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2006/1 Memopolitik – vom Umgang mit dem Gedächtnis der Gesellschaften

«Es fehlt der ‹Single point of entry›»

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E-Mail-Interview mit Markus Zürcher, Generalsekretär der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW)

Die Fragen stellte Daniel Leutenegger, Chefredaktor arbido 

arbido: Wie gestalten sich die traditionellen Beziehungen zwischen der SAGW (respektive ihren Mitgliedern) und den Archiven, Bibliotheken, Dokumentationsstellen, Museen, Sammlungen usw.?

Markus Zürcher: Die Beziehungen sind ausserordentlich vielfältig, vielschichtig und nicht zu überblicken, womit bereits ein problematischer Punkt genannt ist.

Doch beginnen wir mit den positiven Aspekten: Zahlreiche in der SAGW und ihren Organen engagierte Mitglieder sind zugleich an leitenden Positionen in Bibliotheken, Archiven, Sammlungen und Museen tätig; sie sind eigentliche «Brückenköpfe» zwischen der Welt der Wissenschaft und Forschung einerseits und der Welt der Dokumentation andererseits. Sie stellen damit jenen lebendigen Zusammenhang zwischen der Dokumentation und ihrer wissenschaftlichen Verwertung her, die mir unabdingbar scheint. Besonders in Museen sorgen sie dafür, dass die Inventarisierung nicht vollständig vernachlässigt wird und der Wissenschaft und Forschung erschliessen sie unschätzbare Quellenbestände.

Die SAGW ist selbst direkt mit der Dokumentation befasst, etwa mit den Nationalen Wörterbüchern, der Edition der Diplomatischen Dokumente der Schweiz, der Edition der Kunstdenkmäler der Schweiz, der Erfassung der mittelalterlichen Handschriften in schweizerischen Bibliotheken oder der Bauernhausforschung.

Indirekt ist die SAGW über zahlreiche ihrer Mitgliedgesellschaften in der Welt der Dokumentation integriert, doch fiele hier die Aufzählung wohl definitiv höchst bruchstückhaft aus, so dass wir beim problematischen Punkt sind. Die Beziehungen sind vielfältig und gut, doch fehlt der «Single point of entry»; Kontakte verlaufen nach konkreten Projekten, doch fehlt der institutionelle Schulterschluss, der es etwa ermöglichen würde, unsere gemeinsamen Interessen mit Kraft zu vertreten.

arbido: Was hat sich an diesen Beziehungen seit Beginn des Internetzeitalters und der fortschreitenden Digitalisierung geändert?

Markus Zürcher: Das Internet ist zunächst einmal das grosse Versprechen, die grosse Ermöglichung, doch kann das Internet immer nur das abbilden, was ist. In der Schweiz ist dies eine hoch segmentierte Landschaft und so werden einzelne Bestände relativ unverknüpft und in sich geschlossen, nach der jeweiligen Logik der federführenden Institution oder des Gegenstandbereiches erfasst. Die technisch mögliche Vernetzung erfolgt nur dann, wenn die Institutionen, welche digitalisieren, in der realen Welt miteinander vernetzt sind und dies ist nicht oft der Fall. Wir bemühen uns, doch dies ist aus einer Vielzahl von Gründen ausserordentlich schwierig. Unser jüngstes Projekt, welches wir mit der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte (SGG) ausgearbeitet haben und den Bundesbehörden zur Finanzierung empfehlen, ist infoclio.ch. Die Machbarkeitsstudie kann unter www.sagw. ch in der Rubrik Planung eingesehen werden. Auf einen kurzen Nenner gebracht, geht es darum, eine Plattform aufzubauen, auf welcher sämtliche für die historisch orientierten Disziplinen relevanten Quellenbestände verfügbar gemacht werden. Damit sollen eine Brücke zwischen Wissenschaft und Dokumentation geschaffen werden, die Sichtbarkeit historischer Forschung erhöht und ihre Erkenntnisse valorisiert werden. Ebenso soll infoclio.ch als Koordinations- und Beratungsstelle die Digitalisierung vorantreiben.

