsinstrument der alten, wieder installierten Aristokratie zu instrumentalisieren suchte und das 1815 den Gästen aus nah und fern geboten wurde, ging es nicht allein um die Darstellung von Volkstum und Überlieferung. Neben die Präsentation von urwüchsiger Natur, von handwerklichem und künstlerischem Können der ländlichen Bevölkerung traten nun auch sportliche Spiele mit Wettkämpfen und Prämierungen.
Ein sich wandelndes Körperverständnis reformierte seit Beginn des 19. Jh.s auch zunehmend den Schulunterricht. Bereits 1805 wurde, im Zuge einer generellen Reform des bernischen Schulwesens, deren spiritus rector Abraham Friedrich Mutach (1765–1831, Ratsherr und während 21 Jahren gestrenger Kanzler der Akademie) war, der Turnunterricht eingeführt. «Orandum est, ut sit mens sana in corpore sano» – gemäss Juvenals Ausspruch aus den Satirae sollten im Hinblick auf eine harmonische Entwicklung der Jugend Geist und Körper gleichermassen gebildet werden. Dieses Postulat vertraten im aufsteigenden 19. Jh. bahnbrechende Pädagogen wie Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), der bereits 1805 in seinem Institut in Yverdon den regelmässigen Turnunterricht eingeführt hatte, oder (Philipp) Emanuel von Fellenberg (1771–1844, Berner Patrizier und Begründer der Erziehungsanstalt in Hofwyl) in dieser seiner Musterschule bei Münchenbuchsee.
Von den gewissermassen privaten Instituten aus ging der Schritt in die öffentlichen Schulen und ins öffentliche Bewusstsein. «Das Saatkorn kam – ein Nordsturm führt’ es weit her von der ‹Hasenheide›, von Säemann Jahn mit emsiger Hand seine gute Saat in deutsche Jünglingsherzen streute, hin über die Lande – das Saatkorn fiel, ein guter Säemann hob es auf und setzt’ es in ein fruchtbar’ Erdreich, wo es bald aufkeimte, schöne Frucht versprechend.»Schneider, K.: Turngeschichte der Stadt Bern, in: Der Bürgerturner Nr. 1, 1903, p. 2 ff.
Dieser überschwänglich besungene Sämann war niemand anderes als Phokion Heinrich Clias (1782–1854), von Herkunft Nidwaldner, geboren in Boston in den USA und mit einer weltläufigen Biografie bedacht – sein Weg führte ihn über Deutschland und Italien zurück in die Heimat seiner Vorfahren, nach Bern und schliesslich nach Paris. 1811 nahm Clias den Turnunterricht in der bernischen Erziehungsanstalt Gottstatt auf, wirkte danach einige Jahre als Turnlehrer am Waisenhaus in Bern, wo er seinen Schülern den Turnunterricht mithilfe selbst erfundener Geräte vermittelte. Auch in Fellenbergs Institut in Hofwyl unterrichtete er, worauf ihn die Regierung zum Professor für Gymnastik und zum Rittmeister der Akademie ernannte1. Die Errichtung einer Schwimm- und Badeanstalt an der Aare im Berner Marzili war ebenfalls sein Werk. Und Clias war es auch, der 1816 den Anstoss zur Gründung eines Turnvereins im Schosse der Akademie gab. Dieser studentische Turnverein verlieh sich selbst den programmatischen Namen «Vaterländische Turngemeinde».
Die Gründungsbewegung der Turnvereine
Was sich hier pompös ankündigt, wird zum Ausgangspunkt einer Erfolgsgeschichte, an deren vorläufigem Ende die Herausbildung eigentlicher Sportgymnasien unserer Zeit steht, markanter Eckpunkt und zeittypischer Ausdruck einer Transformation der Werte und Inhalte: Im Zuge rigider Kommerzialisierung und Professionalisierung des Sportbetriebes soll auch noch Schulbildung mitvermittelt werden. In dieser Entwicklung, in diesem Spannungsfeld siedelt die Geschichte der Sportvereine nicht nur als Träger und Vermittler des professionellen Sports, sondern auch des Breitensports, dessen ideologische Transportmittel nach wie vor Aspekte wie Volksgesundheit, ausserfamiliäre Sozialisation, Integration etc. bilden.
Schon wenige Jahre nach ihrer Gründung änderte die «Vaterländische Turngemeinde» ihren Namen vorerst in Akademischer Turnverein, endlich aber in Studenten-Turnverein um, welch Letzterer schon bald im neu konstituierten Zofingerverein aufging. Das Turnen etablierte sich im Hochschulmilieu rasch in mehreren Schweizer Städten, eine wahre Gründungswelle nahm hier ihren AnfangS. dazu die Festschrift 50 Jahre Bürgerturn verein Bern. Burgerbibliothek Bern GA BTV 47(2).. Die grossen Verbände der Studententurnvereine Zürich, Bern, Basel sowie die Kantonsschülersektion Aarau waren es denn auch, welche den Kern des Eidgenössischen Turnvereins bildeten, der 1832 in Aarau gegründet wurde.
