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2006/1 Memopolitik – vom Umgang mit dem Gedächtnis der Gesellschaften

Schenkungen und Nachlässe: Bereicherung und/oder Belastung?

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Schwierige Platzverhältnisse und Kürzungen der öffentlichen Mittel sind Probleme, mit denen sich wissenschaftliche Bibliotheken angesichts der steigenden Zahl von Publikationen, Schenkungen und Nachlässen konfrontiert sehen. Ob Schenkungen und Nachlässe für Bibliotheken heutzutage eine Bereicherung oder eine Belastung darstellen oder ob sie das eine wie das andere bedeuten, wird im Folgenden am Beispiel der Zentralbibliothek Zürich nachgegangen.

Als 1917 die neu erbaute Zentralbibliothek am Zähringerplatz ihren Betrieb aufnahm, wurden die Bestände der 1629 gegründeten Stadtbibliothek und der 1835 gegründeten Kantonsbibliothek (hervorgegangen aus der Bibliothek des Chorherrenstifts Grossmünster) zusammengeführt. In diesem neuen Bestand sind Geschenke und Nachlässe von Zürcher Persönlichkeiten und von Gönnern ohne klingende Namen aufgegangen. Diese Donationen zählten bereits Anfang des 20. Jahrhunderts – und gehören heute erst recht – zum zürcherischen Kulturgut. Sie werden in den Spezialsammlungen gehütet, sind in Sonderkatalogen verzeichnet und stehen der Forschung zur Verfügung. Die Frage, ob sie eine Bereicherung oder eine Belastung bedeuten, wurde damals nicht aufgeworfen.

Die Zeiten haben sich geändert. Die Medienschwemme hat auch die Bibliotheken erfasst; zudem ist der Kreis der Schenker um ein Vielfaches grösser geworden. Nicht im gleichen Umfang zugenommen haben indessen weder die Laufmeter Büchergestelle, über die Bibliotheken für die Aufbewahrung von Ankäufen und Geschenken verfügen, noch die Mittel zu deren Bearbeitung. Vielerorts haben Platz- und Finanzprobleme ein solches Ausmass erreicht, dass das Bundesamt für Kultur den Projektauftrag erhalten hat, Richtlinien zu erarbeiten, welches Kulturgut künftig zu sammeln, in welcher Form es zu dokumentieren und von welchen Institutionen es zu betreuen sei.

Wichtig ist der Sammelauftrag des Hauses

Damit Geschenke und Nachlässe nicht zur Belastung werden, müssen sowohl der sachliche Rahmen stimmen als auch die nötige Fachkompetenz und die Kapazität zur Bearbeitung vorhanden sein, damit sie innerhalb nützlicher Frist erschlossen werden können. Deshalb ist es unerlässlich, sich stets den Sammelauftrag des Hauses vor Augen zu halten. Jener der Zentralbibliothek ist in Art. 2 der Statuten festgehalten: Sie umfasst und sammelt unter besonderer Berücksichtigung einerseits der allgemeinen wissenschaftlichen Literatur und andererseits des ort- und landesgeschichtlichen Materials: a) Druckschriften; b) Handschriften; c) Karten; d) Porträte und Ansichten; e) allfällige andere Gegenstände, welche zur Ergänzung von bereits bestehenden oder neu übernommenen Sammlungen der Bibliothek dienen, oder für deren Pflege diese die nächste Stelle ist. Auf dem Gebiet der allgemeinen wissenschaftlichen Literatur sind in erster Linie die an der zürcherischen Universität vertretenen Disziplinen zu berücksichtigen.

Das ist ein umfangreicher, jedoch klarer Auftrag, der nicht nur die Aufgaben der Zentralbibliothek als Kantons- und Stadtbibliothek umreisst, sondern sie auch gegenüber jenen von Stadt- und Staatsarchiv abgrenzt.