Es muss hier ganz klar festgehalten werden: Die Schweiz ist im Vergleich mit den umliegenden Ländern im Bereich der Digitalisierung von Kulturgütern ganz klar im Rückstand. Es sind einige wenige Institutionen, welche die Mittel haben, ihre Bestände auf dem Internet verfügbar zu machen. Die übrigen bleiben aussen vor.

André Malraux hat 1959 in seiner Funktion als Kulturminister das Ziel formuliert, allen Franzosen die wichtigen Werke der Menschheit zugänglich zu machen. Dieser Wille ist in Frankreich wirksam, und es bedarf dieses Willens, um die Möglichkeiten des Internets zu nutzen. In der Schweiz fehlt dieser.

Es ist denn auch bezeichnend, dass Koordinationsprojekte mit schöner Regelmässigkeit scheitern und nur die Bedrohungen des Internets dazu führen, dass sich die Reihen schliessen. Die gegenwärtige Bedrohung geht vom Digital Rights Management sowie der damit verbundenen Revision des Urheberrechtes aus: Die Anliegen von Kultur und Wissenschaft wurden bisher nicht berücksichtigt und dies könnte zur Folge haben, dass der freie Zugang zu Information über das Internet nicht erleichtert, sondern erschwert wird. Ebenso besteht die Gefahr, dass durch eine von Privaten finanzierte, nachgeholte Digitalisierung von Dokumentationen dazu führt, dass das, was bisher im «public domain» war, morgen im Privatbesitz ist, kurz: kostenpflichtig wird. Angesichts dieser Gefahr bildet sich gegenwärtig eine Koalition aller mit Dokumentation befassten oder daran interessierten Kreise, was sehr positiv ist. Wenn diese Koalition ins Positive gewendet im Sinne Malraux’ tätig wird, dann könnten wir in Kürze viel erreichen.

arbido: Geradezu pionierhaft hat die SAGW die Memopolitik als Thema ihrer Jahrestagung 2004 gewählt. Was hat Sie dazu bewogen?

Markus Zürcher: Ausgangspunkt war einerseits die von a. BR Ruth Dreifuss vorgeschlagene Memopolitik und andererseits unsere Idee, die Redaktionsstellen der Nationalen Wörterbücher in Landeskundliche Zentren zu transformieren. Die Redaktionen dokumentieren ja den gesamten historischen und lebendigen Sprachschatz unserer vier Sprachregionen und damit auch die gesamte Sachkultur. Vielfach verfügen sie auch über volkskundliche Sammlungen. So kam die Idee auf, regionale und lokale Dokumentationsstellen, insbesondere Lokalmuseen, aber auch bei uns laufende Projekte, wie die Bauernhausforschung, in Form solcher Zentren zusammenzuführen.

arbido: Zu welchen Ergebnissen hat die Tagung 2004 geführt?

Markus Zürcher: Nun, das Ergebnis war ernüchternd und es widerspiegelt die Hauptproblematik: Um Landeskundliche Zentren zu verwirklichen, müsste mit einer Vielzahl von Gemeinden, Städten, Privaten und Kantonen verhandelt werden. Dies übersteigt die Kapazitäten unserer Organisation. Selbstkritisch muss aber auch festgestellt werden, dass jede in diesem Bereich tätige Institution mit viel Liebe und ihrer Logik folgend sammelt und dokumentiert. Dabei entstehen kleine Kirchen oder grosse Kathedralen, jedenfalls nahezu hermetisch abgeschlossene Gebäude, die ihrem je spezifischen Bauplan folgen. Die gerade wissenschaftlich bedeutsamen Querbezüge gehen dabei verloren und die Verbindung könnte wohl nur gegen den Widerstand derjenigen hergestellt werden, welche über Jahrzehnte ihre Arbeit mit hohem Engagement getan haben.

arbido: Haben Sie eine Erklärung dafür, weshalb das ursprünglich von a.BR Ruth Dreifuss erteilte Mandat zunächst kaum Resonanz gefunden hat?