In Nachahmung der studentischen Bemühungen schlossen sich rasch einmal Turn- und Sportbegeisterte im urbanen Kontext zu eigenen Vereinen zusammen, es entstanden in verschiedenen Städten so geheissene Bürgerturnvereine, deren Name war in vielerlei Hinsicht Programm, zielte indes vorab auf die Abgrenzung zum akademischen Milieu. War der Stadtberner Bürgerturnverein mit seinem Gründungsjahr 1831 der erste dieser Gruppe, so folgten bald einmal Vereinsgründungen in Chur (1842), Aarau (1843), Lausanne (1846), Solothurn (1856), Luzern (1860) und viele weitere nach. Bezeichnenderweise fanden alle diese Gründungen fern der Hochschulorte statt.
Der Bürgerturnverein Bern
Die Geburtsstunde des ersten Bürgerturnvereins fiel in das Jahr der bedeutenden politischen Umwälzungen im Kanton Bern: 1831 dankte die alte Ordnung endgültig ab, der liberale Volksstaat entstand. Die rund 40-jährige Geschichte dieses ersten Bürgerturnvereins fand 1872/73 ein jähes Ende. Äusserer Anlass zur abrupten Auflösung gab die Uneinigkeit zwischen den inzwischen recht zahlreichen Berner Turnvereinen über die Verteilung des Gewinns, der bei der Durchführung des Kantonalturnfestes in Bern erzielt worden war. Finanzsorgen quälten die meisten der Turnvereine, insbesondere diejenigen, welche nicht im akademischen Kontext wirken konnten. Vor diesem Hintergrund wurde hierauf der Antrag gestellt, alle Turnvereine der Stadt Bern zu vereinigen. Zähe Verhandlungen – unter den Beteiligten finden sich der Männerturnverein, der Studententurnverein, der Grütliverein, der Lehrerturnverein, die Studentenverbindung Helvetia und die allgemeine Militärgesellschaft – sowie politischer Druck führten schliesslich dazu, dass im Februar 1873 als Fusionsprodukt der Stadtturnverein Bern gegründet wurde. Nicht alle alten Vereine folgten dem Aufruf zum Beitritt, einige Unentwegte schlossen sich nur wenige Jahre später erneut zusammen und liessen den alten Bürgerturnverein unter dem gleichen Namen im Jahre 1881 wieder erstehen. Diese zweite Gründungsversammlung fand am Samstag, den 15. Januar 1881 im Beisein von 31 Gründungsmitgliedern in der Brasserie Iseli an der Genfergasse statt2. Mit ihr beginnt die eigentliche Geschichte des BTV Bern.
Der Verein hatte gleich zu Anfang mit etlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, insbesondere musste er um die Anerkennung als neue Sektion des eidgenössischen Turnvereins ringen, der ein erstes Aufnahmegesuch aus Bern noch abschlägig beschieden hatte. Mit der Aufnahme in den Dachverband, welche indes 1882 dank geschickter Intervention von aussen doch erfolgen konnte, war der Verein fortan als Sektion auch zu den grossen Turnfesten und Wettkämpfen zugelassen, welche bis auf den heutigen Tag den festen Bestandteil des Turnerkalenders bilden. Die stadtbernische Rivalität insbesondere zum Stadtturnverein hielt indes noch lange Zeit unvermindert an, erneut ausgesprochene Fusionsgelüste des Letzteren wurden nun aber abgewehrt, der BTV, wie er sich mit Kürzel nannte, pochte auf seine Eigenständigkeit. Die in der Selbstwahrnehmung befruchtende Rivalität machte aus dem BTV Bern auf nationalem Boden «eine starke und gefürchtete Kampfsektion»100 Jahre Bürgerturnverein 1881–1981. Festschrift von Rudolf Mader, p. 10. Burgerbibliothek Bern GA BTV 47(1)..
Abspaltungstendenzen zeigten sich erneut in den Monaten um das Ende des Ersten Weltkriegs. Unter dem erschütternden Eindruck von Kriegsfolgen und Generalstreik ging der gesellschaftliche Riss tief. Selbst der Bürgerturnverein hatte deshalb Austritte zu verzeichnen. In die Jahre nach 1918 fielen alsdann die Gründungen der Arbeiterturnvereine. Wiewohl die politische Konnotation durch den Verein stets in Abrede gestellt wurde, war sie dennoch manifest, implizit in der soziologische Stratigrafie des Mitgliederbestandes und einer immanenten konservativen Tendenz, explizit in der vehementen ideologischen Abgrenzung gegenüber den ArbeiterturnvereinenFestschrift 50 Jahre Bürgerturnverein Bern, a.a.O., p. 4.. Wie schwierig der Umgang mit Geschichte sich gestalten mag, erhellt auch die Teilnahme mit der Schweizer Leichtathletikdelegation an den Olympischen Spielen in Berlin 1936, welche wohl durch ein Album im Archivbestand belegt ist, in den Jubiläumsschriften jedoch – mehr oder minder bewusste – Auslassung erfährt.
