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2006/1 Memopolitik – vom Umgang mit dem Gedächtnis der Gesellschaften

Archive und Memopolitik. Von der verführerischen Kraft des Ungefähren

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Der Begriff Memopolitik taucht seit rund fünf Jahren immer wieder in der politischen Diskussion auf, und er hatte letzten Sommer anlässlich der ersten Zwischenbilanz von Jean-Frédéric Jauslin, dem neuen Direktor des Bundesamtes für Kultur, erneut Konjunktur (Vgl. die Medienberichterstattung zu diesem Anlass, stellvertretend für viele andere z. B. der Artikel: Wie viele Museen soll der Bund verwalten? NZZ 29. Juni 2005).

Ich bin dem Begriff in der schweizerischen Politik 2001 zum ersten Mal begegnet, als die damalige Bundesrätin Ruth Dreifuss der Kommission der Schweizerischen Landesbibliothek den Auftrag gab, Grundsätze für eine schweizerische Memopolitik zu erarbeiten. Erstes Ergebnis dieser Arbeit ist für mich der Bericht von Peter Knoepfel und Mirta Olgiati, «Politique de la mémoire nationale» von 2005, auf den ich mich hier im Wesentlichen bezieheKnoepfel, Peter, Olgiati, Mirta, Politique de la mémoire nationale. Etude de base de l’IDHEAP, Chavannes-Lausanne (Cahier de l‘IDHEAP no 224), 2005, im Folgenden nur noch kurz Bericht genannt..

Was ist aber überhaupt unter Memopolitik zu verstehen? Welche Bedeutung hat eine Memopolitik für die Archive in der Schweiz? Auf die erste Frage wird der facettenreiche Themen- schwerpunkt des ersten neuen arbido als Ganzes eine Art Antwort geben. Ich beschränke mich im Folgenden primär auf einen Kommentar aus archivischer Sicht und werde, nach einer definitorischen Grundsatzüberlegung im Sinne einer einleitenden Vorbemerkung (1) drei Aspekte besonders herausgreifen: das Modell des Prozesses der Gedächtnisproduktion (2), die Frage nach Effektivität und Effizienz im Gedächtnismanagement (3) und die Frage nach der Systemsteuerung im Bereich der Gedächtnisproduktion (4). In meinen Schlussfolgerungen (5) werde ich dann aus gleicher Perspektive Alternativen skizzieren.

1 Vorbemerkung

Der Begriff «mémoire nationale» hat etwas Ambivalentes. Es ist nicht sicher, ob alle, die ihn brauchen, immer das Gleiche damit meinen. Die Ambivalenz bzw. die Notwendigkeit einer genau(er)en Begriffsbestimmung zeigt sich bei den unterschiedlichen Möglichkeiten, «mémoire» ins Deutsche zu übertragen – von der Vieldeutigkeit des Begriffs des Nationalen ganz zu schweigenIn diesem Kontext interessant ist, wenn auch etwas zufällig, der Hinweis auf die Schwierigkeit, die der Europarat hat, diesen Begriff genauer zu definieren und auch noch eine konsensuelle Definition zu finden, s. den Bericht des Committee on Legal Affairs and Human Rights, The Concept of Nation, 13. Dezember 2005 (http://assembly.coe.int/Main.asp?link=/Documents/WorkingDocs/Doc05/EDOC10762.htm, 14.2.2006) bzw. Die Nation als Bindeglied in Europas Politik. Suche des Europarates nach klaren Minderheiten-Regeln, NZZ 13. Februar 2006, S. 2.. Diese grundsätzliche Frage muss am Anfang geklärt werden, damit in den folgenden Diskussionen und Aushandlungen nicht unnötige Missverständnisse aufkommen.

1.1 Soll «Politique de la mémoire nationale» Erinnerungspolitik ...

Zuerst also: Meint «mémoire» Erinnerung oder Gedächtnis? Was hat es mit dieser Doppeldeutigkeit auf sich? Meist ist in deutschen Texten von Gedächtnispolitik die Rede, nur weder im Bericht noch in anderen Äusserungen zum Thema ist die Differenz zu einer Erinnerungspolitik wirklich klar genug. Die Doppeldeutigkeit kann durchaus ihren Reiz haben. Und doch: der französische Begriff ergänzt um das Attribut national – «mémoire nationale» – weckt so viele Assoziationen, dass eine Klärung wichtig ist, und zwar im Sinne einer expliziten Absage an die Idee einer (national-)staatlichen Erinnerungspolitik.

Nationale Erinnerungspolitiken sind real (wenn auch in sich oft widersprüchlich) und präsentieren sich in vielfältigen Formen wie, als eines der jüngsten Beispiele, das französische Gesetz «Loi portant reconnaissance de la Nation et contribution nationale en faveur des Français repatriés» zeigt, welches im Februar 2005 verabschiedet worden war. Dieses Gesetz schreibt fest, dass Forschung und Schulunterricht die Verdienste der französischen Präsenz in Nordafrika (angemessen) zu würdigen hättenArticle 4: «Les programmes scolaires reconnaissent en particulier le rôle positif de la présence française outre-mer, notamment en Afrique du Nord, et accordent à l’histoire et aux sacrifices des combattants de l’armée française issus de ces territoires la place éminente à laquelle ils ont droit.».. Eine solche inhaltlich-wertende Bestimmung der Erinnerung vorzunehmen, mag zwar politischer Wille sein, sie ist aber weder der Forschung noch der Schule angemessen. Es scheint bezeichnend, dass eine solche Bestimmung in ein Gesetz aufgenommen wurde, welches die Anerkennung einer sozialen Gruppe – der repatriierten Franzosen – regelt. Das funktioniert nur, wenn der Blick auf deren Geschichte mitgeregelt wird, weshalb, aus zwar nachvollziehbaren, aber nicht zwingend zu teilenden Gründen, deren persönliche Erinnerung zum kollektiven Erinnern werden soll. Partikuläres Erinnern zum kollektiven zu machen, ist problematisch (und in den Medien entsprechend kommentiert und kritisiert worden). Dass die Vergangenheit sich im persönlichen Erinnern sowie in Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung unterschiedlich darstellt und auch verschieden bewertet wird, dass sie sich auch innerhalb der Forschung und wissenschaftlichen Darstellung immer wieder verändert, ist ein Phänomen, das wir selber aus den jüngeren Diskussionen in der Schweiz und über die schweizerische Geschichte kennen, und in dieser notwendigen Unterschiedlichkeit und laufenden Veränderung begründet sich auch die Brisanz einer Memopolitik als nationaler Politik. Es sei zumindest daran erinnert, dass zur Nation nach Ernest Renan gerade die «Fälschung der eigenen Geschichte» gehöre«L’oubli et je dirais même l’erreur historique, sont un facteur essentiel de la formation d’une nation [...]»: Renan, Ernest, Qu’est-ce que c’est une nation? Paris 1882, zitiert nach Hobsbawn, Eric, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, München 1996, S. 24..