Markus Zürcher: Ich glaube, dass wir die Gründe bereits identifiziert haben: Zu viele sind zuständig, und damit ist niemand mehr zuständig. Bereits in demselben Departement, dem Departement des Innern, wird die Finanzierung von Dokumentationsarbeiten zwischen zwei Ämtern, dem Bundesamt für Kultur und dem Staatssekretariat für Bildung und Forschung, mit der Folge hin und her geschoben, dass diese Anliegen buchstäblich zwischen Tisch und Stuhl fallen. 

Bundesparlamentarier haben kürzlich ein Departement für Wissenschaft, BildungundInnovation,womitTechnologie gemeint ist, gefordert. Die Kultur wird wie selbstverständlich vergessen. Wenn schon, dann müsste ein Departement für Wissenschaft, Bildung und Kultur geschaffen werden und es müssten Digitalisierungsinitiativen gestartet werden, wie dies in Frankreich, Deutschland und Österreich geschah.

arbido: Hat sich Ihrer Einschätzung nach in der Praxis seit 2004 bezüglich Memopolitik etwas getan, gar verbessert?

Markus Zürcher: Ein gewisses Bewusstsein entwickelt sich, doch ist angesichts einer m.E. verfehlten Konzentration der Bildungs- und Forschungspolitik auf die Leerformel Innovation eher damit zu rechnen, dass es noch schwieriger wird, Finanzen für die Inventarisierung und Dokumentation zu erhalten. Wie gesagt, hat die Gefahr, dass unser kollektives Gedächtnis via Digitalisierung in den Besitz von Privaten gelangen könnte, Bewegung gebracht.

arbido: Welche Bedeutung haben Schenkungen und Nachlässe für eine erfolgreiche Memopolitik? Gibt es Informationen, Standards, Auskunfts- und Regelmöglichkeiten, was wie wo für wen wie lange usw. aus Schenkungen und Nachlässen aufbewahrt werden soll/muss resp. was in Brockenhaus, Altpapiersammlung oder Schuttmulde gehört? Haben Sie Kenntnis von Stellen, die einen lokalen Verein, eine «einfache» Privatperson dahingehend beraten könnten?

Markus Zürcher: Schenkungen und Nachlässe sind immer dann problematisch, wenn diese mit der Auflage erfolgen, die Bestände geschlossen zu halten. Meines Erachtens sollten die damit bedienten Stellen die Freiheit haben, diese im Kontext ihrer Dokumentationstätigkeit zu verwerten. Das Bundesarchiv verfügt (via Förderverein, Red.) über eine privatrechtlich organisierte Stelle, welche gegen Entgeld die korrekte Archivierung von Privatbeständen sicherstellt.

arbido: Welche Bedeutung messen Sie jetzt, 2006, der immer schnelllebiger werdenden Alltagskultur bei? Was wäre da im Sinne einer nachhaltigen Memopolitik zu unternehmen?

Markus Zürcher: Sicher ist diese Alltagskultur bedeutsam, doch gerade hier zeigt sich die absolute Notwendigkeit der Koordination. Es kann und darf nicht sein, dass in einem so kleinen Land wie der Schweiz hundert Museen Fernsehapparate oder Radios aus den Jahren 1960 bis 1990 sammeln! Der Verband der Museen der Schweiz hat nun die Initiative ergriffen und versucht, die Sammeltätigkeit arbeitsteilig zu koordinieren. Aber wie gesagt: alle diese Koordinationsbemühungen erfolgen freiwillig, und den Sonderzügen kann weder mit Vorschriften noch mit Geld begegnet werden.

arbido: Nochmals zur Bedeutung von Privaten: Wie sehen Sie deren Rolle einerseits als Produzierende, Sammelnde, Besitzende, andererseits als mögliche Geldgeber einer dauerhaften Memopolitik?