Für die Zentralbibliothek als Stadt- und Kantonsbibliothek lautet der Sammelauftrag gemäss der eigenen Bibliotheksordnung vom 11. Februar 1915: Turicensia sollen vollständig ... gesammelt werden. Turicensia sind:

1. in Stadt und Kanton erschienene Medien, ohne Rücksicht auf Erscheinungsweise innerhalb oder ausserhalb des Verlagsbuchhandels;

2. Medien von zürcherischen Verfassern und Urhebern;

3. weltweit erschienene Medien über Stadt und Kanton Zürich.

Bekenntnis der Öffentlichkeit zur Bibliothek

Kulturelle Institutionen und Dozenten

Wegen der Sorge um die prekären Platzverhältnisse in den Bibliotheken und wegen der Budgetkürzungen der öffentlichen Hand gerät die Tatsache in den Hintergrund, dass Geschenke das Erwerbungsbudget stark entlasten. Nicht zu vergessen ist auch: Ein Geschenk ist immer ein Bekenntnis zur Bibliothek, und dieses Wohlwollen stellt einen grossen kulturellen und kulturpolitischen Wert dar. Dieser positiven Wahrnehmung und dem Interesse breiter Kreise der Bevölkerung sind die alljährlich zahlreichen Donationen an die Zentralbibliothek zu verdanken, wobei die Geschenkgeber Vereine, kulturelle Institutionen, Tauschpartner, Verlage, Autoren, Sammler usw. sein können.

Kulturelle Institutionen wie beispielsweise der 1917 gegründete Verein «Gesellschaft von Freunden der Zentralbibliothek» finanzieren zuhanden der Zentralbibliothek Ankäufe, die sonst für sie unerschwinglich wären.

Dozenten sind als Angehörige der Universität Zürich verpflichtet, der Zentralbibliothek von jedem selbstständigen wissenschaftlichen Werk, das sie während ihrer Lehrtätigkeit an der Universität veröffentlichen, ein Exemplar abzugeben. In den meisten Fällen sind Hochschullehrer ohne weiteres bereit, darüber hinaus freiwillig ihre wissenschaftlichen Publikationen zu schenken, selbst wenn sie nur einen Beitrag als Herausgeber oder Koautor geleistet haben und keinen Beleg schicken müssten. Geschenke dieser Art sind eine Bereicherung, da sie meist unaufgefordert, somit ohne Beschaffungsaufwand bei Erscheinen kostenlos eintreffen, danach prioritär katalogisiert und den Benutzern, vorab den Studenten, zur Verfügung gestellt werden.

Schriftentausch

Ein nach wie vor wichtiger Geschenkbereich für eine wissenschaftliche Bibliothek ist der Schriftentausch. Die Zentralbibliothek übernimmt den Schriftentausch für die Universität Zürich (Dissertationen, Jahresberichte, Zürcher Universitätsschriften usw.), für die Naturforschende, die Antiquarische und die Geographisch-Ethnographische Gesellschaft sowie für die eigenen Publikationen. Trotz der Publikationsmöglichkeit im Internet unterhält die Zentralbibliothek weltweit 1365 Tauschpartnerschaften in siebzig Ländern. So konnte die Zentralbibliothek im Jahr 2005 insgesamt 6760 Bibliothekseinheiten als Einzelwerke, Fortsetzungen, Zeitschriften, Dissertationen und Karten entgegennehmen. Diese Geschenke sind eine effiziente Weise, um durch Tauschvereinbarungen von in- und ausländischen Universitäten, Instituten und Institutionen publizierte Forschungsergebnisse aus allen Wissensgebieten zu erhalten, die im Buchhandel kaum oder nur mit grossem administrativem Aufwand zu beziehen wären. Müssten diese wissenschaftlichen Veröffentlichungen käuflich erworben werden, würde dies den Erwerbungskredit merklich belasten.