Das Gedächtnis – als notwendige Voraussetzung für Erinnerung – muss aus archivischer Perspektive inhaltlich nutzungsneutral geformt werden, nicht bezogen auf ein inhaltlich bestimmtes Geschichtsbild. Zielsetzung der Archivierung ist nicht die Geschichtsschreibung. Archive überliefern Unterlagen, welche der Forschung als Grundlagen zur Geschichtsschreibung durch Auswertung und Interpretation dienen – nach traditioneller Terminologie überliefern sie Überreste, nicht Traditionsquellen, auch wenn diese Trennung so scharf nicht immer gemacht werden kann. Archive müssen also – wie Bibliotheken und Museen – darauf achten, dass sie nicht Instrumentalisierungsversuchen (oder Manipulierungsversuchen) erliegen. Die Gefahr der Memopolitik ist, zumindest theoretisch, dass eine Variante von George Orwells Miniwahr (Ministerium für Wahrheit) aus dessen Dystopie 1984 entsteht, welches entsprechend wechselnden politischen Bedürfnissen die (historische) Wahrheit immer wieder neu bestimmt und nicht nur die Geschichte umschreibt, sondern auch die dazupassende Quellenlage schafft.

1.2 ... oder Gedächtnispolitik sein?

Wir beschränken uns hier darauf, unter Memopolitik Gedächtnispolitik zu verstehen. Das bedeutet, dass wir diesen neuen Politikbereich unter dem Blickwinkel einer Infrastrukturpolitik abhandeln.

Bleibt die Frage, was es bedeutet, diese Betrachtungen aus archivischer Perspektive anzustellen? Der Bericht befasst sich ja hauptsächlich mit Archiven und Bibliotheken, die beide trotz unterschiedlicher Benennung gleiche Funktionen ausüben können, wie z.B. das Bundesarchiv und die Landesbibliothek, die beide zur Gruppe der funktionalen Archive gezählt werden1. Und trotzdem: Selbst wenn Bibliotheken wie die Landesbibliothek wie Archive erscheinen mögen, gibt es doch fundamentale Unterschiede – in den Aufgaben und Funktionen, in den zu überliefernden Objekten und in deren Herkunft etc. –, die man bei allen Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten nicht vergessen sollte. Eine präzise Analyse als tragfähige Grundlage für eine (neue) Politik muss sowohl das Gemeinsame als auch das Unterschiedliche exakt erfassen, sonst entwickelt sie unpassende Lösungen für als wichtig erkannte Probleme, anstatt wirklich zukunftsweisende Anstösse zu geben.

Als Kerndefinition von Archiven und Umschreiben ihrer Funktionen mag die Definition des Internationalen Archivrates gelten: «Archives constitute the memory of nations and of societies, shape their identity, and are a cornerstone of the information society. By providing evidence of human actions and transactions, archives support administration and underlie the rights of individuals, organisations and states. By guaranteeing citizens’ rights of access to official information and to knowledge of their history, archives are fundamental to democracy, accountability and good governance.»2

Die Abgrenzung gelingt mit dieser Definition nur teilweise trennscharf: Bibliotheken und Museen werden ebenfalls als Gedächtnisse der Nation verstanden und bezeichnen sich teilweise auch selber so, sie tragen auch zur Identitätsbildung bei, und auch sie unterstützen Verwaltungen in deren Arbeit. Die rechtsstaatliche Funktion allerdings und der Demokratiebezug machen einen wesentlichen Unterschied zwischen Archiven und anderen Institutionen in – wenn die Terminologie schon sein muss – der Gedächtnisbranche aus, was Auswirkungen auf die Funktionalität der zu überliefernden Unterlagen, deren Herkunft und deren Zugänglichkeit hat.

2 Die Produktion des Gemeingutes Gedächtnis

Dem Bericht liegt ein interessantes Modell des Produktionsprozesses von Gedächtnis zugrunde3. Dieser Prozess läuft selbständig in vier Schritten ab. Zu jedem dieser vier Schritte gehört eine bestimmte Leistungsfähigkeit, und jeder Schritt zeichnet sich aus durch eine besondere Form der (mengenmässigen) Reduktion der Überlieferung (Gedächtnisinhalte). Knapp zusammengefasst präsentiert sich dieser Produktionsprozess folgendermassen:

1. Schritt: Was ist überhaupt überlieferbar? Die Fähigkeit, genug Gedächtnisträger zu produzieren.

2. Schritt: Was ist überlieferungswürdig? Die Fähigkeit und der Wille, über die Überlieferungswürdigkeit zu entscheiden.

3. Schritt: Was wird tatsächlich überliefert? Die Fähigkeit, das Überlieferungswürdige auch zu bearbeiten, d.h. sowohl zu erschliessen (katalogisieren) als auch aufzubewahren.

4. Schritt: Was aus dieser Überlieferung ist auch nutzbar? Die Fähigkeit, das real Überlieferte auch ohne Risiko eines Verlustes wieder benutzbar zu machen.

Nur ein (kleiner) Rest tatsächlich nutzbarer Überlieferung ist dann der produzierte Gedächtnisinhalt.

Beschreibt dieses Modell die Archivierung in angemessener Weise? Fast – ich möchte hier allerdings exemplarisch drei Einwände formulieren.