Die Entwicklung des Vereins ist gleichzusetzen mit der allmählichen Entwicklung des Breitensports. Sichtbarer Ausdruck dessen sind die im Zuge der Jahre entstandenen Untersektionen oder Riegen. Die älteste dieser Riegen ist die bereits 1889 entstandene Männerriege, eine Vereinigung der älteren Turner, welche nicht mehr wettkampfmässig trainieren und auftreten mochten. Nach der Jahrhundertwende rief der BTV Bern als einer der ersten Turnvereine der Schweiz unter dem Namen «Zöglingsriege» eine Jugendsektion für Knaben ins Leben. Bereits spielten hier auch die Aspekte eines paramilitärischen Vorunterrichts ungenannt hinein. Ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gründeten 30 Turnerinnen die Damen- und Frauenriege, welcher sich in den 20er-Jahren eine Mädchenriege anschloss. Selbstbewusst traten die Turnerinnen des BTV Bern am schweizerischen Frauenturntag anlässlich der 1. Ausstellung für Frauenarbeit in Bern 1928, SAFFA, auf. Als weitere Riegen finden sich eine Berg- und Skiriege, eine Kunstturnerinnenriege, die Korbballriege, die Riege der Kunstturner und Leichtathleten, die Handballriege, die Faustballriege, eine Montagsriege sowie die Seniorenriege etc.
Sprechend ist, dass eine Anregung zur Gründung einer Schützensektion im Jahre 1908 wohl geprüft, dann jedoch verworfen wurde.
Die gesellschaftliche Integrationskraft demonstriert der Verein bis heute mit seinen Familienabenden und Turnfahrten ebenso wie mit dem Bürgerturnerchörli.
Das Gesellschaftsarchiv des Bürger turnvereins Bern (GA BTV)
Zu Anfang des Jahres 2001 konnte die Burgerbibliothek Bern das Gesellschaftsarchiv des Bürgerturnvereins Bern BTV geschenkweise übernehmen.
Der Bestand in der Ausdehnung von 7,2 Laufmetern umfasst vornehmlich die Protokolle, Akten und Korrespondenzen von Vorstand und Generalversammlung. Dazu treten einzelne Konvolute zu speziellen Anlässen wie Turnfesten, Jubiläen, Familien- und Unterhaltungsabenden. Leider fehlen – bis auf die Dossiers der Handballriege – die Archivbestände mit der Provenienz der einzelnen Riegen. Diese Riegen führten und führen nach wie vor auf der Grundlage eigener Strukturen ein ziemlich eigenständiges Leben. Einzelne konnten schon Jubiläen feiern, wie die Frauen- und Damenriege, eine Untersektion, welche sich durch grosse Aktivität ausgezeichnet hat.
Vollständig vorhanden ist das Vereinsorgan «Der Bürgerturner» seit seinem Erscheinen 1903. Den Aktenbestand ergänzen zahlreiche Fotos von Turnfesten und -fahrten. Fotos, welche Ende des 19. Jh.s einsetzen und gewiss einen überlieferungsmässigen Merkpunkt erreichen im Fotoalbum zur Teilnahme an den Olympischen Spielen in Berlin 1936 – dies wahrlich ein Zeitdokument besonderer Art. Spezielle Benützungsbeschränkungen liegen keine auf dem Bestand, ausser der Respektierung der gesetzlich verankerten Schutzfristen. Die Erschliessung des Archivs des BTV Bern erfolgte gemäss der hauseigenen Konvention auf Dossiertiefe, die Erstellung des Inventars geschah sowohl analog (wordgestütztes, gedrucktes Inventar) als auch digital (Datenbank).
Abstract
- Français
L’histoire des sports de masse comme d’ailleurs celle des activités sportives qui se sont développées dans le contexte des sociétés de gymnastique est étroitement liée à l’émergence et la diffusion des sociétés dans la première moitié du XIXe siècle. La création de structures sociétales démocratiquement légitimées a fleuri – comme on le voit dans le canton de Berne, par exemple – en parallèle aux bouleversements générés par les idées libérales des années 1830. La santé de la population, mais aussi des formes de socialisation secondaires et les instruments d’intégration sont d’autres aspects spécifiques de cette facette de l’histoire du sport.
Les archives des sociétés sportives rassemblent un riche matériel qu’il s’agit impérativement de traiter en tenant compte du contexte, certes, mais aussi indépendamment de la production de publications qui marquent les jubilés des sociétés. La Burgerbibliothek de Berne garde notamment les archives de la Bürgerturnverein Bern, qui figure parmi les pionniers de l’histoire des sociétés sportives.