Markus Zürcher: Als Geldgeber sehe ich sie definitiv nicht! Mäzenatentum wurde durch Sponsoring abgelöst, und Sponsoring bedeutet «Einschaltquote»: so finanziert Crédit Suisse die Formel 1, weil die halbe Welt Autorennen schaut; bereits eine Ausstellung, die vielleicht 50000 Personen anzieht, ist für sie kaum ein Thema. Sammlungen von Privaten sind zweifellos wertvoll, doch ist ihre langfristige Betreuung und Pflege selten gesichert.

arbido: Welche Anforderungen haben Sie in Sachen Memopolitik betreffend Technik und Zugänglichkeit für Allgemeinheit, Bildung und Forschung?

Markus Zürcher: Die Technik ist wie gesagt da und die Zugänglichkeit gegenwärtig in hohem Masse gefährdet, und deshalb muss hier in den nächsten Monaten massiv Gegenwehr geleistet werden. Grundsätzlich gilt: Was in welcher Form auch immer mit öffentlichen Mitteln bezahlt wurde oder Teil des kollektiven Gedächtnis geworden ist, muss für die Allgemeinheit, die Bildung und die Forschung frei zugänglich sein. Mit diesem Grundsatz steht und fällt insbesondere die so erfolgreiche westliche Wissenschaft.

arbido: In Ihren Publikationen zum Thema ist mehrmals von einer «Verbindung zwischen Dokumentation und Reflexion» die Rede: Was meinen Sie damit?

Markus Zürcher: Aus der Perspektive der Geistes- und Sozialwissenschaften ist Sammlung und Dokumentation kein Selbstzweck. Vielmehr sollen die Bestände befragt und interpretiert werden, ein Dialog mit den Zeugnissen geführt werden; jede Generation soll ihre spezifischen Fragen an das Material herantragen. Die lebendige Verbindung zwischen der Dokumentation einerseits und der Forschung und Lehre andererseits kann denn auch verhindern, dass in sich zwar perfekte, jedoch hermetisch abgeschlossene Kirchen und Kathedralen gebaut werden, die ihrer Verbindungen und Kontexte verlustig gehen.

Die in Sammlungen und Dokumentationen erfasste Vergangenheit erscheint dabei nicht nur als das, was je aktuell war, sondern auch als das, was je wieder aktuell werden könnte. Es bildet sich somit ein Reservoir von grundsätzlich aktualisierbaren Möglichkeiten und künftige Entwicklungen werden prästrukturiert. Zukunft ist daher nicht die Verlängerung der Gegenwart, sondern kann immer auf die Omnipräsenz der erinnerten Vergangenheit zurückgreifen. Das Neue ist daher oftmals Erneuertes.

arbido: Welche konkreten Wünsche und Forderungen haben Sie an die von BAK-Direktor Jean-Frédéric Jauslin proklamierte künftige «kohärente Memopolitik der Schweiz»?

Markus Zürcher: Sicher einmal griffige Massnahmen zur Sicherstellung der Kohärenz und dazu braucht es finanzielle Anreize, Instrumente und Regeln und vor allem einen Willen und Personen, die diesen Willen verkörpern.

Ebenso ist entscheidend, dass der freie Zugang zu den Informationen gewährleistet bleibt, die Digitalisierung nicht mit Zugangsbeschränkungen erkauft wird.

arbido: Wie sehen Sie eine Schweizer Memopolitik im globalen Kontext?

Markus Zürcher: Wie bereits vermerkt: die Schweiz ist wegen ihrem im Bereich der Kultur besonders ausgeprägten Föderalismus massiv in Rückstand geraten und die Kleinkammerung schlägt in Kleinlichkeit um, wenn es darum geht, grössere Initiativen zu ergreifen.

Wir riskieren, dass wir uns eines Tages gegen Entgeld auf amerikanischen Servern über unser Kulturgut informieren. Das ist umso bedauerlicher, als die Schweiz aufgrund ihrer europäischen, transatlantischen und weltweiten Verflechtung über Bestände verfügt, die weltweit auf Interesse stossen würden. 

markus.zuercher@sagw.ch