2.1 Einwand 1: Archivierung beginnt vor der Produktion von Unterlagen

Im vorliegenden Modell gibt es zu den vier Prozessschritten noch zusätzlich zwei externe Elemente, die nicht Teil des Produktionsprozesses des Gemeingutes Gedächtnis sind: Die (vorgelagerte) Datenproduktion (Produktion des Rohstoffes für die Gedächtnisproduktion) und die (nachgelagerte) Nachfrage nach Gedächtnisinhalten. Aus klassischer Archivsicht – und das gilt sowohl für öffentliche als auch für private (Firmen-)Archive – ist diese vorgelagerte Produktion von Daten nicht ausserhalb des Archivierungsprozesses angesiedelt. Seit langem plädieren ArchivarInnen dafür, die Archivierung als Teil eines information lifecycle managements (ILM) zu verstehen, welcher Entwicklung und Betrieb von Informationssystemen, Datenverarbeitung einschliesslich der ursprünglichen Ordnung von Unterlagen, Auswahl von archivwürdigen Unterlagen und deren spätere Archivierung in ganzheitlicher Sicht verbindet, koordiniert und organisiert. Die rasanten technischen Entwicklungen mit ihrer unkontrollierbaren Vielfalt von (z. T. proprietären) Daten- und Dateiformaten hat ganzheitliches Denken gefördert. Mit solcher Vielfalt kann in ökonomisch vertretbarem Rahmen keine zuverlässige Archivierung gewährleistet werden, wenn die Archive erst im Zeitpunkt einer möglichen Übernahme von überlieferungswürdigen Unterlagen diese Vielfalt bewältigen müssten. Wäre die Trennung zwischen einem System der Gedächtnisproduktion und einem vorgelagerten System wirklich wie im Modell vorgestellt, dann würde praktisch bereits beim ersten Selektionsschritt eine Totalreduktion erfolgen, weil die Archivierbarkeit nur noch in höchst beschränktem Ausmass gegeben wäre.

Das gleiche gilt für den dritten Prozessschritt, die tatsächliche Überlieferung, die nicht nur die Aufbewahrung, sondern auch die Erschliessung (Klassierung in der Terminologie des Berichts) umfasst. Eine Erschliessung von Unterlagen erst während der Gedächtnisproduktion wäre nicht mehr möglich bzw. würde einen ausserordentlich hohen Aufwand bedeutenIn der Regel gehen wir davon aus, dass von einer Person an einem Arbeitstag rund 25 cm vollständig ungeordneter Unterlagen erschlossen werden können. Jährlich übernimmt das Bundesarchiv zur Zeit durchschnittlich zwei Laufkilometer Akten. Hochgerechnet würde das bedeuten, dass pro Jahr 8000 Arbeitstage für deren Erschliessung benötigt werden, d.h., rund 37 Personen wären damit vollständig beschäftigt; das entspricht mehr als 80% des heutigen Personalbestandes. Ohne dieses Personal würde einfach der berühmte Pendenzenberg exponentiell zunehmen, welchen dann künftige ArchivarInnen-Generationen abtragen dürften, wenn diese aufbewahrten Unterlagen mehr als nur Altpapier sein sollen.. Es ist also unabdingbar, dass nicht nur die technische Archivierungsfähigkeit von Anfang an mitgedacht und mitgeplant wird, sondern auch die langfristige Intelligibilität des späteren Archivgutes muss schon bei der Entstehung von Unterlagen sichergestellt werden. Das archivische Modell der Gedächtnisproduktion geht deshalb von der Annahme aus, dass das, was den ProduzentInnen von Unterlagen an Ordnung und Erschliessung dienlich ist und auch bei diesen schon über eine gewisse Zeit und unabhängig von den ursprünglich beteiligten Personen die laufende Wiederbenutzung ermöglicht und deren Verständlichkeit determiniert, auch für eine viel spätere Wiederbenutzung im Archiv ausreichend sein wird.

Archivierung ist also nicht gleich organisiert wie eine Gedächtnisproduktion in Bibliotheken oder im Kulturbereich im engeren Sinne. Sie ist primär eine Dienstleistung für ein Verwaltungssystem, sei es öffentlich oder privat, das aus unterschiedlichen Gründen langfristig auf bestimmte Unterlagen zurückgreifen können muss, sei es, um ihre Rechtsansprüche zu belegen, ihre Handlungsweise im Rahmen der Rechenschaftsablegung zu dokumentieren und dies – im demokratischen Rechtsstaat – auch gegenüber BürgerInnen, dem Souverän. Archivierung trägt also zum Funktionieren eines Systems bei, ist geradezu eine Voraussetzung für ein funktionierendes Verwaltungssystem und somit auch prozessual und funktional nicht von diesem zu trennen. Diese Einbindung der Archivierung in einen Verwaltungsprozess eröffnet Chancen für effizientes Informationsmanagement, welche den Bibliotheken fehlen.

Insofern das Gedächtnis des Staates dessen Erfahrungsschatz umfasst, müsste dieser seine Erfahrungen an erster Stelle auch selber nutzen. Tatsächlich ist es heute aber so, dass die direkte Nachfrage nach Archivgut hauptsächlich ausserhalb des Produktionssystems generiert wird. Damit lässt der Staat – die Verwaltung – eine seiner wertvollsten Ressourcen faktisch ungenutzt. Erst über den Umweg z.B. der historischen Forschung zieht er – so er dann will – auch einen Profit aus seinem Archiv, einen Nutzen, der sowohl in inhaltlichen als auch in prozeduralen Erfahrungen bestehtDie herausragendsten Beispiele staatlich geförderter Geschichtsforschung sind in den letzten Jahren die Forschungen zum Thema Schweiz – Zweiter Weltkrieg und Schweiz – Südafrika. In Zusammenarbeit mit der Eidg. Finanzkontrolle sind auch Teile des Archivguts der Expo01/02 ausgewertet worden, vgl. dazu z. B. Germann, Urs und Moosmann, Reto, Und dann entglitt die Kontrolle. Die Euro 2008 belastet die öffentliche Hand finanziell viel stärker als zunächst angenommen – Erinnerungen an die Expo.02 werden wach, in: Der Bund, 19. Januar 2006. Ob mit Blick auf kommende Grossanlässe die (vorgehensbezogenen) Lehren aus dem letztgenannten Beispiel gezogen werden, wird die Zukunft weisen.. Dieser Tatbestand darf aber nicht dazu führen, dass die Überlieferung auf eine systemexterne Nachfrage ausgerichtet wird – das wäre ein grundsätzliches Missverständnis und würde wohl die Bereitschaft, Unterlagen so zu produzieren, dass sie gegebenenfalls auch langfristig verständlich bleiben, schnell aushöhlen. In den Begriffen des Bundesgesetzes über die Archivierung – welches hier stellvertretend für moderne Archivgesetzgebung beigezogen wird – ist denn auch die Zwecksetzung der Archivierung eine doppelte, aber – hierarchisch – gestufte: zuerst leistet die Archivierung «einen Beitrag zur Rechtssicherheit sowie zur kontinuierlichen und rationellen Verwaltungsführung», dann schafft sie «insbesondere Voraussetzungen für die historische und sozialwissenschaftliche Forschung»Art. 2 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Archivierung (BGA, SR 152.1) vom 26. Juni 1998..