Autoren und Verlage

Von unschätzbarem Wert für die Zentralbibliothek mit ihrem umfassenden Turicensia-Sammelauftrag ist die Unterstützung, die sie von den Zürcher Autorinnen und Autoren und von den im Kanton ansässigen Buch- und Zeitungsverlagen erfährt. Da der Kanton Zürich ein dépôt légal nicht kennt, schenken die einen wie die andern der Zentralbibliothek ihre Werke und Produktionen. Im Gegenzug garantiert die Zentralbibliothek den Autorinnen und Autoren die Aufnahme in ihren Bestand. Verlagen bietet die Zentralbibliothek als einzige Schweizer Bibliothek die Möglichkeit, ihr ihr Bucharchiv zu übergeben, das als Dokument der Geschichte des zürcherischen Verlagswesens katalogisiert und dann mit einer Sperrsignatur versehen geschlossen aufgestellt wird und dem Verlag als ausgelagertes Archiv weiterhin zur Verfügung steht. Da die Verlage selten ein vollständiges Archiv besitzen, unterstützt sie die Zentralbibliothek bei der Komplettierung des Archivbestandes. Für die Buchforschung ist es in Anbetracht der unruhigen Zeiten in der Zürcher Verlagslandschaft wesentlich, dass wichtige Archive aufgelöster Verlage wie Oprecht, Rascher, Rentsch, Classen usw. und diejenigen der meisten heute aktiven Verlage in der Zentralbibliothek hinterlegt sind. Erfreulicherweise sind Verlage zunehmend daran interessiert, ergänzend zum Bucharchiv auch das Verlagsarchiv zu übergeben.

All diese Geschenkgeberinnen und Geschenkgeber, die die Zentralbibliothek mit ihren Neuerscheinungen in ihrem Bemühen unterstützen, die Benutzer in den verschiedenen Wissensgebieten mit den neusten Medien zu versorgen, täuschen nicht darüber hinweg, dass diese Donationen heute noch leicht ersetzbar und weitgehend geschichtslos sind und lediglich als eine Momentaufnahme des aktuellen Interessensstandes betrachtet werden könnten. Weder gelten sie unbedingt als Bereicherung noch als Belastung, sondern eher als selbstverständliche Hilfsmittel, die in einer wissenschaftlichen Bibliothek greifbar zu sein haben. Diese Donationen sind zudem der auf Zusehen hin geduldete Teil des Bestandzuwachses, weil hier am ehesten und wahrscheinlich zu Recht der Traum einer digitalisierten Bibliothekswelt geträumt werden darf. Das wäre eine durch Zugangsberechtigungen zwar keineswegs kostenlose Welt, aber immerhin eine Welt mit Volltext-Daten-zugriffen, die die Compactus-Anlagen entlasten.

Privatbibliotheken und Nachlässe

Um bei geschenkten Privatbibliotheken die Frage «Bereicherung oder Belastung?» beantworten zu können, muss zwischen kleinen und umfangreichen Beständen unterschieden werden. Bei kleineren, älteren und sehr spezialisierten Buchgeschenken gestaltet sich die Dublettenkontrolle häufig Zeit raubend. In der Jahresplanung bleiben sie zudem meist unberücksichtigt, da sie zu gering sind und neben dem Tagesgeschäft bewältigt werden müssen. Obwohl oft exquisit, aber vom Umfang her zu wenig aufsehenerregend, um einer Pressemitteilung würdig zu sein, werden sie ohne viel Aufhebens als Ergänzung in den Bibliotheksbestand integriert.

Mit einer umfangreichen Privatbibliothek indessen gelangt das Lebenswerk einer kundigen Sammlerseele in den Besitz der Zentralbibliothek. Das Spezialwissen, das über Jahre in sie eingeflossen ist, kann ein Fachreferent nicht bieten. Umfangreiche Privatbibliotheken sind von ihrer Anlage her einmalig und werden, um die Sammlung an sich zu dokumentieren, mit einer eigenen Signatur versehen. Solche Geschenke können neue Schwerpunkte bilden, und als neue Schwerpunkte ziehen sie neue Forscherkreise an. Sie verleihen dem Bestand einer Bibliothek Dynamik und Leben.