2.2 Einwand 2: Archivierung ist kein linearer Prozess

Der Prozess der Gedächtnisproduktion scheint verführerisch klar und linear zu verlaufen. Faktisch ist er keine Einbahnstrasse, keine klare sequentielle Folge von Prozessschritten – auch wenn die Datenmenge von Anfang an schrittweise laufend ausgedünnt wird –, sondern die verschiedenen Prozessschritte und die ihnen zugewiesenen notwendigen (Leistungs-) Fähigkeiten sind in komplexer Weise miteinander verbunden. Die Fragen der intellektuellen Ordnung als Voraussetzung für die Benutzbarkeit (Prozessschritt 3), der Bewertung (Prozessschritt 2) und der trägermaterialabhängigen Archivierungsfähigkeit (Prozessschritt 1) sind rückgekoppelt mit der (im Modell als systemextern angenommenen) Produktion von Unterlagen als dem Rohstoff für die Gedächtnisproduktion.

– Die Ordnung von Unterlagen muss den alltäglichen Bedürfnissen der Verwaltung dienen. Das schliesst ein, dass die Unterlagen in einem arbeitsteiligen Prozess auch personenunabhängig schnelle Orientierung ermöglichen. Das ist die Basis für die langfristige Verständlichkeit und erspart zu einem späteren Zeitpunkt erneuten Aufwand für Ordnung und Erschliessung.

– Die Frage der Archivierungsfähigkeit betrifft die Auswahl von Trägermaterialien und -formaten, seien das säurefreie Papiere und beständige Schreibstoffe oder normierte Dateiformate und Datenträger. Dies kann durchaus zu Mehrkosten in der Verwaltungsarbeit führen, doch diese Kosten erweisen sich sehr oft als vermeintliche Mehrkosten, denn in einer ILM-Vollkostenrechnung würden diesen später unumgängliche Konservierungs- oder Unterhaltskosten gegenüberstehen.

– Die Bewertung kann auf der Basis von Ordnungssystemen schon vor der eigentlichen Produktion von Unterlagen vorgenommen werden – wenigstens in vielen Fällen. Damit kann auch im Voraus geklärt werden, welche Materialkosten wirklich notwendig werden, damit archivierungswürdiges Material auch in archivierungsfähiger Form entsteht.

Insgesamt ist also der Prozess der Gedächtnisproduktion als Teil eines ILM vielfältig rückgekoppelt und muss sehr flexibel organisiert werden können, denn für die verschiedenen Teilprobleme ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten für Partnerschaften bei der Problemlösungssuche und nur so ist verantwortungsvolles Nachdenken über den Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel wirklich möglich.

2.3 Einwand 3: unangemessene Systemdefinition

Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich, dass für eine kostenbewusste Organisation der Archivierung viele Kooperationsmöglichkeiten und auch – im Rahmen eines effektiv umgesetzten ILM – Optimierungsmög- lichkeiten beim Einsatz der (immer knappen) Ressourcen bestehen. Diese Möglichkeiten lassen sich nur dann wahrnehmen, wenn nicht zusätzliche Mittelverknappungen bei einzelnen Institutionen zu kaum zu verkraftenden Ressourcenlücken führen, sondern wenn das offenbar anstehende Problem in seinem Gesamtzusammenhang angegangen wird.

Die empirische Datenbasis des Berichts lässt vermuten, dass die Systemgrenzen bei den Bundesinstitutionen liegen und zwar bei Bibliotheken und Archiven, seien es die nominellen oder funktionalen Archive und BibliothekenZur Unterscheidung von nominellen und funktionalen Archiven und Bibliotheken vgl. Knoepfel / Olgiati, wie Fussnote 3, S. 156 f. Den zwei Funktionspolen Archiv resp. Bibliothek lassen sich dann auch spezifische Risiken zuordnen: funktionale Archive sind dem Risiko der Überlieferungslücke ausgesetzt, funktionale Bibliotheken dem Risiko der Doppel- oder Mehrfachüberlieferung.. Eine nationale Memopolitik wird damit zu einer Bundes-Archiv- und Bibliothekspolitik. Eine solche Systemgrenze wäre zu eng und wenig überzeugend. Der erste Einwand hat das mit Bezug auf die «vorgelagerten Datenproduzenten» bereits klar gemacht. Auch auf der Nutzungsseite präsentiert sich das Bild ähnlich, wenn man an die verschiedenen gegenwärtig laufenden Initiativen zur Verbesserung der Zugänglichkeit zu Archiv- und Bibliotheksgut denkt, wie sie aus der Nutzer-Community heraus wiederholt – und auch noch parallel – gestartet werdenVgl. etwa die infoclio.ch-Initiative der Schweizerischen Geschichtsforschenden Gesellschaft und deren verschiedene Vorgängerinitiativen (z. B. Swiss History Portal)..

Selbst wenn man den Blick auf die Bundesinstitutionen beschränkt, fehlen für eine wirkliche Memopolitik doch erstaunlicherweise z.B. die Museen. Zur Museumspolitik ist – unabhängig von der Memopolitik? – auch ein umfassender Bericht des Bundesamts für Kultur zuhanden des Parlaments in Aussicht gestellt, mit welchem eine ganzheitliche Gestaltung der Museumslandschaft angestrebt wird. Bewegen wir uns auf der Abstraktionsebene des Berichts, dann hätten aber die Museen von Anfang an mit einbezogen werden müssen, denn deren Aufträge sind denjenigen von Bibliotheken und Archiven doch in vielem verwandt: Es geht auch hier neben den Ausstellungstätigkei- ten um SammlungstätigkeitenDefinition gemäss dem International Council of Museums (ICOM): «Ein Museum ist eine gemeinnützige, ständige, der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtung im Dienste der Gesellschaft und ihrer Entwicklung, die zu Studien-, Bildungs- und Unterhaltungszwecken materielle Zeugnisse von Menschen und ihrer Umwelt beschafft, bewahrt, erforscht, bekannt macht und ausstellt.». Die Museen bezeichnen sich heute ja auch gerne als so genannte Sachgutarchive. Was immer für eine Absicht hinter diesem Newspeak stecken mag, die Umbenennung verstehe ich klar als Ausdruck eines Willens, sich vermehrt mit dem Sammlungsauftrag auseinander zu setzen. Eine klare Einordnung der Museen in die Memopolitik ist also m. E. unverzichtbar, sonst kann man den Anspruch, Memopolitik sei eine ganzheitliche Politik, nicht aufrechterhalten.

Natürlich hat der Bund kaum rechtliche Kompetenzen, um eine mögliche Memopolitik auf allen Stufen des föderalen Systems einzuführen und durchzusetzen. Diese rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, würde einiges an Zeit beanspruchen und der Ausgang eines solchen Unterfangens ist unsicher. Und trotzdem: materiell macht eine Memopolitik nur Sinn, wenn sie sich an sachlichen Systemgrenzen orientiert, was möglich ist, ohne das bestehende föderalistische System in Frage zu stellen. Manchmal muss man einen Standpunkt ausserhalb des Systems wählen, um dieses als Ganzes und in seinen Abhängigkeiten von anderen Systemen besser erkennen zu können.

3 Effektives und effizientes Gedächtnismanagement

Was sind die Ziele der skizzierten Memopolitik? Eine ganzheitlich gedachte Memopolitik erfülle sieben Ziele, heisst es im Bericht4. Diese Ziele sind in erster Linie Managementziele: Vermeidung von Doppelüberlieferungen resp. Überlieferungslücken, eine bessere Koordination der Aktivitäten, ein effizienterer Einsatz der Finanzmittel und eine Förderung des Nachdenkens über die zukünftigen Datenträger (das eArchiv). Ausserdem gibt es noch Inventarisierungsziele: die Kenntnisse über das, was produziert, konserviert und benutzt wird, sowie über die in diesem Bereich tätigen Akteure verbessern. Das ist wohl eine Voraussetzung dafür, dass die Managementziele überhaupt erreicht werden können.

Es wird wohl niemand einen Einwand haben gegen ein effektives und effizientes Management bei der öffentlichen Verwaltung. Warum sollte man Ressourcen verschleudern? Solches Handeln ist erst eine verantwortungsvolle Wahrnehmung einer Aufgabe – und dies nicht nur bei der Gedächtnisproduktion.

Die Fragen stellen sich auf einer anderen Ebene, wenn man konkreter zu fassen versucht, was es im Archivbereich genau bedeuten würde, z.B. Doppelüberlieferungen und Überlieferungslücken zu vermeiden. Muss zur Vermeidung von Überlieferungslücken alles Verwaltungshandeln – vollständig – dokumentiert werden, aber nur einmal, damit es nicht zu Doppelüberlieferungen kommt (was in sich schon widersprüchlich ist, weil in jeder Verwaltung Doppelüberlieferungen vorkommen)? Hätte das nicht zur Folge, dass viel mehr archiviert werden müsste, als heute real archiviert wird? Wenn zwei Verwaltungsstellen an einem Geschäft beteiligt sind, ist dann die Überlieferung der Akten beider Verwaltungsstellen eine Doppelüberlieferung oder (nur) eine vollständige Überlieferung – ein Muss also oder ein Darf-Nicht?

3.1 Redundanzkosten

Archivgut besteht im Wesentlichen aus Unikaten. Das Bundesarchiv archiviert die Unterlagen des Bundes, Kantonsarchive Unterlagen der Kantone – diese Unterlagen sind sachlich aufeinander bezogen und bilden über Institutionengrenzen hinaus ein vielfältiges referentielles System. Als Unikate dokumentieren diese Unterlagen das Handeln öffentlicher Verwaltungen aus unterschiedlichen, aber immer «beschränkten» Perspektiven. Das ist Redundanz und hat seinen Preis. Das darf man sich nicht ohne gute Gründe leisten, nur weil man sich nicht von gewissen Unterlagen trennen kann, nichts oder möglichst wenig dem Vergessen anheimfallen lassen will.

Archivieren heisst immer Lücken schaffen, Lücken wagen – aber nicht zufällige, sondern bewusst gewählte. Das ist die Funktion jeder archivischen Bewertung. Die Bewertungskriterien müssen transparent gemacht und auch einer öffentlichen Diskussion ausgesetzt werden. Bewertungskriterien können und sollen auch zwischen den verschiedenen Archiven abgestimmt werden. Aber erst wenn man die Bewertungskriterien kennt, wird auch die tatsächlich vorhandene Überlieferung verständlich. Eine vollständige, lückenlose Überlieferung stellte nicht etwa einen paradiesischen Zustand dar, sie würde vielmehr einer faktischen Zugangsverweigerung durch Überfluss entsprechen. Die Kosten würden also nicht nur bei der Aufbewahrung, der Ordnung und Erschliessung, sondern auch bei der Benutzung – hier allerdings auf Kosten der Externen – exponentiell anwachsen. Die Überlieferungskonzentration auf die Unterlagen der so genannt federführenden Stellen soll hier eine optimale Lösung gewährleisten: In den Unterlagen der federführenden Stelle muss alles Wichtige dokumentiert sein, sodass Aktivitäten verständlich und nachvollziehbar bleiben, ohne dass eine (unbezahlbare) Totalüberlieferung angestrebt werden muss.

Die Problematik, die Überlieferung von Dubletten zu vermeiden – eine der expliziten Zielsetzungen von Memopolitik –, ist etwas ganz anderes. Das Ziel der Vermeidung von Dubletten verweist unübersehbar auf die Verankerung des Memopolitikdenkens im Bibliotheksbereich, wohl auch im Museumsbereich – bei Unikaten kann es grundsätzlich keine Dubletten geben. Die hier angestrebte einfache, aber vollständige Überlieferung ist deshalb im Archivbereich systemfremd.

3.2 Redundanzdividende

Selbst wenn Überlieferung aktiv und unter Schaffung von Lücken gebildet wird, bedeutet das keineswegs einen Verzicht auf Redundanz. Redundanz kann auch sinnvoll sein. Lassen wir einmal die notwendige Überlieferung von Rechtstiteln beiseite, die für alle und immer notwendig ist. Beschränken wir unsere Überlegungen nur auf die Frage der Rechenschaftsablegung und die Nutzung von Archivgut durch Dritte: Die Verantwortlichkeit von öffentlichen Verwaltungen ist immer bezogen auf einen bestimmten Souverän, auf präzise zu bezeichnende vorgesetzte Stellen in der Regierung oder eines Parlaments. Die Rechenschaftsablegung kann in der Schweiz im föderalen Rahmen nicht zusammengefasst werden, sondern muss für den Bund, für die Kantone und auch für die Gemeinden separat erfolgen. Wie die langfristig gewährleistete Überlieferung von Rechtstiteln kann auch hier nicht nach dem Schema Lücken versus Dubletten über Überlieferung oder Nicht-Überlieferung entschieden werden.