Desgleichen sind Vor- und Nachlässe einmalig und unersetzbar. Die Zentralbibliothek hat im Lauf der Zeit im Rahmen des zürcherischen Schrifttums 750 handschriftliche Nachlässe von Gelehrten, Schriftstellern, Komponisten, bildenden Künstlern und Personen des öffentlichen Lebens übernommen. Dem Kanton, der Stadt oder der Universität nahe stehende Privatpersonen übergaben Zeugnisse ihres Wirkens der Zentralbibliothek, um sie der Forschung zugänglich zu machen. Solche Geschenke sind inhaltlich komplex, hier ist die Bibliothek als Partnerin aufgefordert, ihren Teil beizutragen: Sicherheit, Schutz vor Verlust und Zerstörung, professionelle Aufbewahrung, Erschliessung und Aufstellung in den Spezialabteilungen, um die Geschenke noch besser an das interessierte Publikum heranzuführen und sie für die Forschung aufzubereiten.

Sei es eine einzelne Monografie, ein Briefwechsel, seien es Notenhandschriften oder die mehrere tausend Einheiten umfassende Privatbibliothek eines Gelehrten – jedes Geschenk ist, wenn es dem Sammelprofil einer Bibliothek entspricht und somit die zuständigen Fachleute sich seiner annehmen, eine Bereicherung. Oft stellen die Geschenke hohe Anforderungen an den Bibliothekar: Bei der Katalogisierung fallen alle Schwierigkeitsgrade an, bei einem Nachlass muss oft erst ein Weg gefunden werden, ihn sinnvoll zu ordnen. Arbeitskapazitäten können knapp werden, wenn umfangreiche Geschenke gehäuft eingeliefert werden oder wenn sie falsch eingeschätzt und in der Planung unsorgfältig eingeplant wurden. Geschenke gehören jedoch nicht als aufschiebbare Arbeiten ins nächste und übernächste Berichtsjahr verlagert – die Bibliothek schuldet dem Schenker und der Öffentlichkeit eine Bearbeitung innerhalb nützlicher Frist.

Fazit

Sollte eine Bibliothek der Versuchung erliegen, Donationen wegen möglicher Engpässe eher als abschaffungswürdige Belastung denn als Bereicherung zu betrachten, mag es ratsam sein, sich vorzustellen, wie der Bestand der Zentralbibliothek Zürich ohne die vielen kleineren Geschenke, wie der Forschungsplatz Zürich ohne die zahlreichen substanziellen Nachlässe wie jene von Bodmer, Breitinger, Keller, Meyer, Canetti, Carl Seelig, Kokoschka, Warja Lavater, Furtwängler, Schoeck usw. und geschenkte Bibliotheken wie zum Beispiel die «Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung» aus- sähe.

Wie alle namhaften Bibliotheken ist auch die Zentralbibliothek Zürich nicht zuletzt dank Geschenken zu ihrem Renommee gelangt. Was, wenn an der Zusammenschau über die Jahrhunderte des hiesigen kulturellen und intellektuellen Lebens, die der Bestand bietet, nicht mehr weitergearbeitet würde?

Wenn der Bildungs- und Forschungsplatz Zürich zur Debatte steht und eine Stadt-, Kantons- und Universitätsbibliothek für alle Bürger da sein soll, so ist es nötig, dass Geschenke auch künftig angenommen, auf hohem Niveau bearbeitet werden und der Öffentlichkeit mitten in der Stadt zur Verfügung stehen, obwohl für viele Benutzer und zum Schutz wertvoller Bestände die Digitalisierung tatsächlich ein Segen ist.

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Anne-Marie Wells

Leitung Tausch und Geschenke, Zentralbibliothek Zürich