Der Föderalismus und die von ihm geschaffene Notwendigkeit von Parallelüberlieferungen ist aber nicht einfach ein Kostentreiber. Alle Akteure, die an einer bestimmten Aktivität beteiligt sind, haben immer auch ihre eigene Sicht über deren Ablauf, und sie haben auch ihre eigenen Motive. Diese bei gewichtigen Geschäften parallel zu überliefern und somit auch die Voraussetzung zu schaffen, bestimmte Aktivitäten in umfassender Form analysieren zu können, ermöglicht erst eine kritische Betrachtung. Die Überlieferung der Meinungsvielfalt einer vergangenen Gegenwart ermöglicht Meinungsvielfalt in der zukünftigen Gegenwart.

Archivierung ist also nicht nur Voraussetzung für den Rückgriff auf Quellen und eine sorgfältig kritische Aufarbeitung der Geschichte, sie ist mit ihrer Redundanz auch Voraussetzung für künftigen Pluralismus. Archive geben nicht nur «Siegern» eine Stimme, sondern potenziell allen – und mit Blick auf das Nationale: Archive müssen sich bewusst sein, dass sie auch Gedächtnis bilden für diejenigen, die nicht einer Nation zugehören, die aber trotz allem von bestimmten nationalstaatlichen Aktivitäten betroffen sind. Dieser Funktion von Archiven und dieser Verantwortung muss man sich vor allem bei der Bewertung bewusst sein.

4 Die Steuerungsunfähigkeit des heutigen Systems: Regulator oder Selbstregulierung?

Der Bericht hebt hervor, dass im heutigen Gedächtnisproduktionsprozess Rollenvermischungen vorkämen. Die beteiligten Institutionen – Archive und Bibliotheken – seien sowohl Operatoren als auch Regulatoren. Der Regulator sollte gemäss Theorie aber ausserhalb stehen, politische Vorgaben machen und die Koordination der Aufgabenwahrnehmung gewährleisten. Denn praktisch alle Institutionen in dieser Gedächtnisbranche hätten die gleichen zentralen Probleme zu lösen«[...] remarquer que les questions centrales sont les mêmes pour toutes les institutions.» (Knoepfel/Olgiati, wie Fussnote 3, S. 156).. Diesem Befund – alle involvierten Institutionen sehen sich heute mit den gleichen oder doch vergleichbaren Problemen konfrontiert – soll nicht widersprochen werden. Die Frage ist nur: Ist der Lösungsvorschlag richtig?

Positiv ist zu vermerken, dass in der Bundesverwaltung bereits seit längerer Zeit aktiv kooperiert wird. In den 1990er Jahren haben das Bundesarchiv und die Landesbibliothek zusammen Massnahmen zur Erhaltung des säurehaltigen Papiers realisiert – mit Erfolg, wie der seit mehr als fünf Jahren laufende Betrieb der Entsäuerungsanlage bei der NitroChemie AG in Wimmis zeigt. Praktisch parallel zum Memopolitikauftrag an die Kommission der Schweizerischen Landesbibliothek sind das Bundesarchiv und die Landesbibliothek beauftragt worden, zu prüfen, wie weit eine Zusammenarbeit zwischen einem digitalen Archiv und einer digitalen Bibliothek gehen könnte. Über alle methodischen Differenzen hinweg haben diese beiden Institutionen ein Konzept erarbeitet, welches zeigt, wie ein digitales Magazin gemeinsam konzipiert, eingerichtet und betrieben werden könnte. Heute ist dieses gemeinsame digitale Magazin Wirklichkeit und wird von beiden Institutionen genutzt.

Es bestehen aber über die im Bericht implizit definierten Systemgrenzen hinweg verschiedenste weitere Kooperationsmöglichkeiten, denn die Suche nach tragfähigen und zuverlässigen Lösungen für digitale Archivierung beschäftigt neben den Bundes- bzw. gesamtschweizerisch tätigen Institutionen auch die Kantone, die Gemeinden und viele Private. Und gerade im Archivbereich ist auf traditionellem Weg mittels einer Verwaltungsvereinbarung zwischen achtzehn Kantonen, dem Fürstentum Liechtenstein und der Schweizerischen Eidgenossenschaft eine Koordinationsstelle für die dauerhafte Archivierung elektronischer Unterlagen geschaffen worden, welche nicht nur als Informationsaustauschstelle dient, sondern konkrete Projekte begleitet und damit zu einer pragmatischen, aber koordinierten Problemlösung beiträgt sowie bestehendes Wissen für viele nutzbar macht. Es wäre auch denkbar, in diesem technologischen Kontext noch weitere Partnerschaften einzugehen.

Im schweizerisch-föderalen Kontext brauchen solche Ansätze Zeit, aber einmal gefunden, sind sie doch sehr tragfähig und zukunftsweisend. Und wie die Beispiele zeigen, sind wir auch einen Schritt über das Stadium hinaus, in dem das Nachdenken über die zukünftigen Trägermedien noch angeregt werden müsste. Ziel könnte es allenfalls sein, das permanente Weiterdenken in Gang zu halten. Den Institutionen des Bundes kommt hier sicher eine wichtige Antreiberfunktion und Drehscheibenfunktion zu, namentlich wenn es darum geht, auch die internationalen Entwicklungen und Erfahrungen auf «nationalem» Niveau zu nutzen resp. schweizerische Erfahrungen in die internationale Diskussion einzubringen.

Auch beim zweiten Prozessschritt, der Kapazität, über die Überlieferungswürdigkeit zu entscheiden, lohnt sich ein Blick über den Rand der Bundesinstitutionen hinaus. Man sieht schnell, dass noch weitere Kooperationsmöglichkeiten wahrgenommen werden. Der Berufsverband der ArchivarInnen, VSA, hat schon seit vielen Jahren eine so genannte Koordinationskommission. Diese analysiert v.a. die Überlieferungssituation bei föderal zersplitterten, mehrstufigen Verwaltungsaufgaben und definiert – bis jetzt als Empfehlungen – die notwendige Mindestüberlieferung. Es ist schon lange klar, dass nicht alles in den rund 2800 Gemeinden, 26 Kantonen und dann noch beim Bund aufbewahrt werden muss. Je grösser der finanzielle Druck wird, desto sorgfältiger werden diese Empfehlungen auch umgesetzt werden. Das ist ein langsamer Prozess, in dem zuerst die notwendige Überzeugung geschaffen werden muss, damit ein tragfähiges und verbindliches neues Muster der Aufgabenwahrnehmung entstehen kann. Damit wird auch der zweite Prozessschritt des Produktionsmodells unterstützt und die Kapazität über die Überlieferungswürdigkeit zu entscheiden, gestärkt.

In die gleiche Richtung zielen die strategischen Bemühungen innerhalb des VSA, die Idee eines Archiv Schweiz, einer zusammenhängend funktionierenden, aber arbeitsteilig organisierten Archivlandschaft Schweiz mit einer Reihe von Kompetenzzentren, aufzubauen.

Als Vorbild dienen hier, zumindest in ihrer positiven Ausprägung, die Bestrebungen für eine Universität Schweiz. In diese Archivlandschaft könnten sehr wohl auch die vielen Privaten eingebunden werden, welche sich aus unterschiedlichen Gründen mit Problemen der digitalen Archivierung konfrontiert sehen.

5 Schlussfolgerungen

Die heute vorliegende Skizze einer Memopolitik ist noch sehr vage. Dazu eine klare Haltung zu entwickeln, fällt nicht immer leicht. Der Bund hat sich in seiner Vergangenheit schon wiederholt in Protomemopolitiken versucht: Die Gründung des Landesmuseums als Massnahme gegen den Ausverkauf der vaterländischen KulturVgl. Botschaft des Bundesrathes an die Bundesversammlung über die Frage betreffend Gründung eines schweizerischen Nationalmuseums, 31.5.1889, BBl 1889/III, S. 209–231: «Was vor Allem aus Noth thue, das seien Maßregeln des Bundes, um der Verschleuderung und dem Verkaufe unserer einheimischen Alterthümer und Kunstwerke ins Ausland zu steuern» (S. 210)., die Gründung der Landesbibliothek, weil es «an einer allgemeinen Sammelstelle für Helvetica» fehlteVgl. Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die Gründung einer schweizerischen Nationalbibliothek, 8. März 1893, BBl 1893/I, S. 1000– 1018: «Die schweizerische Wissenschaft hat direkt das Recht, eine vollständige Sammlung der Helvetica zu verlangen. Heute kommt es zuweilen vor, dass schweizerische Gelehrte und Amtsstellen genötigt sind, nachdem sie in den Bibliotheken des eigenen Landes vergeblich nach einer Publikation gesucht haben, sich an das British Museum in London, die Bibliothèque nationale in Paris, das Smithsonian Institution in Washington oder an andere Bibliotheken des Auslandes zu wenden, um jene unser Land betreffende Drucksache einzusehen.» (S. 1002)., können dazu gezählt werden. Und auch bei der geistigen Landesverteidigung ging es um eine Bündelung der Kräfte, weil «die bisherigen Massnahmen des Staates [...], weil unsystematisch und zufällig, [für] völlig unzureichend» gehalten wurdenVgl. Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Organisation und die Aufgaben der schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung, 9. Dezember 1938, BBl 1938/II, S. 985–1035, Zitat S. 986. «Von allen Seiten erhob sich immer dringender der Ruf, auch die geistigen Kräfte des Landes zu mobilisieren und für die geistige und politische Selbstbehauptung unseres Staates einzusetzen» (S. 985) und «Das Wesentliche unserer Abwehr gegen unschweizerisches Gedankengut erblicken wir vielmehr in der positiven Besinnung auf die geistigen Grundlagen unserer schweizerischen Eigenart [...]. In der Wahrung schweizerischer Kulturwerte und in der Werbung für diese Werte im In- und Ausland liegt unseres Erachtens der eigentliche Sinn wirklicher geistiger Landesverteidigung» (S. 996)..

Das Bundesarchiv wurde von diesen Kulturerhaltungs- und den späteren Kulturförderungsmassnahmen kaum je direkt berührt. Als Institution der Helvetischen Republik, die Nationalarchiv und Gesetzgebungsbibliothek zusammen gründete, ist es seit 1848 eine Organisationseinheit des Eidgenössischen Departements des Innern. Weniger dieser organisatorische Zusammenhang als die in den letzten Jahrzehnten deutliche Öffnung gegenüber einem verwaltungsexternen Publikum sowie intensivierte Aktivitäten im Bereich einer aktiven Vermittlung legen es nahe, das Bundesarchiv mit in Überlegungen einzubeziehen, wie die staatlich finanzierte Gedächtnisleistung effektiver und effizienter organisiert werden könnte.

Aus dieser Feststellung darf aber nicht geschlossen werden, es brauche heute eine umfassende gemeinsame Bundes-Gedächtnispolitik – und einen neuen übergeordneten Regulator für deren Durchsetzung. Dagegen gibt es zwei Einwände.

1. Das Konzept einer «politique de la mémoire nationale» wirkt heute etwas überholt und weckt Erinnerungen an Gesamtplanungen und Gesamtkonzeptionen der 1970er Jahre – Gesamtverteidigung, Gesamtenergiekonzeption, Gesamtverkehrskonzeption etc. –, deren politische Bilanz in der Schweiz zumindest umstritten istNach dem Erdölschock der 1970er Jahre wurde die Auslandsabhängigkeit der schweizerischen Energieversorgung offensichtlich, was den Wunsch nach einer Gesamtpolitik weckte. Die während rund vier Jahren erarbeitete Gesamtenergiekonzeption führte zum Vorschlag eines neuen Verfassungsartikels, welcher dann in der Volksabstimmung am fehlenden Ständemehr scheiterte. Vgl. dazu etwa Linder, Wolf, Politische Entscheidung und Gesetzesvollzug in der Schweiz, Bern 1987. Im Zusammenhang mit dem Atomenergieprogramm hätte man auch an die Archivierung, die langfristige Verfügbarkeit zuverlässiger Informationen, denken müssen, ohne die z. B. die sichere Lagerung von Atomabfällen erschwert ist, vgl. dazu Flüeler, Thomas, Decision Making for Complex Socio-Technical Systems. Robustness from Lessons Learned in Long-Term Radioactive Wast Governance, Dordrecht 2006, ders. Long-Term Knowledge Generation and Transfer in Radioactive Waste Governance. A Framework in Response to the «Future as an Enlarged Tragedy of the Commons» und McCarthy, Gavan J., Upshall, Ian, Using Contextual Information Frameworks to Maintain Knowledge of Radioactive Waste, beide in Proceedings PISTA 2005, S. 20–25 und 31–36.. Anstelle von grossen Konzeptionen mit detailliertem Politikprogramm und zentraler Steuerung braucht es vielmehr eine Stärkung der bestehenden Institutionen, eine Förderung ihrer vielseitigen, sich gegenseitig stärkenden, aber je Branche nicht deckungsgleichen Vernetzungen, eine Impulsvorgabe zur Selbstregulation, d.h. auch ein kontinuierliches politisches Interesse und eine kohärente politische Steuerung durch die schon heute verantwortlichen Stellen (Regulatoren). Damit ist auch die notwendige handlungsleitende Langzeitperspektive gegeben.

2. Die bestehende Gedächtnisinfrastruktur mit Archiven, Bibliotheken, Museen und anderen Institutionen ist aus guten Gründen aus Institutionen mit unterschiedlichen Funktionen und Aufgaben zusammengesetzt. Sie schafft auch die Wissensinfrastruktur – und damit kommen noch andere wichtige Institutionen ins Blickfeld –, welche es braucht und welche der Staat zur Verfügung stellen muss, um die gesellschaftsbedrohenden Folgen technologischen Fortschritts zu mildern, allen Interessierten überhaupt die Möglichkeit zu geben, Wissen und Gegenwissen zu erwerben, kritisch zu betrachten und, auf der Basis von zuverlässigen und vertrauenswürdig überlieferten Quellen zu eigenen Schlussfolgerungen zu gelangen, sich eine eigene Meinung zu bildenWillke, Helmut, Die Steuerungsfunktion des Staates aus systemtheoretischer Sicht. Schritte zur Legitimierung einer wissensbasierten Infrastruktur, in: Grimm, Dieter (Hg), Staatsaufgaben, Frankfurt/M 1996, S. 685–711..

Es wäre, abschliessend zusammengefasst, sinnvoller, von diesem nostalgischen Begriff der Memopolitik wegzukommen und im Sinne der Informations- und Netzwerkgesellschaft eine zukunftstauglichere Orientierung zu wählen. Immerhin hat der Weltgipfel zur Informationsgesellschaft in seiner Schlusserklärung die grundlegende Bedeutung von Archiven und Bibliotheken für die faire und sozial gerechte Gestaltung der Informationsgesellschaft ausdrücklich anerkannt. Archive und Bibliotheken wie auch Museen, Sammlungen und Dokumentationsstellen gewährleisten den freien Zugang zu Infrastrukturen und v.a. auch freien und unentgeltlichen Zugang zu den Informationsbeständen des öffentlichen Sektors (public sector information) als einer GrundversorgungsleistungDeclaration of Principles. Building the Information Society: a global challenge in the new Millennium, 12. Dezember 2003 (http://www.itu.int/dms_pub/itu-s/md/03/wsis/doc/S03-WSIS-DOC-0004!!PDF-E.pdf, 16. Februar 2006). Hier könnten auch die, aus heutiger Sicht sektoriell inzwischen etwas zu spezifischen, Überlegungen der Eidgenössischen Kommission für wissenschaftliche Information, Versorgung der Schweiz mit wissenschaftlicher Information in Gegenwart und Zukunft, Zürich 1988, wieder aufgenommen werden..

Auf diesem Weg zu einer ganzheitlichen Infrastrukturpolitik zur Informationsversorgung bleibt viel zu tun, und es sind auch viele Widerstände zu überwinden. Dazu sind – bei kontinuierlicher und kohärenter politischer Unterstützung – die bereits bestehenden Institutionen in ihrer Vielfalt durchaus fähig, denn diese Vielfalt ist gerade ein Vorteil und stärkt dank ihrer Flexibilität bei der Suche nach Lösungen für anstehende Probleme die Zukunftstauglichkeit des Systems. Es lassen sich angesichts der aktuellen Herausforderungen so schneller und irrtumstoleranter Fortschritte erzielen, als mit einem systematischen und zentral geleiteten, deshalb auch schwerfälligen und starren Vorgehen, dessen Aufbau allein schon viel Energie und Zeit verbrauchen würde. Wenn wir zuwarten mit der aktiven Suche nach Lösungen, mit einer zielstrebigen Entwicklung einer i-gesellschaftsgerechten Infrastruktur, dann werden viele Probleme unlösbar geworden sein.

Wir haben in der Schweiz mit solchen Soft-Organisationen in verschiedenen Zusammenhängen bereits beste Erfahrungen gemacht, so etwa im Bereich der Erhaltung des audiovisuellen Erbes der Schweiz mit Memoriav, im Bereich des E-Government und der E-Administration mit eCH. Solches Vorgehen ermöglicht auch ein einfaches Überschreiten rechtlich fixierter, aber sachlich überholter Systemgrenzen. Zusammenarbeitsprojekte ergeben sich dann dort, wo sie aktuell Sinn machen und das bezüglich aller Phasen des Gedächtnisproduktionsprozesses. Aufbauend auf guten Erfahrungen kann man immer neue Zusammenarbeitsprojekte starten oder auch engere Zusammenarbeitsformen entwickeln.

Es ist allerdings an der Politik, hier die entsprechenden klaren Vorgaben zu machen und ihre regulative Verantwortung wahrzunehmen. Ich bin überzeugt, dass es dann an den verschiedenen Institutionen nicht scheitern wird, diese Vorgaben ebenso verantwortungsvoll umzusetzen. So wird die Diversität als Stärke wirken.

Andreas Kellerhals ouvre la 8e Conférence européenne sur l’archivage numérique, Genève, 28-30 avril 2010

Andreas Kellerhals

Andreas Kellerhals ist seit dem 1. November 2004 Direktor des Schweizerischen Bundesarchivs. Er hat Neuere Allgemeine Geschichte, Architekturgeschichte und Staatsrecht studiert. Er beschäftigt sich schwerpunktmässig mit Themen der digitalen Archivierung und des Informationsmanagements. Seine letzte Publikation hat sich mit der Zukunft des Archivs befasst: Kellerhals, Andreas, «Les Archives à l’ère de la société de l’information: entre tradition et modernité», in: Servais, Paul und Mirguet, Françoise, L’archive dans quinze ans: Vers de nouveaux fondements, Louvain, 2015.

  • 1 Knoepfel/Olgiati, wie Fussnote 3, S. 156f.
  • 2 Startseite von www.ica.org (15. Februar 2005).
  • 3 Fig. 1 in Knoepfel/Olgiati, wie Fussnote 3, S. 2, hier s. S. 16.
  • 4 Vgl. Knoepfel/Olgiati, wie Fussnote 3, S. 1.